Stellungnahme anlässlich einer Anhörung des
Unterausschusses Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung des Deutschen Bundestages
27. Juni 2012


Die Zukunft der Atomwaffen in Europa – Weichenstellungen

von Otfried Nassauer

Derzeit werden Weichen gestellt. Weichen, die darüber entscheiden, ob der Zug in den kommenden Jahren weiter in Richtung nukleare Abrüstung in Europa fährt, oder ob 25 Jahre nach der strukturellen Trendwende durch den INF-Vertrag nukleare Rüstungsvorhaben wieder zu einem wichtigen Element der Sicherheitspolitik in Europa werden. Erstmals könnte es wieder zu einem nuklearen Modernisierungs- oder gar Aufrüstungsschritt kommen. Das politische Bewusstsein für die Bedeutung und Tragweite dieser Weichenstellung und für die Notwendigkeit politischer Einmischung ist bislang zu wenig ausgeprägt.

Die USA planen, bis 2019 den Prototyp einer neuen Nuklearwaffe zu entwickeln, die u.a. Nachfolger der heute in Europa gelagerten Atomwaffen werden soll - die B61-12. Die technische Entwicklung – die Phase 6.3. im Lebenszyklus einer amerikanischen Atomwaffe - soll in diesem Jahr beginnen. Dem hat das Nuclear Weapons Council Ende 2011 zugestimmt und dafür hat die Administration ein Budget in Höhe von 361 Mio. $ für 2013 beim Kongress beantragt. Die Gesamtkosten des Vorhabens für die Haushalte von Verteidigungs- und Energieministerium werden derzeit auf rund 7 Mrd. Dollar geschätzt. In parallelen Prozessen wird die Integration der neuen Bombe in erste Trägerflugzeuge, taktische Jagdbomber vom Typ F-15E und strategische Bomber vom Typ B-2A, vorbereitet. Die Entwicklung eines neuen nuklearfähigen Trägerflugzeugs, des Joint Strike Fighters, ist vorgesehen, aber vorläufig technisch und finanziell ins Stocken geraten und zur Zeit aus der Haushaltsplanung herausgenommen.


Was soll die geplante, neue Bombe kennzeichnen?

Die B61-12 soll die bisher vorhandenen taktischen und strategischen Bomben der Typen B61-3, -4, -7 und 10 zu einer einzigen neuen Modifikation zusammenführen und ersetzen. Das hat sowohl militärische als auch rüstungskontrollpolitische Relevanz: Ist die neue Bombe eingeführt, so entscheidet sich allein über das Trägerflugzeug, ob die Waffe strategischen oder sub-strategischen, also taktischen Zwecken dient. Rüstungskontrollpolitisch impliziert das: Die eigenständige Kategorie „sub-strategischer Atomwaffen“ verschwindet und es entsteht eine neue komplizierte Problematik für die künftigen Verhandlungen im Rahmen des START-Prozesses, die weitere Reduzierungen des Nuklearwaffenpotentials der USA und Russlands erschweren kann.

Militärisch ergibt sich die Signifikanz der Entwicklung der neuen Version aus einem anderen Grund: Aus den bisherigen dummen atomaren Eisenbomben mit einer mittleren Zielgenauigkeit von rund 130-180 Metern sollen durch Addition eines modernen Heckleitwerks lenkbare Präzisionskernwaffen werden, die ohne GPS-Daten bereits eine mittlere Zielabweichung von ungefähr 30 Metern und mit GPS-Daten theoretisch sogar eine mittlere Zielabweichung von weniger als 5 Metern erreichen könnten. Für die B61-12 ist scheinbar eine Inertial-Lenkung ohne GPS-Unterstützung vorgesehen. Das wären dann deutlich zielgenauere Atomwaffen, als die heute existierenden. Für die neue Bombe wird der nukleare Fusionssprengsatz (das Secondary) der kleinsten vorhandenen Version der B61, der B61-4 genutzt. Diese zentrale Komponente bestimmt wesentliche Leistungsparameter der Bombe mit. Die B61-12 hat deshalb weiterhin eine einstellbare Sprengkraft von 0,3, 1,5, 10 oder 50 KT. Dies bedeutet vereinfacht: Dieselbe Bombe kann als Mini-Nuke, aber auch mit der vierfachen Sprengkraft der Bombe, die Hiroshima zerstörte, eingesetzt werden. Sie kann also militärische Punktziele genauso wie städtische oder industrielle Flächenziele zerstören. Das wird sie sehr flexibel und in vielen Szenarien nutzbar machen. Die größere Zielgenauigkeit erlaubt den Verzicht auf die höheren Sprengkraftwerte älterer B61-Varianten und erhöht trotzdem die Wahrscheinlichkeit, dass mehr Ziele gesichert und mit kleinerem Kollateralschaden zerstört werden können als mit den bisherigen Varianten der B61.

Mit einer Waffe, die solche Eigenschaften hat, kann die Gefahr verbunden sein, dass die Hemmschwelle gegen einen Nuklearwaffeneinsatz sinkt und die Versuchung steigt, sie tatsächlich einzusetzen. Das seit Hiroshima und Nagasaki geltende Tabu eines Nuklearwaffeneinsatzes könnte leichter durchbrochen werden. Ihre schlichte Existenz kann politische Bemühungen um eine Reduzierung der Rolle nuklearer Waffen behindern. Das bisherige Rollenspektrum nuklearer Waffen kann mit einer solchen Waffe sowohl nach unten als auch nach oben voll genutzt werden. Dafür reicht künftig ein einziger Waffentyp. Im Vergleich zu den heute vorhandenen Waffentypen erweitert sich das mögliche Rollenspektrum jedoch erheblich.

Hinzu kommt: Mit den niedrigeren Sprengkrafteinstellungsmöglichkeiten, 0,3 und 1,5KT, hat die B61-12 Charakteristika einer Mini-Nuke. Ihre Entwicklung müsste eigentlich aus den gleichen Gründen grundsätzlich in Frage gestellt werden, die in den 90er Jahren in den USA zu einem Entwicklungsverbot für Nuklearwaffen niederster Sprengkraft führten. Das sogenannte Spratt-Furse-Ammendment verbot über viele Jahre Entwicklungsarbeiten an Kernwaffen mit weniger als 5 KT Sprengkraft.

Ein wesentlicher Anreiz, die B61-Bomben zu modernisieren, war bislang das Versprechen, dieses Waffen erheblich sicherer zu machen. Die Gefahr, dass bei Unfällen Radioaktivität freigesetzt werden könnte, sollte weiter reduziert und ein Missbrauch durch unautorisierte Personen noch besser ausgeschlossen werden. Eine Durchsicht der veröffentlichen Informationen zu diesem Entwicklungsvorhaben ergibt jedoch erstaunlich wenig konkrete Vorschläge, was mit diesem Ziel unternommen werden soll. Mehr noch: Das Nuclear Weapons Council hat einige der Vorschläge, die mehr Sicherheit gewährleisten sollten, Ende letzten Jahres als zu teuer oder technisch zu risikoreich zurückgewiesen (multi-point-safety, optical initiation). Die vorhandenen B61-3 und B61-4 gehören allerdings schon heute zu jenen Waffen im U.S.-Arsenal, die ziemlich hohe Sicherheitsstandards erfüllen (Cat F-Pal, verschlüsselte Code-Übertragung, ENDS/EEI, IHE etc). Sie weisen nur eine bekannte Schwachstelle auf – das Fehlen eines feuerresistenten Pits. Wird eine Waffe bei einem Flugzeugunfall beschädigt und über längere Zeit hohen Temperaturen z.B. durch einen Treibstoffbrand ausgesetzt, so kann letztlich nicht ausgeschlossen werden, dass Waffen-Plutonium freigesetzt und über Rauch- und Aerosolwolken weiträumig verteilt wird. An den Stationierungsorten ist diese Gefahr besonders groß, weil auch bei militärischen Luftfahrzeugen die größte Unfallgefahr bei Start und Landung gegeben ist. Als diese Schwachstelle entdeckt wurde, wurden eine ganze Reihe von operativen Einschränkungen für diese Waffen erlassen, die Zeugnis davon ablegen, dass dieses Sicherheitsproblem seitens der USA ernstgenommen wird.

Dieses Sicherheitsmanko kann durch eine Modernisierung nicht beseitigt werden. Ein Einbau feuerresistenter Pits (oder alternativ: separierbarer Pit-Komponenten) würde nukleare Tests erfordern., steht also aus  politischen Gründen nicht zur Debatte. Das Risiko für die Stationierungsorte wird also fortbestehen, auch wenn die B61-Bomben modernisiert werden.
Ein wesentliches Argument für die Notwendigkeit einer baldigen Modernisierung der B61 lautete noch vor einem Jahr: Die Atomwaffen in Europa erreichen ab 2017 das Ende ihrer technischen Lebensdauer. Sie müssen spätestens ab 2018 ersetzt werden, wenn die USA ihre nuklearen Verpflichtungen gegenüber der NATO ohne Unterbrechung erfüllen wollen. Zeitgleich sollte eine neue Generation von Trägerflugzeugen, der Joint Strike Fighter, verfügbar sein. Die B61-12 soll nun erst zwei Jahre später verfügbar sein, der Joint Strike Fighter verspätet sich um mindestens drei Jahre. Weitere Verzögerungen bei beiden Vorhaben sind nicht ausgeschlossen. Sie sind eher wahrscheinlich.

Das Argument der knappen Zeit und hohen Dringlichkeit erweist sich inzwischen als dehnbar. In Washington wird jetzt argumentiert, die spätere Bereitstellung sei auch noch rechtzeitig – notfalls gebe es technische Zwischenlösungen (zum Beispiel eine Nutzungsdauerverlängerung für F-15E und den Austauschs von Komponenten begrenzter Lebensdauer bei den vorhandenen Bomben B61-3 und –4).

Diese Zwischenlösungen gibt es tatsächlich. Sie waren bis vor wenigen Jahren die offiziell vorgesehene Planung für die Lebensdauerverlängerung der taktischen Versionen der B61-Bomben, die damals erst in der zweiten Hälfte des nächsten Jahrzehntes für eine umfassende Modernisierung vorgesehen waren.

Für die europäischen Teilhabe-Nationen sind mit den Verzögerungen Probleme und Unwägbarkeiten verbunden. Diese werden umso deutlicher zutage treten, je stärker sich die Modernisierungsvorhaben letztlich verzögern. Am Beispiel der Bombe: Lohnt nach 2020 eine teure Integration der B61-12 in den Tornado noch, falls dieses Flugzeugmuster 2025 außer Dienst gestellt werden muss? Können die B61-3 und –4 nach einem Austausch ihrer Komponenten begrenzter Lebensdauer nicht auch bis 2025 genutzt werden? Noch schwerer wiegen die Probleme der Europäer, die auf neue Trägerflugzeuge angewiesen sind und den Joint Strike Fighter nutzen wollen: Die Flugzeuge, die man ihnen „um 2020“ liefern könnte, würden nach derzeitigem Stand aus der Vorserien- oder aus der frühen Serienproduktion stammen. Es wären also entweder auf den Standard „Block IV“ nachgerüstete Luftfahrzeuge oder frühe Exemplare dieses Standards. Mit Kinderkrankheiten und erheblichen Mehrkosten müsste dann gerechnet werden. Der ursprünglich für dieses Jahr vorgesehene Entwicklungsbeginn der nuklearfähigen Version ist vorerst auf unbestimmte Zeit verschoben.

Soweit zum Entwicklungsstand der Modernisierungsvorhaben. Im zweiten Teil meines Vortrags möchte ich auf einige Aspekte der politischen Diskussion eingehen:

Wir sollten ehrlich sein: Die deutsche Initiative, einen Verzicht der NATO auf die sub-strategisch nukleare Komponente im Rahmen der Diskussion über eine neue NATO-Strategie anzuregen, hat sich vorerst tot gelaufen. Konsens über einen möglichen Abzug der verbliebenen Nuklearwaffen aus Europa konnte nicht erzielt werden. Die Allianz hat die Arbeit an ihrem neuen Strategischen Konzept und an ihrem Deterrence and Defence Posture Review (DDPR) abgeschlossen. Von der Möglichkeit eines Verzichtes auf die Komponente sub-strategischer Nuklearwaffen ist in beiden Dokumenten nicht die Rede. Allenfalls wird eine weitere Reduzierung der Bestände und der Rolle nuklearer Waffen ins Auge gefasst. Beides müsste nun im Rahmen der noch zu entwickelnden Diskussion über Rüstungskontrolle und Abrüstung im Bündnis weiter verfolgt werden. Das Versprechen, eine reduzierte Rolle der substrategischen Nuklearwaffen zu ventilieren, wurde seitens der NATO zwar erneuert. Voraussetzung dafür soll aber sein, dass Russland zu reziproken Schritten im Bereich sub-strategischer Nuklearwaffen bewegt werden kann. Welche russischen Schritte dies sein könnten, will die NATO in Vorbereitung auf die nächste Runde amerikanisch-russischer Gespräche über einen weiteren START-Vertrag erst noch festlegen. Moskau sei am Zug – so das Argument. Dieses Vorgehen verdeckt, dass die NATO-Position die Folge interner Uneinigkeit ist. In der NATO herrscht Dissens, ob diese Waffen künftig noch erforderlich sind oder nicht. Um diese Problem nicht deutlich sichtbar werden zu lassen, spielt man den Ball nach Moskau. Zudem signalisiert man: Im Blick auf weitere Abrüstungsschritte haben wir keine Eile.

Ein erweitertes Bild entsteht, wenn man die Debatten des U.S.-Kongresses nachliest: Dort wird argumentiert: In der NATO bestehe kein Konsens darüber, dass das Bündnis auf substrategische Nuklearwaffen verzichten kann. Die Verpflichtung der USA bestehe also fort, der Allianz  für die nukleare Teilhabe nuklearfähige Trägersysteme und nukleare Waffen bereitzustellen. Da die vorhandenen Systeme veralten, müsse man neue entwickeln und rechtzeitig bereit stellen. Diese Aufgabe müsse jetzt angegangen werden; die Zeit dränge wegen der begrenzten Lebensdauer der vorhandenen Systeme. So vorzugehen, entspreche zudem den innenpolitischen Versprechen, die die Administration im Kontext der Ratifizierung des neuen START-Vertrages abgegeben hat. Diese hatte zugesagt

  • ein umfassendes Modernisierungsprogramm für alle noch vorhandenen Nuklearsprengkopftypen und Modernsierungs- sowie Neubaugrogramme für deren Trägersysteme aufzulegen; das zeitlich erste Vorhaben besteht in einer Modernisierung der B61-Bomben und der Jagdbomber mit DCA-Fähigkeit. Das Vorhaben B61-12 wird nach Aussage des Entwicklungsleiters das umfangreichste Atomwaffenentwicklungsvorhaben seit Entwicklung der B61-3 und –4 vor über 30 Jahren.
  • den nuklearindustriellen Komplex zu modernisieren und einer neuen Generation von Technikern und Ingenieuren umfassend Gelegenheit zu geben, Erfahrungen mit Entwicklung und Bau atomarer Waffen zu sammeln.

Mit anderen Worten: Die Unfähigkeit, sich in der NATO auf einen Verzicht der sub-strategischen Nuklearwaffen in Europa zu einigen, wird in der amerikanischen Debatte zu einer Verpflichtung, diese zu modernisieren und zu einem wesentlichen unterstützenden Begründungselement für ein nationales Modernisierungsprogramm, das auch unabhängig von der NATO geplant wurde. Die nuklearen Verpflichtungen der USA gegenüber der NATO sind also weniger Ursache der Modernisierungsnotwendigkeit als ein willkommenes innenpolitisches Hilfsargument, um den Einstieg in dieses umfassende Modernisierungsprogramm durchzusetzen. Die Verpflichtung im Bündnis wirkt vor allem disziplinierend im Blick auf potentielle Kritiker im Kongress. Von Seiten der Demokraten wird der Modernisierungsbedarf nicht ernsthaft hinterfragt, weil sie in die Zusammenarbeit in der NATO als wichtigen multilateralen Teil der Außenpolitik der USA betrachten, von den Republikanern nicht, weil sie auf einer umfassenden Modernisierung des Nuklearwaffenpotentials der USA bestanden haben und dieses auch durchsetzen wollen. Innenpolitisch nützt diese Debattenkonstellation vor allem den Befürwortern eines langfristigen Festhaltens an der nuklearen Rüstung.

In der U.S.-Diskussion kommt die entscheidende Umkehrfrage nicht vor: Herrscht in der NATO Konsens über die Notwendigkeit einer Modernisierung der sub-strategischen Waffen in Europa? Bedarf die Modernisierung des Konsenses im Bündnis – genauso wie ein potentieller Abzug? Diese Fragen wurden bislang nicht gestellt. Deswegen kann das Modernisierungsvorhaben ungebremst weitergeführt werden, obwohl auch hier kein Konsens in der NATO zu erwarten wäre.

Warum ist das so? Die europäischen Kritiker einer Erneuerung des sub-strategischen Nuklearpotentials der NATO haben sich in der U.S.-Debatte bislang keine Stimme gegeben. Sie haben sich nicht bemüht, in den USA öffentliches Gehör dafür zu finden, dass bei weitem nicht alle europäischen NATO-Mitglieder freudig auf die Stationierung neuer Nuklearwaffen warten. Mehr noch: Länder wie die Bundesrepublik haben sich auf die scheinbar bequeme Position zurückgezogen, die Entwicklung der B61-12 zu einem ausschließlich nationalen Vorhaben der USA zu erklären, in das man sich nicht einmischen wolle und dürfe. Diese Haltung hat zur Folge, dass auch in den USA keine ernsthafte Debatte darüber geführt wird, ob die Modernisierung der Bomben vom Typ B61 in Europa wirklich sinnvoll und gewollt ist. Würden ein oder mehrer NATO-Staaten in Europa öffentlich sagen, dass sie beabsichtigen, gegen eine künftige Stationierung der B61-12 in der NATO ein Veto einzulegen, so wäre dies wohl anders. Gründe, für eine solche Positionierung europäischer Regierungen gäbe es jedenfalls mehr als genug. Um nur einige wichtige zu nennen:

Alle Argumente, die dafür sprachen, dass die Bundesrepublik für einen Verzicht auf die sub-strategische nukleare Komponente plädierte, gelten erst recht im Blick auf die Stationierung neuer Waffen.

  • Die geplante technische Auslegung der B61-12 muss Anlass sein, ihrer Stationierung mit mehr Skepsis zu begegnen als einer Aufrechterhaltung der Stationierung der bisher gelagerten Waffen.
  • Der im DDPR reflektierte künftige Abschreckungsmix aus Raketenabwehr, nuklearen und konventionellen Abschreckungselementen impliziert die Möglichkeit einer Wiederkehr der Debatten über regional begrenzte, kriegsschauplatzbezogene Nuklearwaffeneinsätze, die bereits in den 70er und 80er Jahren geführt wurden. Dafür spricht auch die wiederbelebte Terminologie „regionaler Abschreckungssysteme“ in den USA. Aus europäischer Sicht ist dagegen ein globales Abschreckungssystem, das die Vorstellung eines auf einen Kriegsschauplatz begrenzbaren Nuklearkriegs möglichst unrealistisch erscheinen lässt, die glaubwürdigste und effektivste Variante sowohl der Abschreckung als auch der Kriegsverhinderung.
  • Schließlich gibt es noch ein gewichtiges Argument: Russland könnte die Haltung der NATO als Wiederbelebung der Logik des Doppelbeschlusses von 1979 interpretieren. Die NATO fordert russische Abrüstungsschritte. Geht Moskau darauf nicht ein, so wird seitens der NATO nuklear modernisiert. Würde Moskau dies als eine rüstungskontrollpolitische Erpressung auffassen, so würde möglicherweise genau das Gegenteil dessen erreicht, was die NATO vorgeblich erreichen will: Statt zu Konzessionen und reziproken Schritten entscheidet sich Moskau ebenfalls dazu, taktisch-nukleare Modernisierungsprogramme aufzulegen. Dabei könnte sich eine unglückliche Verquickung mit der bereits existierenden Überlegungen in Moskau ergeben, auf das geplante NATO-Raketenabwehrsystem mit der Stationierung sub-strategischer Nuklearwaffen zu reagieren. Eine langfristige Entfremdung zwischen Russland und dem Westen könnte dann nicht ausgeschlossen werden.

Was folgt daraus? Sollten wir in Ruhe abwarten, bis die B61-12 entwickelt ist und deren Stationierung in den europäischen NATO-Ländern entschieden werden muss oder Moskau doch eingeknickt ist? Ich meine nein und will das begründen:

Die Modernisierung der B61 betrifft nicht nur die USA, sondern auch die NATO. Die NATO-Mitglieder werden im Rahmen der politisch-nuklearen Teilhabe bei diesem Vorhaben konsultiert. Sie sollen Stellung nehmen. Ihre Meinung ist gefragt. Zur Frage eines potentiellen Abzugs ebenso wie zur Frage einer potentiellen Modernisierung. Sich zu äußern, stellt keine unzulässige Einmischung in die inneren Angelegenheiten Washingtons dar. Es wäre eine wohlverstandene Wahrnehmung der eigenen Verantwortlichkeit, die die politische Seite der nuklearen Teilhabe mit sich bringt. Bezieht man dagegen nicht Stellung, so erweckt man den Eindruck, man wolle die politische Verantwortung für eine kommende Modernisierungskontroverse mit Russland allein auf die nukleare Vormacht der NATO abwälzen. Dies wäre weder für die transatlantischen Beziehungen noch für die NATO gut. Verantwortlicher handelt man, wenn man die USA nicht im Unklaren lässt, dass es in der Konsequenz und in der Logik der deutschen Position liegt, die künftige Stationierung modernisierter B61-Bomben abzulehnen. Mit dieser Haltung wäre die Bundesrepublik nicht alleine.

Der Bundestag hat die Bundesregierung vor zwei Jahren ermutigt und legitimiert, sich für einen Abzug der in Deutschland und Europa verbliebenen Atomwaffen einzusetzen. Dem müssen konkrete politische Initiativen und Signale folgen. Signale, die sich sowohl an den Kongress als auch an die Administration in den USA richten. Abgeordnete können ihren U.S.-Kollegen die skeptische deutsche Position verdeutlichen. Sie können argumentieren, dass für eine Modernisierung gelten muss, was auch für einen potentiellen Abzug galt: Modernisiert werden kann nur, wenn dafür ein Konsens im Bündnis gegeben ist. Dieser wird jedoch ebenfalls nicht gegeben sein.

Ein erneuter, fraktionsübergreifender Konsensbeschluss des Bundestags sollte zudem verdeutlichen, dass der deutsche Bundestag einer Stationierung modernisierter Waffen ablehnend gegenüberstehen wird. Auch die Bundesregierung sollte ihre Partnerregierung in Washington nicht im Unklaren darüber lassen, dass sie der Stationierung modernisierter sub-strategischer Waffen ablehnend gegenüberstehen wird. Abwarten, Tee trinken und schweigen stellt keine Alternative dar. Auch nicht in der Hoffnung, dass sich das Problem von alleine regelt. Eine solche Haltung wird als stillschweigende Zustimmung zu den Modernisierungsplänen verstanden, in deren Konsequenz letztlich auch eine Zustimmung zu einer künftigen Stationierung in Deutschland zu liegen hat.

Lassen Sie mich zum Schluss noch einen kritischen Punkt im Blick auf die Bundesregierung und die Exekutive ansprechen: Im einem gewissen Gegensatz zu der überwältigenden Bundestagsmehrheit für die erwähnte Bundestagsresolution aus dem März 2010 gibt es in der Bundesregierung und in der Ministerialbürokratie weiterhin Kräfte, die an der nuklearen Teilhabe und ihrer technischen Umsetzung weiter mitwirken wollen. Auch dann, wenn das implizieren sollte, dass künftig modernisierte Nuklearwaffen in Deutschland stationiert werden. Die meisten Vertreter dieser Position hielten bereits die Aussagen des Koalitionsvertrages in dieser Sache für falsch und sind recht froh, dass sich die deutsche Initiative in der NATO tot gelaufen hat. Ihnen wäre es am liebsten, wenn „russische Impertinenz“ oder das stillschweigende Laufenlassen der Entwicklung eine Situation schaffen würde, in der eine deutsche Billigung der Stationierung modernisierter Nuklearwaffen in Europa sich künftig als alternativlos und im Rahmen der Bündnissolidarität notwendig darstellen ließe. Deutschland sollte aus ihrer Sicht auch weiterhin vollumfänglich an der Teilhabe festhalten. Die Teilhabe generiere Mitsprache und vor allem Status für Deutschland. Diese Position hat zwar derzeit keine Mehrheit, hofft aber, wieder mehrheitsfähig zu werden. Der Status quo ante in der deutschen Debatte über die Nuklearwaffen in Europa ist aus ihrer Sicht keineswegs unwiederbringlich. Derzeit kann diese Minderheitsposition nur von weiteren Signalen abraten, die Deutschlands Kritik an einer weiteren Stationierung sub-strategischer Nuklearwaffen in Europa erneut zum Ausdruck bringen oder eine Ablehnung der Modernisierungsvorhaben für diese Waffen deutlich machen würden. Aufgabe eines Parlaments ist es, darüber zu wachen, dass die Exekutive Handlungsspielräume nicht nutzt, um den parlamentarischen Willen zu konterkarieren.

Das gilt auch im Hinblick auf Minister: Im Dresdener Erlass hat Verteidigungsminister de Maiziere sich Entscheidungen über die „Dauereinsatzaufgaben“ der Bundeswehr persönlich vorbehalten. Die nukleare Teilhabe ist eine solche Dauereinsatzaufgabe. Dem Bundestag kommt die Aufgabe zu, auch den Minister gegebenenfalls daran zu erinnern, dass alle Parteien einen Abzug der nuklearen Waffen aus Deutschland befürworten und ein Minister in der Demokratie den Willen der gewählten Volksvertretung nicht übergehen oder konterkarieren sollte

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS