Vortrag bei der Evangelischen Akademie Bad Boll
07. Oktober 2006


Substrategische Atomwaffen in Deutschland und Europa

von Otfried Nassauer

Die nukleare Strategie der NATO und die substrategischen oder taktischen Nuklearwaffen[1], die die NATO-Staaten für Krise und Krieg bereithalten, sind seit Jahrzehnten "heißes Eisen" und Tabu-Thema zugleich. Das galt zu Zeiten des Kalten Krieges, es gilt aber auch heute noch – fast 17 Jahre nach dessen Ende.

Die nukleare Strategie und das nukleare Potential der NATO – das zeigte erst jüngst die Debatte über den Entwurf eines neuen deutschen Weißbuchs - sind höchst umstritten. Braucht die NATO 17 Jahre nach Ende des Kalten Krieges noch substrategische atomare Waffen? Braucht sie weiterhin Kampflugzeuge, mit denen etliche NATO-Staaten Atomwaffen einsetzen können? Und gegen wen? Bedarf es der nuklearen Teilhabe im Bündnis noch? Diese Fragen werden in den kommenden Jahren substantiell an Bedeutung gewinnen und möglicherweise erneut für hitzige Debatten sorgen. Dafür gibt es mehrere Gründe.

Erstens: Die NATO-Staaten müssen in den nächsten Jahren entscheiden, ob sie die substrategische Nuklearkomponente des Bündnisses modernisieren wollen oder ob sie auf diese Komponente ihrer Bewaffnung verzichten wollen. Die nuklearfähigen Trägerflugzeuge erreichen in den meisten NATO-Ländern im kommenden Jahrzehnt das Ende ihrer geplanten Lebensdauer. Wenn sie durch neue Flugzeuge ersetzt werden sollen, dann muss das in den kommenden Jahren entschieden werden, denn für die Entwicklung doppelt – also konventionell und nuklear - einsetzbarer Flugzeuge, sogenannter Dual Capable Aircraft (DCA) – ist viel Zeit und Geld nötig. Auch die Lagersysteme für Nuklearwaffen in Europa gehen dem Ende ihrer heute geplanten technischen Lebensdauer entgegen. In der zweiten Hälfte des kommenden Jahrzehnts müssen sie ersetzt oder erneut modernisiert werden. Schließlich die Atomwaffen selbst: Die heute in Europa lagernden Atombomben sind mehrere Jahrzehnte alt und müssen in absehbarer Zukunft gründlich überarbeitet oder aber durch neue Waffen ersetzt werden. Zudem wurden sie in den sechziger und siebziger Jahren für ein Aufgabenspektrum entwickelt, das es heute nicht mehr gibt – einen großen nuklearen Krieg zwischen Ost und West.

Zweitens: Die NATO-Staaten müssen entscheiden, wann sie ihre Entscheidungen über Modernisierung oder Verzicht treffen wollen. Denn sowohl mit dem Zeitpunkt der Entscheidung als auch damit, wie diese Entscheidung ausfällt, können weitreichende Signalwirkungen verbunden sein. Dabei geht es um die Zukunft der nuklearen Rüstungskontrolle und Abrüstung. Im Jahr 2010 findet die nächste Überprüfungskonferenz für den Nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV) statt, der in Deutschland besser als Atomwaffensperrvertrag bekannt ist. Dieser Vertrag ist das vielleicht wichtigste Kernstück der nuklearen Rüstungskontrolle. Fast alle Länder der Erde sind Mitglieder dieses Vertrages. Die letzte Überprüfungskonferenz wurde 2005 abgehalten und endete ohne jedes Ergebnis, da die USA (und in deren Kielwasser auch andere Nuklearmächte) sich nicht mehr auf weitergehende nukleare Abrüstungsschritte und auf die grundsätzliche Verpflichtung zu vollständiger nuklearer Abrüstung festlegen lassen wollten und damit entsprechende Vereinbarungen früherer Überprüfungskonferenzen einseitig für unwirksam erklärten. Im Gegenzug verweigerten viele nicht-nukleare Mitgliedstaaten strengere, verbesserte Nichtverbreitungsregeln. Damit wurde der politische Handel, auf dem der Atomwaffensperrvertrag beruht, grundsätzlich in Frage gestellt. Er besteht darin, dass die nicht-nuklearen Mitglieder des Vertrages darauf verzichten, nach Atomwaffen zu streben, weil sie das Versprechen der Nuklearwaffenstaaten haben, dass diese ihre Waffen letztlich wieder abschaffen werden. Viele Beobachter sehen den Atomwaffensperrvertrag deshalb in einer entscheidenden Krise und in der Überprüfungskonferenz 2010 eine wichtige Wegscheide, ob der Atomwaffensperrvertrag langfristig doch noch einmal gestärkt werden kann oder künftig an Bedeutung und vor allem Bindungskraft verliert.

Träfe die NATO vor dieser Konferenz eine Entscheidung, ihr substrategisches Nuklearwaffenpotential zu modernisieren und damit auf Jahrzehnte aufrechtzuerhalten, so hätte dies eine stark präjudizierende negative Signalwirkung für die Überprüfungskonferenz: 26 Staaten, darunter nicht nur 3 Nuklearmächte, sondern auch 23 nicht-nukleare Mitglieder des Vertrages würden signalisieren, dass sie auf Jahrzehnte an Nuklearwaffen festhalten wollen.[2] Träfe die NATO die Entscheidung, künftig auf substrategische nukleare Waffen zu verzichten, so wäre das ein starkes Signal der Bereitschaft zu weiterer nuklearer Abrüstung. Würde die NATO die Entscheidung, ob sie ihr Potential modernisieren will, auf die Zeit nach der Überprüfungskonferenz vertagen, so wäre es ein vielfach interpretierbares Zeichen der Ambivalenz bzw. des Offenhaltens und damit wahrscheinlich auch ein Hindernis für eine erneute Stärkung des Atomwaffensperrvertrages.

Drittens: Es ist kaum denkbar, dass die NATO sich für eine teure Modernisierung ihrer sub-strategischen Nuklearwaffen entscheidet, ohne zugleich deren Rolle in der NATO-Strategie neu festzulegen. Damit ist die Entscheidung, ob das substrategische Nuklearwaffenpotential der NATO modernisiert wird, zugleich eine Entscheidung darüber, ob und wie weit die europäischen NATO-Staaten gewillt sind, die veränderte Rolle nuklearer Waffen zu übernehmen, die die Führungsmacht der NATO, die USA, in ihrer nationalen Strategie implementiert haben. In diese Richtung werden die USA drängen, da sie die Hauptlast der Kosten einer solchen Modernisierung zu tragen hätten. In den Diskussionen über die Notwendigkeit einer neuen NATO-Strategie wird diese Fragestellung bereits heute sichtbar.

Alle drei Gründe machen deutlich, dass die kommende Diskussion darüber, ob die NATO ihr substrategisches nukleares Potential modernisieren sollte, von größter politischer, militärischer, strategischer und rüstungskontrollpolitischer Tragweite ist. Von ihrer Bedeutung her ist sie wohl mit der Debatte um die sogenannte Nachrüstung bzw. den sogenannten NATO-Doppelbeschluss vergleichbar. Denn im Kern geht es um eine vergleichbare Alternative: Was prägt die Zukunft? Nukleare Abrüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung oder eine erneute Runde nuklearer Modernisierung und Aufrüstung, die zudem neue Optionen nuklearer Kriegführung eröffnet. Schon deshalb ist es sinnvoll, die Optionen für künftige Entwicklungen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen.

 

1. Die substrategischen Nuklearwaffen der NATO

Die USA lagern einen Teil ihrer aktiven Atomwaffen in Europa. Europa ist der einzige verbliebene Stationierungsort außerhalb des Staatsgebietes der USA. Nach Schätzungen von Experten handelt es sich um bis zu 480 nukleare Bomben der Typen B-61 Modell 3 und 4. Diese Waffen sind für NATO-Aufgaben und für den Einsatz durch Jagdbomber der USA sowie einiger europäischer Nationen vorgesehen, die sich an der nuklearen Teilhabe der NATO beteiligen. Dies sind derzeit Belgien, Deutschland, Italien, die Niederlande und die Türkei.

Eingesetzt werden können die US-Atomwaffen nur, wenn der US-Präsident den Einsatz freigegeben hat und vorort auf einem gesonderten amerikanischen Befehlsweg der Freigabecode für die Sicherheitssysteme an den Waffen eingegangen ist. Die USA behalten sich zudem seit Ende der 90er Jahre das Recht vor, ihre in Europa für die US-Luftwaffe gelagerten Atomwaffen auch zur Unterstützung des für den Nahen und Mittleren Osten zuständigen regionalen Oberkommandos CENTCOM einzuplanen.

In Deutschland können theoretisch bis zu 216 Waffen in Ramstein, dem zentralen Lager der US-Luftwaffe in Europa, und bis zu 44 Waffen in Büchel, dem Standort des Jagdbombergeschwaders 33 der Bundeswehr, gelagert werden. Vorhanden sind vermutlich normalerweise rund 130 Waffen in Ramstein und 20 in Büchel. Zusätzlich können Lagermöglichkeiten für bis zu 44 weitere Waffen in Nörvenich reaktiviert werden. Die Waffen für eine Reaktivierung der nuklearen Aufgaben auf diesem Fliegerhorst wurden in Ramstein bevorratet. Für den Alltagsbetrieb sind die Lagermöglichkeiten in Nörvenich seit 1997 außer Dienst gestellt.

Das Nuklearwaffendepot in Ramstein wurde wegen der umfangreichen Bauarbeiten auf diesem Flugplatz – er soll die Aufgaben der Rhein-Main-Airbase übernehmen – vermutlich 2004 aus Sicherheitsgründen zwischenzeitlich ausgelagert. Nach Abschluss der Arbeiten – frühestens Ende 2005, Anfang 2006 – konnten diese Waffen zurückgebracht werden. Unklar ist, ob dies auch geschah. Wegen der starken Beanspruchung der Transportflugzeugflotte der USA durch den Krieg im Irak und den "Globalen Krieg gegen den Terrorismus" kann es zu Verzögerungen gekommen sein.

Europaweit gibt es in sechs Ländern aktive Lagermöglichkeiten an acht Standorten für knapp 700 Waffen. Reaktiviert werden können vier weitere Standorte für 116 Waffen.

Die Nuklearwaffen werden in geschützten unterirdischen Magazinen, sogenannten Vaults oder Grüften aufbewahrt, die in den Boden von Flugzeugschutzbauten auf ausgewählten Fliegerhorsten eingebaut wurden. Jedes dieser Magazine kann maximal vier Waffen aufnehmen und wird mit Spezialtechnik fernüberwacht, sodass die Grüfte nur äußerst selten geöffnet werden müssen, z.B. wenn wichtige Waffenkomponenten gewartet werden müssen. Für diese Wartungszwecke existieren besondere Wartungs-LKWs. Größere Wartungs- und Modernisierungsarbeiten erfordern dagegen einen Transport der Waffen in die USA.

Für die örtliche Wartung und den Zugang zu den Atomwaffen sind an Standorten der europäischen NATO-Streitkräfte sind jeweils über 100 US-Spezialisten zuständig. Diese tun in speziellen Einheiten Dienst, den Munitions Support Squadrons (MUNSS), die europaweit von der US-Luftwaffenbasis in Spangdahlem befehligt werden. Diese Soldaten stellen auch sicher, dass nie ein einzelner Soldat oder gar ein Europäer ohne Begleitung durch US-Soldaten Zugang zu einer Atomwaffe bekommt. Fliegerhorste, auf denen Atomwaffen stationiert sind, haben zudem eine zusätzliche Wachmannschaft für die äußere Sicherheit. Bei der Bundeswehr heißt diese Luftwaffensicherungsstaffel "S" - wie Sonderwaffen.

Für die Ausbildung der Techniker und Piloten stehen spezielle Trainingswaffen vom Typ 3A und 3E zur Verfügung, sodass nicht mit realen Atomwaffen geübt werden muss. In Büchel soll es noch eine Trainingswaffe vom älteren Typ 3A und 6 Waffen des moderneren, 2001 eingeführten Typs 3E geben. Experten gehen davon aus, dass an jedem Standort ein Vault für Ausbildungs- und Trainingszwecke verwendet wird.

Die Bomben vom Typ B-61 wurden zwar schon in den sechziger und siebziger Jahren entwickelt, verfügen aber über relativ moderne Sicherungs- und Freigabesysteme (Permissive Action Links der Kategorie F), da sie immer wieder modernisiert wurden. Die elektronischen Sicherheitsvorrichtungen wurden zuletzt 2002 aktualisiert. Die Sprengkraft der Waffen ist variabel - von 0,3 Kilotonnen bis zu 45 Kilotonnen beim Modell B-61-4 oder bis zu 170 Kilotonnen beim Modell 3. Letzteres entspricht mehr als der 13-fachen Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe.

Lange wurde angenommen, dass auch Bomben des Typs Die B-61-10 in Europa gelagert werden. Dieser Nuklearwaffentyp wurde Ende der achtziger Jahre aus den nicht mehr benötigten Sprengköpfen der Mittelstreckenrakete Pershing-II-Rakete entwickelt, die aufgrund des Vertrages über den Abbau landgestützter, atomarer Mittelstreckenwaffen von 1987 (INF-Vertrag) abgezogen werden konnten.[3] Durch eine Veröffentlichung des US-Energieministeriums im Juli 2005 wurde jedoch bekannt, dass diese modernen Waffen nicht – wie angenommen - Bestandteil des aktiven Atomwaffenbestandes der USA wurden, sondern als Reservewaffen gelagert werden. Damit sind sie bisher wohl nicht in Europa stationiert worden.

Einige nicht-nuklearen NATO-Staaten halten im Rahmen der nuklearen Teilhabe eigene Jagdbomber und speziell ausgebildete Besatzungen für den Einsatz nuklearer Waffen bereit. In Belgien und Holland wird diese Aufgabe von F-16 Kampfflugzeugen wahrgenommen. In Deutschland und Italien kommen Jagdbomber des Typs Tornado IDS zum Einsatz. Beide Flugzeugtypen wurden in den 80er Jahren eingeführt und erreichen im kommenden Jahrzehnt das Ende ihrer vorgesehenen Lebensdauer. In allen vier Ländern werden die Nuklearwaffen auf den Fliegerhorsten der entsprechenden Einheiten gelagert. Die Türkei stellt seit einigen Jahren einen gewissen Sonderfall dar. Hier werden mittlerweile alle Nuklearwaffen nur noch auf dem US-Stützpunkt Incirlik und nicht mehr bei türkischen Einheiten gelagert. Die nuklearfähigen Stützpunkte der türkischen Luftwaffe können, wie Nörvenich in Deutschland, im Bedarfsfall theoretisch reaktiviert werden.

Beide Erweiterungen der NATO um neue Mitglieder führten nicht dazu, dass die Zahl der Staaten, die sich an der technischen nuklearen Teilhabe beteiligten, größer wurde. Auch um russische Befürchtungen zu entkräften, erklärte die US-Regierung 1997 öffentlich, sie sehe keinen Bedarf, keinen Grund und keinen Anlass, Atomwaffen auf dem Gebiet der neuen Mitgliedsstaaten zu stationieren, dort neue Atomwaffenlagerstätten zu bauen oder vorhandene alte zu nutzen, Piloten aus diesen Ländern für den Nuklearwaffeneinsatz auszubilden oder nukleare Geheimschutz- und Kooperationsabkommen mit den neuen Mitgliedstaaten abzuschließen. Zudem sei es nicht erforderlich, dass diese Länder Flugzeuge beschaffen, die Nuklearwaffen abwerfen können.

Die Zahl der nuklearen Waffen und der Standorte, an denen sie in Europa gelagert werden, wurde seit dem Ende des Kalten Krieges mehrfach reduziert, ebenso der Bereitschaftsstatus der Jagdbomber, die die Waffen einsetzen können. Heute würde es deshalb nach Angaben der NATO nicht mehr nur Minuten dauern, bis atomar bewaffnete Jagdbomber der NATO mit vollausgebildeten Crews abheben können, sondern Monate. Die Möglichkeit einer erneuten Reduzierungsrunde kündigte NATO-Oberbefehlshaber James L. Jones überraschend im März 2004 an.[4] Details nannte er allerdings nicht. Offiziell wurde auch keine weitere Reduzierung bekanntgegeben. Eines der wichtigsten Beratergremien des Pentagons, das Defense Science Board, empfahl allerdings fast gleichzeitig den völligen Verzicht auf nuklearfähiger Trägerflugzeuge in der NATO und damit auf diese Waffen.

Nuklearwaffentransporte finden soweit möglich per Luftfracht statt. Zwei Strukturen stehen dafür in der US-Luftwaffe zur Verfügung: Die Primary Nuclear Airlift Force (PNAF) für Transporte in Friedenszeiten und die Emergency Nuclear Airlift Force (ENAF) für (zusätzliche) Transporte in Krise und Krieg.

Die PNAF für interkontinentale und Langstreckentransporte wird von der 4. Staffel des 62. Lufttransportgeschwaders (4th Squadron, 62nd MAW) auf der McChord Airforce Base in Washington State gestellt. Hier stehen sieben besonders für diese Aufgabe ausgebildete Flugkapitäne mit ihren ebenfalls speziell ausgebildeten Mannschaften für solche Flüge bereit. Einige oder sogar alle Flugkapitäne dieser Staffel werden auch eingesetzt, um den US-Präsidenten zu befördern, wenn dieser ein militärisches Flugzeug nutzt. Für Transportflüge mit Nuklearwaffen werden moderne C-17A-Großraumtransportflugzeuge genutzt, die auch auf relativ kleinen Flughäfen landen können. Flugzeuge dieses Geschwaders sind regelmäßig in Ramstein zu Gast. Für kürzere Transporte innerhalb Europas gibt es einen "europäischen Ableger" der PNAF. Dieser ist Teil des 86.Lufttransportgeschwaders in Ramstein und benutzt C-130 Herkules-Transportmaschinen. Hier steht eine Modernisierung auf das neue Modell C-130 J ins Haus.

 

Die Nuklearwaffenlager der NATO im 2006

Flugplatz Land Vaults Max. Zahl an Waffen Einheiten mit nuklearen Aufgaben & Status
Büchel D 11 44 Jabo-Geschwader 33 der Bundeswehr mit Tornado-Flugzeugen, Nuklearwaffenlager aktiv; Wacheinheit der USAF: 702 MUNSS
Ramstein D 54 216 86. Lufttransportgeschwader, USAF mit C-130-Transportern, aktiv; zusätzlich 1 Trainingsvault
Kleine Brogel BE 11 44 10. Taktisches Geschwader der Belgischen Luftwaffe mit F-16 Flugzeugen, Nuklearwaffenlager aktiv; Wacheinheit der USAF: 701 MUNSS
Volkel NL 11 44 1. Jagdbombergeschwader der Holländischen Luftwaffe mit F-16 Flugzeugen, aktiv. Wacheinheit der USAF: 703. MUNSS
Lakenheath UK 33 132 48. Jagdbombergeschwader der US-Luftwaffe mit F-15E-Flugzeugen, Nuklearwaffenlager aktiv
Aviano IT 18 72 31. Jagdbombergeschwader der US-Luftwaffe mit F-16 Flugzeugen, Nuklearwaffenlager aktiv
Ghedi-Torre IT 11 44 6. Geschwader der Italienischen Luftwaffe mit Tornado-Flugzeugen, Nuklearwaffenlager aktiv. Wacheinheit der USAF: 704. MUNSS
Incirlik TR 25 100 Rotierende Einheiten der US-Luftwaffe, Nuklearwaffenlager aktiv
Nörvenich D 11 0 Jabo-Geschwader 31 der Bundeswehr mit Tornado-Flugzeugen, Nuklearwaffenlager z.Zt. inaktiv (Caretaker-Status). keine Wacheinheit der USAF
Murted/Akinci TR 6 0 4. Geschwader der Türkischen Luftwaffe mit F-16 Flugzeugen, Nuklearwaffenlager z.Zt. inaktiv. keine Wacheinheit der USAF
Balikesir TR 6 0 9. Geschwader der Türkischen Luftwaffe mit F-16-Flugzeugen, Nuklearwaffenlager z.Zt. inaktiv. keine Wacheinheit der USAF
Araxos

(geschlossen)

GR (6) 0 116. Geschwader der Griechischen Luftwaffe mit A-7E Flugzeugen, Nuklearwaffenlager inaktiv. Wacheinheit der USAF: 731.MUNSS; 2001 aufgelöst
Memmingen (geschlossen) D (11) 0 Jabo-Geschwader 34 der Bundeswehr mit Tornado-Flugzeugen, Nuklearwaffenlager inaktiv – Geschwader 2003 aufgelöst.
Gesamt NATO 174 (197) 696 (788) Real gelagert Waffen werden nach informierter Schätzung maximal 480 Waffen. Angenommen wird, dass in Friedenszeiten je Standort zumindest ein Magazin mit Übungsbomben ausgestattet ist.

 

2. Die substrategische Nuklearwaffen der USA in der NATO-Strategie

Die Nuklearwaffen der USA in Europa sind zum einen Waffen der USA und zum anderen für den Einsatz im Rahmen von NATO-Aufgaben vorgesehen. Die Nuklearstrategie der NATO wies schon während des Kalten Krieges immer wieder das Charakteristikum einer nachvollziehenden Anpassung an Entwicklungen der nationalen Strategie der USA auf. Am deutlichsten wurde dies während des Übergangs von der "massiven Vergeltung" zur "flexiblen Reaktion" oder "flexiblen Antwort", die sich in den USA bereits 1962, in der NATO aber erst 1967/68 vollzog. Diese Strategie behielt bis zum Ende des Kalten Krieges Gültigkeit.

Auch wenn in der NATO formal eine einheitliche Nuklearstrategie hat, so stellte diese in entscheidenden Punkten immer auch einen Formelkompromiss zwischen den Vorstellungen der USA über mögliche Atomwaffeneinsätze in Europa und denen europäischer Staaten dar. Spöttisch wurde die NATO-Nuklearstrategie deshalb auch als Strategie der "flexiblen Interpretation" bezeichnet. Beispielhaft wird dies "Ersteinsatz" nuklearer Waffen deutlich, den sich die NATO bis heute offenhält. Idealtypisch gab es zwei Vorstellungen: Sollte die NATO mit dem Einsatz nuklearer Waffen warten, bis eine konventionelle Niederlage drohe und dann mit vielen kleinen taktischen Atomwaffen das Kräfteverhältnis so verändern, dass wieder konventionell gekämpft werden kann? Würde das aber nicht zerstören, was verteidigt werden soll? Wäre es deshalb nicht besser, sehr frühzeitig einige wenige Atomwaffen mit Reichweite bis tief in die UdSSR einzusetzen, die beiden Supermächten klar machen würde, dass ein atomarer Krieg nicht auf das europäische Gefechtsfeld begrenzt werden könnte und der Krieg somit sinnlos sei? Als Mitteleuropäer können wir nur von Glück reden, dass die NATO nie ausdiskutieren und praktisch entscheiden musste, welches die "bessere" Form der Implementierung nuklearer Abschreckung gewesen wäre.

Doch eines gilt bis heute, fast 17 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges: Einheitlich sind die Vorstellungen in der NATO über die Funktion und Rolle der verbliebenen Nuklearwaffen im Bündnis noch immer nicht. Zwar schien sich mit der NATO-Strategie von Rom 1991 eine gewissen Konvergenz anzudeuten, weil die Bündnispartner die verbleibenden Nuklearwaffen nun als politische Waffen sahen und als "letztes Mittel" (last resort) einer primär politischen Abschreckungskonzeption betrachteten. Dies galt sowohl für die strategischen als auch für die substrategischen Nuklearwaffen. Doch schon bald zeigte sich, dass jene, die Waffen nur dann für sinnvoll halten, wenn diesen auch eine reale militärische Funktion zukommt, den scheinbaren Konsens über die politische Funktion dieser Waffen wieder aufzubrechen versuchten.

Das Einfallstor für ein solches Denken entstand mit der Counterproliferation-Initiative, die William Perry und Ashton B. Carter während der ersten Clinton-Regierung ab 1993/94 propagierten. Beide warfen die Frage auf, ob neben diplomatischen Mitteln nicht auch militärische Instrumente gegebenenfalls genutzt werden müssten, um Gefahren aus der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zu begegnen. Der Begriff Massenvernichtungswaffen umfasste dabei atomare, biologische und chemische Waffen sowie deren Trägersysteme. Auch wenn Perry und Carter kaum unterstellt werden kann, dass sie Proliferationsbestrebungen vorrangig oder überhaupt mit Atomwaffen bekämpfen wollten, so öffneten sie doch eine argumentative Büchse der Pandora, deren entweichenden Geist konservative Nuklearapologeten nur zu gerne einatmeten.

Binnen weniger Jahre wurde es zu einem Standardargument, dass Washington sich das Recht auf einen nuklearen Ersteinsatz vorbehalten müsse, wenn es sich nicht der Möglichkeit begeben wolle, gegen Staaten militärisch vorzugehen, die sich Massenvernichtungswaffen zuzulegen versuchen oder gar mit diesen drohen. Der offen gehaltene nukleare Ersteinsatz bezog sich also nicht länger nur auf einen atomar bewaffneten Gegner[5], sondern nun auch auf Staaten, die "lediglich" über chemische oder biologische Waffen oder sogar nur über Trägersysteme für solche Waffen verfügten. Auf einer eher technischen Ebene nutzten die Verfechter einer solchen Interpretation die noch unter George Bush Anfang der 90er Jahre befehligte Bereinigung der Nuklearwaffenzielplanung der USA (SIOP) von überflüssigen Zielen schon bald auch dazu, im Rahmen des "adaptive targeting" eine erneute Ausweitung der Zahl der potentiellen Zielländer und Ziele für Nuklearwaffen vorzunehmen.

Seit dem Ende des Kalten Krieges haben die US-Nuklearwaffen in Europa aus europäischer Sicht dagegen weiterhin eine vor allem politisch-psychologische Funktion. Sie sollen die strategischen Nuklearwaffen im Blick auf deren Abschreckungswirkung ergänzen und einen Angriff auf NATO-Staaten zu einem unkalkulierbaren Risiko machen. Dafür stand in der NATO-Strategie von Rom die Bezeichnung als "letztes Mittel" (last resort). Dass diese Bezeichnung in der NATO-Strategie, die 1999 in Washington verabschiedet wurde, wieder fehlt, ist dagegen kein Zufall. Ebenso ist es kaum ein Zufall, dass die politischen und militärischen NATO-Strategiedokumente auch nach dem Kalten Krieg nie förmlich auf die Option eines Ersteinsatzes von Nuklearwaffen verzichteten. Während der Diskussionen über die politisch-militärische Rolle nuklearer Waffen in den vertraulichen Dokumenten des NATO-Militärausschusses zur Umsetzung der NATO-Strategie, gab es sowohl Mitte der neunziger Jahre im Blick auf das Dokument MC 400/1 als auch anlässlich der erneuten Aktualisierung 1999 zur MC400/2 aus europäischer Sicht die Notwenigkeit, explizit darauf zu achten, dass den Nuklearwaffen der NATO weder explizit noch implizit eine Rolle bei der Bekämpfung der Proliferation zugewiesen wurde.

Gemeinsam mit den USA konnte somit lediglich deren Funktion im Rahmen der Abschreckung festgehalten werden, ihre Existenz als Zeichen dafür, dass sich die NATO-Staaten diesseits und jenseits des Atlantiks unter keinen Umständen auseinanderdividieren lassen und die Risiken, die Verantwortung und die nukleare Rolle gemeinsam wahrnehmen wollen, die mit dem Vorhandensein von Nuklearwaffen verbunden sind. Die Aussagen der NATO über ihre Nuklearwaffen gerieten damit zu Formeln, die bisweilen ans Absurde grenzen. Wenn das Bündnis davon spricht, einen geeigneten Mix nuklearer Waffen beibehalten zu wollen, dann ist dies auch eine Absage an die Möglichkeit, auf substrategische Waffen zu verzichten. Wenn es von der Notwendigkeit spricht, sein Nuklearwaffenpotential "up to date" zu halten, so wird damit auch die Möglichkeit offengehalten, die Nuklearwaffen der NATO und deren Trägersysteme zu modernisieren.

Die substrategischen Nuklearwaffen haben ihre militärische Funktion weitgehend wenn nicht ganz verloren, da die Ziele, gegen die sie früher eingesetzt werden sollten, heute keine Ziele mehr sind. Neue Ziele, wie sie seit Ende des Kalten Krieges Aufnahme in die US-Planungen fanden, liegen zumeist außerhalb der Reichweite der vorhandenen Flugzeuge.[6] Die vorhandenen Atomwaffen sind zudem aufgrund der zu erwartenden Kollateralschäden zur Zerstörung dieser Ziele oft militärisch schlechter geeignet als moderne konventionelle Waffen. Zudem lehnen viele europäische NATO-Staaten einen solche Einsatz zur Bekämpfung der Proliferation aus politischen Gründen grundsätzlich ab. Die Bestrebungen Washingtons, den Waffen neue Rollen bei der Abschreckung und Bekämpfung der Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen zuzuweisen, sind in der NATO – wie bereits gesagt - nicht auf Gegenliebe gestoßen.

Selbst in den US-Streitkräften wird der militärische Wert dieser Waffen zunehmend in Zweifel gezogen. Die US-Luftwaffe hält sie für überflüssig und sieht in ihnen einen unnötigen Kostenfaktor. Sie hat ihre doppelt verwendbaren taktischen Kampfflugzeuge – soweit diese nicht in Europa stationiert sind – bereits von der nuklearen Rolle befreit. Das Defense Science Board, eines der wichtigsten Beratergremien des Pentagons, empfiehlt dies auch für Europa. Und trotzdem: Das Strategic Command, zuständig für die weltweite Planung nuklearer Einsätze und das Europäische Oberkommando haben Ende der neunziger Jahre vereinbart, dass es – vorläufig – noch eine Rolle für diese Waffen gibt: Auf nationaler US-Ebene sollen sie auch für Einsätze außerhalb des NATO-Gebietes, z.B. im Mittleren Osten in Unterstützung von CENTCOM mit eingeplant bleiben.

 

3. George W. Bushs neues Nuklearzeitalter

Mit der Regierung George W. Bush hielten 2001 jene Nukleartheoretiker Einzug in Pentagon und Energieministerium, die wie Keith Payne ein zweites Nuklearzeitalter einläuten wollen und schon deshalb der Modernisierung des amerikanischen Nuklearpotentials Vorrang vor rüstungskontrollpolitischen und Nichtverbreitungsinitiativen einräumen.

Mit dem Nuclear Posture Review legten sie Anfang 2002 eine Blaupause für ihr strategisches Denken vor, dass letztlich auf eine Rundumerneuerung des gesamten nuklearen Komplexes der USA zielt: auf neue Trägersysteme, neue Atomwaffen für neue Einsatzspektren, einen neuen nuklearindustriellen Komplex (Complex 2030) und ein zahlenmäßig kleineres, aber flexibleres strategisches Gesamtpotential. Dieses soll vorrangig dazu dienen jeden Gegner, ob Staat oder nichtstaatlicher Akteur, mit überlegenen konventionellen und nuklearen sowie offensiven wie defensiven Mitteln abschrecken und bekämpfen zu können.

Mit der Nationalen Sicherheitsstrategie 2002 und vor allem der Nationalen Strategie zur Bekämpfung von Massenvernichtungswaffen im gleichen Jahr wird das nukleare Potential der USA nicht nur als Reaktionsmöglichkeit in die Bekämpfung der Proliferation eingebunden, sondern auch die Möglichkeit eröffnet, gegen staatliche und nichtstaatliche Akteure, die Massenvernichtungswaffen erworben haben oder erwerben wollen präventiv oder präemptiv mit Nuklearwaffen vorzugehen. Dies gilt sowohl für die strategischen als auch für die substrategischen Nuklearwaffen im Potential der USA. Auf militärisch doktrinärer Ebene spiegelt sich diese Option in mehreren Entwürfen für eine neue Nukleardoktrin der Joint Chiefs of Staff, der Joint Publication 3-12, die das Licht der Öffentlichkeit erblickten und breite Kritik hervorriefen, bis sie offiziell im Oktober 2005 aus dem Verkehr gezogen wurden.[7]

Im Rahmen des Unified Command Plans, der Zuständigkeitszuschreibung des Pentagons für die obersten Kommandos der US-Streitkräfte, ist das Strategic Command der USA dafür zuständig, geeignete globale und regionale Evantualfall- und Einsätzpläne (CONPLANs und OPLANs) auszuarbeiten und Konzepte für die Fähigkeit zu Globalen Schlägen und Sofortigen Globalen Schlägen (Global Strike und Prompt Global Strike) gegen strategisch bedeutsame Ziele auf der ganzen Welt auszuarbeiten sowie die dafür erforderlichen Zielinformationen kontinuierlich bereitzuhalten. Mit dem Global-Strike-Konzept sollen die konventionellen und nuklearen Mittel und Fähigkeiten der USA, strategische sowie wichtige taktische gegnerische Ziele weltweit zu zerstören, in einen einzigen Operationsplan zusammengeführt werden.[8] Die Bekämpfung von Proliferationszielen ist ein wesentlicher Bestandteil. Alle Länder, die seitens der USA als Proliferationsrisiko betrachtet werden, werden von dieser Planung mit erfasst. Auch der Einsatz substrategischer Waffen ist im Rahmen dieser Konzeptionen möglich. Die Planung trägt die Bezeichnung OPLAN 8022 und wird seit einigen Jahren ständig weiterentwickelt. Gegenüber der Öffentlichkeit argumentiert das Pentagon, durch die Integration der konventionellen und nuklearen Bekämpfungsmöglichkeiten werde die Wahrscheinlichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes verringert. Kritiker sehen das jedoch genau umgekehrt: Sie befürchten, dass die Hemmschwelle für den Einsatz atomarer Waffen sinken wird, wenn deren Einsatz gemeinsam mit dem konventioneller Waffen geplant wird.

Das Argument der Kritiker gewinnt an Überzeugungskraft, wenn die Pläne der Bush-Administration für neue Nuklearwaffen mit in Betracht gezogen werden. In ihren ersten Amtsjahren versuchte die Bush-Administration vor allem, die gesetzlichen Beschränkungen der Erforschung und Entwicklung neuer Nuklearwaffen zu lockern, um Projekte wie Mini-Nukes, also Atomwaffen geringster Sprengkraft, nukleare Bunker-Buster, Atomwaffen, die unterirdische Bunker und Anlagen zerstören sollen oder gar Kombinationen aus beidem leichter auf den Weg bringen zu können. Immer wieder wurde hervorgehoben, solche neuen Waffen seien erforderlich, um auch künftig glaubwürdig mit dem Einsatz nuklearer Waffen drohen zu können. Dies gehe nur, wenn der Kollateralschaden begrenzt werde und zugleich die Ausschaltung unterirdischer Ziele wie Kommandozentralen oder Produktionsanlagen für Massenvernichtungswaffen mit hoher Wahrscheinlichkeit gelinge. Der US-Kongress setzte diesen Versuchen jedoch weiterhin enge – vor allem finanzielle – Grenzen, sodass nur begrenzte Fortschritte erzielt wurden. Erst für einem neuen Ansatz, Arbeiten an einem Reliable Replacement Warhead (RRW), fand die Regierung substantielle Unterstützung im Kongress, da es hier scheinbar weder um eine bunkerbrechende Nuklearwaffe noch um eine Mini-Nuke gehen sollte. Das RRW-Programm sollte prüfen, ob ein vorhandener strategischer Atomsprengkopf für eine U-Boot-Rakete robuster, verlässlicher, einfacher zu warten und zukunftssicherer gebaut werden könnte, ohne dass eine vollständig neue Atomwaffe entwickelt und getestet werden müsse. Dies ließ der Kongress zu. Doch bereits nach wenigen Jahren zeigte sich, dass Verteidigungs- und Energieministerium ihre alten Modernisierungspläne nun unter neuem Namen fortführen wollten. Nicht ein RRW-Sprengkopf, sondern zwei sollten entwickelt werden, hieß es zunächst. Bald darauf wurde deutlich, dass es um die Entwicklung einer ganzen Familie neuer Atomsprengköpfe gehen könnte. Im nächsten Jahrzehnt, so ließ das zuständige Energieministerium wissen, müsse entschieden werden, ob alle US-Atomsprengköpfe in den Depots der US-Streitkräfte durch vier bis sechs Typen neuer RRW-Sprengköpfe ersetzt werden sollen. Dies erlaube – so das werbende Versprechen – eine derzeit nicht mögliche Verkleinerung des atomaren Arsenals der USA und dessen Anpassung an den künftigen operativen Bedarf der US-Streitkräfte. Diese Argumentation öffnet erneut das Tor zu militärisch "nützlicheren", weil besser einsetzbaren Nuklearwaffen. Verfolgen die Regierung Bush und deren Nachfolger diesen Entwicklungspfad weiter, so machen aus amerikanischer Sicht auch im substrategischen Bereich künftig nur noch jene Nuklearwaffen einen Sinn, die im zweiten nuklearen Zeitalter und bei der Bekämpfung zum Beispiel von Proliferationszielen glaubwürdig neue Einsatzoptionen eröffnen. Dies gilt dann sicher auch im Blick auf jene Waffen, die die USA gegebenenfalls weiter für die NATO vorsehen.

 

4. NATO zwischen nuklearer Abrüstung und Modernisierung

Die europäischen NATO-Staaten müssen in den kommenden Jahren entscheiden, ob sie den Wandel, den die USA in ihrer nationalen Strategie vollzogen haben, nachvollziehen wollen oder nicht. Ihn nur teilweise zu implementieren wird kaum möglich sein. Diesseits und jenseits des Atlantiks kann der Diskussion über die Zukunft der substrategischen Nuklearwaffen zwar vielleicht noch wenige Jahre ausgewichen werden, in dem man das bisherige Dispositiv reduziert und trotzdem weiter am Leben erhält. Trotzdem aber wird sich die Frage stellen, ob es durch ein neues Dispositiv ersetzt werden soll oder nicht.

Wird das substrategische Nuklearpotential in Europa modernisiert, so impliziert dies höchstwahrscheinlich eine Anpassung der NATO-Nuklearstrategie an die veränderte nationale Strategie der USA. Das gilt auch für die umstrittenen präventiven und präemptiven Elemente sowie die Möglichkeit eines Einsatzes gegen nicht-staatliche Akteure. Diese Anpassung könnte zwar – ähnlich wie zu Zeiten der Übernahme der Flexiblen Antwort – durch Formelkompromisse verschleiert und kaschiert werden. Letztlich aber wird Washington in der Modernisierung der substrategischen Nuklearkomponente und den damit verbundnen Kosten nur dann einen Sinn sehen, wenn die europäischen NATO-Staaten ihrerseits einen Beitrag zur Implementierung einer solchen Strategie leisten und beispielweise die politische Last der Verantwortung eines völkerrechtswidrigen präemptiven oder präventiven Nuklearwaffeneinsatzes gegen ein nicht-nukleares Land mit den USA teilen. Wären die europäischen Staaten dazu nicht bereit, so würden sich in den USA voraussichtlich jene Kräfte durchsetzen, die in den substrategischen Nuklearwaffen der Allianz schon heute vor allem einen Kostenfaktor und ein Relikt des Kalten Krieges sehen und im nuklearen Bereich auf nationale Fähigkeiten setzen.

Voraussichtlich wird aus technischen Gründen die Frage der Modernisierung der nuklearfähigen Trägerflugzeuge als erste auf der Tagesordnung stehen. Sie dürfte Signalcharakter für die Entscheidungen über neue Atomwaffen und künftige Lagerungssysteme haben. Die heute genutzten F-16-und Tornado-Flugzeuge erreichen im kommenden Jahrzehnt das Ende ihrer technischen Lebensdauer und müssen deshalb außer Dienst gestellt werden. Die Bundesluftwaffe plant beispielsweise die nuklearfähigen Tornado-Flugzeuge in Büchel ab 2012 außer Dienst zu stellen und durch nicht-nukleare Eurofighter zu ersetzen.[9] Die USA entwickeln derzeit unter Mitarbeit von Holland, Belgien, Italien und der Türkei mit dem Joint Strike Fighter ein Kampfflugzeug, das eine nukleare Rolle wahrnehmen könnte. Sie haben aber die Option, das fünfte Los dieses Flugzeuges nuklearfähig auszulegen, bislang nicht genutzt. Eine Entscheidung, ob dies geschehen soll, muss getroffen werden. Die USA stehen dabei nicht unter Zeitdruck. Als Nuklearwaffenträger benötigen sie dieses Flugzeug nicht unbedingt. Anders die europäischen Partner: Diese müssen entscheiden, ob die Flugzeuge, die sie bestellen, nuklearfähig sein sollen oder nicht.

Die Entscheidung für oder gegen die Anschaffung neuer nuklearer Trägersysteme in Europa hat zweifelsfrei Signalcharakter. Sie liefert nicht nur ein erstes gewichtiges Indiz dafür, ob nicht-nukleare NATO-Staaten auf Jahrzehnte weiter an Nuklearwaffen festhalten wollen. Sie wird auch ein Signal dafür sein, ob die NATO an der umstrittenen nuklearen Teilhabe auf lange Sicht festhalten will. Deren Rechtmäßigkeit ist umstritten, da der größte Teil der Mitglieder des Atomwaffensperrvertrages, die Nichtpaktgebundenen Staaten, in der Fähigkeit nicht-nuklearer NATO Staaten während eines Krieges US-Nuklearwaffen zum Einsatz zu bringen, einen Verstoß gegen den Geist, wenn nicht den Buchstaben des Vertrages sieht. Schließlich würde von einer solchen Entscheidung ein Signal ausgehen, dass nicht nur nukleare, sondern auch etliche nicht-nukleare NATO-Staaten auf Jahrzehnte der Eliminierung aller Nuklearwaffen politisch keine Chance geben. Der durch das Scheitern der Überprüfungskonferenz 2005 bereits gefährdete, wohl derzeit wichtigste nukleare Rüstungskontrollvertrag könnte mit Blick auf die nächste Überprüfungskonferenz im Jahre 2010 weiter geschwächt werden.

Während seiner Rede zur Eröffnung der Überprüfungskonferenz 2005 fand der damalige deutsche Außenminister, Joschka Fischer, deutliche Worte: "Wir sollten die bestehenden Arsenale strategischer und sub-strategischer Atomwaffen überprüfen und energisch daran arbeiten, sie weiter zu reduzieren. (...) Was wir heute jetzt brauchen, ist neuer Schwung zur nuklearen Abrüstung." Und an anderer Stelle: "Es ist unser Ziel diese Nuklearwaffen zu reduzieren und zu eliminieren – auf allen Seiten".[10] Beides gilt auch künftig. Der wichtigste Beitrag, den die nicht-nuklearen NATO-Staaten dazu in den kommenden Jahren leisten können, besteht in einem Verzicht auf jedes Signal nuklearer Modernisierung und in der Aufgabe der rechtlich umstrittenen technisch-nuklearen Teilhabe deutlich vor der nächsten Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag.

Für einen solchen Schritt sprechen eine Vielzahl von Gründen und Argumenten. Er ist der einzige, mit dem die nicht-nuklearen Staaten im Bündnis aktiv zur Abrüstung vorhandener militärischer Nuklearpotentiale und der zugehörigen Trägersysteme beitragen können. Er kann die überfällige Diskussion über die Einbeziehung taktisch-nuklearer bzw. substrategischer Waffen in rüstungskontrollpolitische Diskussion ermöglichen bzw. aktiv dazu beitragen, dass eine solche Diskussion – gerade auch mit Russland - in Gang kommt. Er wäre ein deutliches Signal, dass Nuklearwaffen in der Zukunft eine deutlich sinkende sicherheitspolitische Rolle zukommt. Er würde eine vertrauensbildende Maßnahme darstellen und den Atomwaffensperrvertrag stärken, weil mit der nuklearen Teilhabe eine höchst umstrittene Praxis beendet wird. Und er würde deutlich machen, dass sich die betroffenen Staaten kompromisslos für eine restriktive Auslegung und konsequente Einhaltung des Atomwaffensperrvertrages einsetzen.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS


 

Fußnoten:

[1] Dieser Beitrag befasst sich nur mit einem Teil des Nuklearpotentials der NATO – dem luftgestützten, taktischen bzw. substrategischen Potential, also jenen Kampfflugzeugen der USA, Deutschlands, Hollands, Belgiens, Italiens und der Türkei, die Nuklearwaffen einsetzen können und den nuklearen Bomben, die die USA in Europa für einen solchen Einsatz bereithalten. Ausgeklammert bleiben die U-Boote der USA und Großbritanniens, die der NATO assigniert werden können und mit nuklearen Langstreckenraketen ausgestattet sind. Ausgeklammert bleiben auch die nuklearen seegestützten Marschflugkörper, die die USA nach dem Ende des Kalten Krieges zunächst an Land lagerten und weiter als Verstärkung für die NATO bereithielten, nun aber delaborieren wollen. Schließlich bleiben auch die französischen Nuklearwaffen in Europa ausgeklammert, da Frankreich die militärische Integration der NATO verlassen hat.

[2] Eine ähnliche Signalwirkung geht bereits von den geplanten Modernisierungen des Nuklearwaffenpotentials der USA aus. Gleiches gälte, wenn sich Großbritannien – wie geplant – für eine Modernisierung seiner Trident-U-Boote entscheiden würde.

[3] Die Pershing-Sprengköpfe vom Typ W-85 waren ihrerseits aus Bomben des Typs B-61 abgeleitet worden; dies erleichterte die Rückumwandlung in Bomben.

[4] Dies geschah möglicher- und/oder zufälligerweise in zeitlicher Koinzidenz mit der Auslagerung der atomaren Bomben wegen der Bauarbeiten in Ramstein.

[5] Manche argumentieren, dies sei auch während des Kalten Krieges so gewesen, da die USA optional mit einem nuklearen Ersteinsatz auf einen Einsatz chemischer Waffen seitens des Warschauer Paktes hätten reagieren können. Theoretisch hielt sich die NATO diese Option offen; sie verfügte jedoch bis zum Ende des Kalten Krieges auch über ein substantielles amerikanisches C-Waffenpotential in Deutschland, dass eine Reaktion auf gleicher Eskalationsstufe ermöglicht hätte.

[6] Durch Luftbetankung ließe sich die Flugzeugreichweite natürlich steigern und gelegentlich in der Türkei stationierte US-Kampfflugeuge bzw. Flugzeuge der Türkei oder Italiens könnten theoretisch das eine oder andere Ziel auch erreichen.

[7] Der Verzicht auf eine öffentlich zugängliche nukleare Dienstvorschrift impliziert keineswegs zugleich den Verzicht auf eine geheime Vorschrift gleicher Zielstellung.

[8] Diese konzeptionelle Idee wurde auf den damaligen Kriegsschauplatz Europa bezogen bereits Anfang der 80er Jahre durch das US-Heer in der AirLand-Battle-Doktrin im Konzept des integrierten Gefechtsfeldes eingeführt. Heute wird sie angesichts weiterentwickelter technischer Fähigkeiten auf die globale, strategische Ebene gehoben.

[9] Um damit nicht zugleich ein Bekenntnis für oder gegen die weitere deutsche Beteiligung an der technisch nuklearen Teilhabe abgeben zu müssen, ventiliert das BMVg, ob einige Tornados noch einige Jahre länger zumindest formal für diese Aufgabe bereitgehalten werden können.

[10] Speech by Joschka Fischer, Federal Minister of Foreign Affairs at the Opening Session of the 7th Review Conference of the Parties to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons, New York, 2.5.2005, S.7f.