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29. Dezember 2001
Streitkräfte und Strategien, NDR info |
Europa - Militärisch und
sicherheitspolitisch auch in absehbarer Zukunft keine Macht?
Die ehrgeizigen Ambitionen der EU.
von Otfried Nassauer
Die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union zeigten sich
anläßlich ihres Laekener Gipfels vor zwei Wochen gezwungenermaßen realistisch: Ja,
Europa ist auf dem Wege, sich wie in Helsinki vor zwei Jahren vereinbart,- erste
gemeinsame militärische Fähigkeiten zum Krisenmanagement zu schaffen. Nein, um autonom,
ohne den Rückgriff auf Fähigkeiten der NATO und der USA, zu agieren dafür wäre
es noch deutlich zu früh. Ja, das europäische Kontingent bis zu 60.000 Mann stark
plus Luftwaffen- und Marineanteile ist nunmehr in der Lage, kleinere, begrenzte
Kriseneinsätze mit niedrigem Gewaltrisiko durchzuführen. Nein, für Einsätze mit hohem
Gewaltpotential, am oberen Ende des sogenannten Petersberg-Spektrums, fehlen weiterhin
viele Fähigkeiten.
Konsequenterweise erklärte der Gipfel Europa für bedingt
einsatzbereit. Wörtlich heißt es in der Gipfel-Erklärung: "Als Ergebnis der
kontinuierlichen Weiterentwicklung der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik, der Stärkung ihrer Fähigkeiten der militärischen wie der
zivilen und durch die Schaffung geeigneter eigener Strukturen (...) ist die
(Europäische) Union nun befähigt, einige Operationen des Krisenmanagements
durchzuführen. (....) Die Weiterentwicklung der ihr zur Verfügung stehenden Mittel und
Fähigkeiten wird die Union befähigen zunehmend anspruchsvollere Operationen
anzugehen." Bis Ende 2006 soll die nächste Etappe erreicht sein die volle
Einsatzbereitschaft.
Der Gipfel von Laeken machte vor allem zwei Schwächen der Entwicklung
einer Gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik erneut klar: Zum
einen verdeutlichte er das Fehlen bestimmter militärischer Fähigkeiten: Europa hat keine
eigenen Planungskapazitäten für militärische Einsätze, keine ausreichenden
Aufklärungsmittel, unzureichende Lufttransportkapazitäten. Es fehlt an vielem, das
nötig wäre, um große Kriseneinsätze zu bewerkstelligen. Zum zweiten fehlt in
mancherlei Hinsicht der politische Wille, diese Fähigkeiten zu schaffen - vor allem der
Wille, sie als europäische Fähigkeiten zu schaffen. Eigene Planungskapazitäten bekommt
Europa nicht. Es soll auf die der NATO zurückgreifen, auch wenn dafür der Türkei
erhebliche Zugeständnisse gemacht werden müssen und das Handeln der Europäischen Union
in vielerlei Hinsicht von der Zustimmung der NATO und damit der USA abhängig bleibt.
Sicherheitspolitik und vor allem die Verfügung über militärische Fähigkeiten
verbleiben in der Entscheidungsbefugnis der Nationalstaaten, obwohl dies die
Rationalisierung verhindert und Mehrkosten verursacht.
Auch die Vereinigten Staaten agieren zwiespältig. Sie werden zwar
nicht müde, Europa zu größeren militärischen Anstrengungen und höheren
Militärausgaben aufzufordern. Neue europäische Fähigkeiten sind allerdings nur dann
willkommen, wenn sie keine größere Unabhängigkeit von den USA schaffen. Das jüngste
Beispiel: Die zivil und militärisch nutzbare globale Ortungs- und Navigationsfähigkeit.
Die USA verfügen über GPS. Europa plant mit Galileo ein eigenes System. Seit Monaten
torpedieren die USA den Startschuß für das europäische System durch immer neue,
interessante Forderungen an Galileo: Am 1.Dezember verlangte der stellvertretende
US-Verteidigungsminister, Paul Wolfowitz, Europa möge bei Galileo für die
Verschlüsselung militärischer Navigations- und Ortungsdaten andere Frequenzen nutzen als
die USA dies bei GPS tun. Überrascht fragten sich Beobachter, warum Washington wünscht,
dass Europa andere Standards nutzt als die in der NATO üblichen. Das Argument aus
Washington: Es könne nicht angehen, dass wenn das Europäische System in seiner
Funktion gestört werden müsse das US-System gleich mit gestört werde.
Die Europäische Union wird auch auf mittlere und längere Sicht
militärisch mit den Vereinigten Staaten kaum ernsthaft konkurrieren können. Dies wäre
zudem auch eine politisch fragwürdige Zielsetzung. Es ist daher naheliegend, dass die
Europäische Union auf ihre zivilen Fähigkeiten zum Krisenmanagement einen besonderen
Schwerpunkt legt. Hier hat sie weltweit einzigartige Fähigkeiten in Vorbereitung. In
einem Jahr will die Union beispielsweise in der Lage sein, jederzeit gemeinsam bis zu
5.000 Polizisten oder bis zu 200 Rechtsspezialisten für das Krisenmanagement bereit zu
halten. Von solchen Fähigkeiten könnte jede Friedensmission profitieren.
Vollkommen klar ist, dass gerade nach solchen einzigartigen zivilen
Fähigkeiten eine Nachfrage entstehen könnte, die die europäischen Möglichkeiten weit
übersteigen dürfte. Auch könnte es zu konkurrierenden Anfragen kommen. Was, wenn die
Vereinten Nationen Europa bitten, seine zivilen Kräfte zur Verhinderung des
Zusammenbruchs afrikanischer Gesellschaftsordnungen bereitzustellen und zugleich die
Vereinigten Staaten wünschen, dass Europa diese Kräfte für den Wiederaufbau von Staaten
bereithält, deren Strukturen im Krieg gegen den Terror zerschlagen wurden? Was tun? Wann
handeln und vor allem wo nicht?
Damit wird deutlich: Europa muß gemeinsam durchdenken, unter welchen
Umständen und mit welcher Zielsetzung es seine Ressourcen zum Konfliktmanagement
einsetzen will. Ganz gleich ob es um die zivilen oder die militärischen geht diese
wichtige Debatte steht aus und wird immer dringlicher. Denn Europa kann es sich nicht
leisten, einen der gravierendsten deutschen Fehler aus den vergangenen Jahren zu
wiederholen. Hierzulande wurde absichtlich darauf verzichtet, eine Debatte über die
Kriterien für die Beteiligung der Bundeswehr an Kriseneinsätzen zu führen. Feste
Kriterien könnten, so das Argument aller Bundesregierungen, die Handlungsfreiheit der
Exekutive unzumutbar beschneiden. Das Ergebnis dieses Vorgehens ist ernüchternd: Die
Bundesrepublik schlittert von einem Kriseneinsatz in den nächsten ohne auf diese
Einsätze maßgeblich konzeptionellen und politischen Einfluß nehmen zu können. Einsatz
nach Einsatz wurde beschlossen. Vor allem unter dem Druck der Ereignisse, im Namen der
Bündnissolidarität und als Beweis für die Handlungsfähigkeit der jeweiligen
Regierungen bis an die Grenzen der Belastbarkeit einer unzureichend und zu langsam
reformierten Bundeswehr. Diese steht nunmehr samt ihrem Minister vor dem Offenbarungseid.
Genau dies aber darf sich auf europäischer Ebene nicht wiederholen
weder im zivilen noch im militärischen Bereich. Die Debatte über die Kriterien
dafür, wann Europa Krisenmanagement mit zivilen oder militärischen Mitteln betreibt und
wann nicht, ist dringlicher denn je. Die Vereinigten Staaten verfügen über solche
Kriterien abgeleitet aus ihren selbstdefinierten nationalen Interessen. Unabhängig
davon, ob man mit ihnen übereinstimmt, ihre schlichte Existenz trägt wesentlich zu der
flexibleren und größeren politischen Handlungsfähigkeit der USA in Krisen bei.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische
Sicherheit (BITS).
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