Totgeglaubt und fast vergessen? - Nuklearwaffen in Europavon Otfried Nassauer Die Regierung Bush ist immer wieder für Überraschungen gut. Im Januar schockierte der US-Präsident Freund und Feind, als er die Unterstützung des Terrorismus und die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen als Interventionsgründe nannte und zudem eine "Achse des Bösen" ausmachte. Im März drangen Teile einer geheimen Überprüfung der US-Nuklearpolitik an die Öffentlichkeit. Darin fanden sich Formulierungen, die einen Nuklearwaffeneinsatz gegen nichtstaatliche Akteure wie Terroristen oder nichtnukleare Staaten, die nach Massenvernichtungswaffen streben, als Möglichkeit erscheinen ließen. Dann machte Präsident Bush klar, dass er auch überraschende, präemptive Angriffe nicht ausschließe Angriffe, die verhindern sollen, dass ein staatlicher oder nichtstaatlicher Gegner die USA, deren Streitkräfte oder Verbündete attackieren könnte. "Wenn wir warten, bis solche Bedrohungen voll entstanden sind, dann haben wir zu lange gewartet", so Bush. Hohe Regierungsbeamte prägten dafür den Begriff der "Defensiven Intervention" . Washington will die Möglichkeit zu solchen Schlägen in die neue "Nationale Sicherheitsstrategie" aufnehmen, die im Herbst veröffentlicht werden soll. Atomwaffen, so die Logik der Regierung Bush, sind das "letzte Mittel", zu dessen Einsatz man nur greifen werde, wenn andere Waffen nicht die gewünschte Wirkung erzielen könnten. Ausschließen will man den Einsatz nuklearer Waffen, auch den präemptiven Einsatz, jedenfalls nicht. Der Planungsdirektor im US-Außenministerium, Richard Haass, ließ gar durchblicken, dass die USA an Ideen für ein Konzept, eine Doktrin über die Zitat - "Grenzen der Souveränität" arbeiten. Haass wörtlich: "Wenn eine Regierung ihre Verpflichtungen nicht einhält, dann vergibt sie sich mancher Vorteile der Souveränität, einschließlich des Rechts, innerhalb ihres Territoriums in Ruhe gelassen zu werden. Andere Regierungen, einschließlich der USA, bekommen das Recht zu intervenieren." In der Nato präsentierte der amerikanische Verteidigungsminister Rumsfeld die neuen Ideen erstmals auf der Frühjahrstagung der Allianz Anfang des Monats. Washington wünscht, dass Brüssel mitzieht und die Bündnis-Strategie der amerikanischen anpasst. Langgediente Beobachter in Brüssel sehen "eine höllische Debatte" auf die Allianz zukommen. Bislang hat die NATO amerikanische Vorstellungen, sich die Möglichkeit eines Nuklearwaffeneinsatzes gegen nichtnukleare Staaten oder nichtstaatliche Akteure vorzubehalten, nicht übernommen. Soll sie nun, nach dem 11. September, doch noch offizielle Politik des Bündnisses werden? Vorsicht so war in Brüssel zu hören - taktische Atomwaffen eignen sich nicht für die Terroristenjagd. Und doch hat die Debatte über die künftige Rolle der Atomwaffen begonnen. Bereits das im März in Teilen veröffentlichte Geheimpapier zur Nuklearpolitik Washingtons kündigte an, den Nato-Verteidigungsministern würden Empfehlungen zur künftigen Stationierung konventionell und nuklear einsetzbarer Flugzeuge vorgelegt. Überprüft werde, ob Änderungen an der derzeitigen Stationierung von nuklearfähigen Flugzeugen und nuklearen Waffen erforderlich seien, "um sie an die veränderte Bedrohungsumgebung anzupassen". Entsprechende, geheime Empfehlungen der High Level Group wurden jetzt in Brüssel gebilligt. Ihr Inhalt ist bislang unbekannt. Die Diskussion über die Zukunft der nuklearfähigen Trägerflugzeuge ist brisant. Sechs europäische NATO-Staaten verfügen im Rahmen der nuklearen Teilhabe über die Fähigkeit, im Kriegsfall US-Nuklearwaffen mit ihren Flugzeugen einzusetzen: Holland, Belgien, Italien, Griechenland, die Türkei und Deutschland. Derzeit können theoretisch 360 Nuklearwaffen auf europäischen Luftwaffenstützpunkten gelagert werden. Rechnet man die Reservestützpunkte hinzu, so sind es sogar über 400. Experten gehen jedoch davon aus, dass real nur 150-180 Waffen in Europa gelagert sind. Dabei handelt es sich um Bomben des Typs B 61-Modell 10 wiederverwendete Sprengköpfe der abgerüsteten Pershing-II-Raketen. Alle diese Waffen lagern in speziellen Nuklearwaffengrüften Unterflurmagazinen aus Stahl, die in den Boden der Schutzbauten für die Flugzeuge eingelassen sind. Jedes Magazin kann zwei Waffen aufnehmen. Auf den Stützpunkten der europäischen NATO-Partner sind US-Sondereinheiten für Wartung und Sicherheit der Nuklearwaffen zuständig. In Deutschland wird die Aufgabe der nuklearen Teilhabe vom Jagdbombergeschwader 33 in Büchel wahrgenommen. Dort gibt es 11 Magazine, von denen eines offenbar nur für Trainings- und Ausbildungszwecke genutzt wird. Darüber hinaus dient die US-Luftwaffenbasis Ramstein als zentrales europaweites Nachschubdepot hier gibt es eine Lagerkapazität für mehr als 100 Waffen. Die bei den europäischen NATO-Staaten eingesetzten, nuklearfähigen Flugzeugmuster, F-16, Tornado und A-4, erreichen im nächsten Jahrzehnt zumeist das Ende ihrer Lebensdauer. Die Bundeswehr beschloß im Januar 2001, alle nuklearfähigen Tornados durch die Jagdbomber-Version des Eurofighters zu ersetzen. 2015 soll der Prozeß abgeschlossen sein. Dann sind auch in Büchel Eurofighter stationiert. Dieses Flugzeug ist nicht nuklearfähig. Auch der Joint Strike Fighter, der in etlichen europäischen Staaten die F-16 ablösen soll, wurde bislang nur als konventionelles Flugzeug geplant. Die Nuklearfähigkeit ist aber nachrüstbar. Soll also die "nukleare Teilhabe" doch kein Auslaufmodell werden, sondern im Zeichen von Terror- und Proliferationsbekämpfung auch langfristig aufrecht erhalten werden? Sollen die Nuklearwaffen auch in der NATO zum letzten Mittel gegen Terrorismus und Proliferation werden? Das stellt die europäischen NATO-Partner vor heikle Fragen - insbesondere jene, die wie die Bundesrepublik über die Fähigkeit verfügen, im Rahmen der "nuklearen Teilhabe" mit eigenen Kampfflugzeuge US-Nuklearwaffen im Kriegsfall einzusetzen. Wären sie dazu im Extremfall bereit? Auch wenn der Gegner über keine eigenen Atomwaffen verfügt und keine existenzgefährdende Bedrohung darstellt? Auch wenn ein solcher Einsatz weder durch das Völkerrecht gedeckt, noch mit den Verpflichtungen in Übereinstimmung zu bringen wäre, die sich für nicht-nukleare Nato-Mitglieder aus dem Atomwaffensperrvertrag ergeben? Eine ketzerische Frage taucht auf: Könnte es sein, dass Washington an der nuklearen Teilhabe dieser Tage wieder mehr liegt? Könnte es sein, dass die Regierung Bush sich die Möglichkeit offenhalten will, einen rechtlich nicht gedeckten und politisch höchst umstrittenen Nuklearwaffeneinsatz gegebenenfalls durch die NATO beschließen und durchführen zu lassen? Schon einmal wurde diese spezielle Lesart transatlantischer Lastenteilung ins Spiel gebracht: Als die USA darüber nachdachten, wie man Interventionen ohne UN-Mandat politisch rechtfertigen könnte, entstand im Sommer 1993 ein weitreichendes Argument: Was, wenn die NATO-Staaten, gewichtige Demokratien, gemeinsam ohne UN-Mandat agieren würden? Lange blieb dies eine hypothetische Frage. Doch der Kosovo-Krieg 1999 zeigte, wie schnell aus einer hypothetischen Frage Realität werden kann. Die NATO-Staaten agierten ohne UN-Mandat und teilten sich die Last des Vergehens gegen das Völkerrecht. Heute ist es eine hypothetische Frage, ob die NATO unter Zuhilfenahme der nuklearen Teilhabe je nukleare Waffen gegen einen Staat ohne Atomwaffen oder einen nichtstaatlichen Akteur mit Massenvernichtungswaffen einsetzen würde. Aber aus der Sicht Washingtons wäre nur zu logisch, im Falle eines Falles die Solidarität der Bündnispartner zu suchen.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
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