22. September 2001
Streitkräfte und Strategien, NDR info

 

Vertrauen jetzt nur noch in die eigene militärische Stärke?
USA stellen immer mehr Rüstungskontroll-Verträge auf den Prüfstand.

 von Otfried Nassauer  

Colin S. Gray ist ein konservativer Stratege und wichtiger Vordenker amerikanischer Politik. Er hält Rüstungskontrolle für einen "nichttödlichen Virus, der unausrottbar die Politik befallen" habe. Rüstungskontrolle müsse fehlschlagen, weil nicht Waffen, sondern Politik über Krieg und Frieden entscheiden, weil Rüstungskontrolle keine Stabilität schaffe, ihre positiven Wirkungen wie theologische Dogmen von der politischen Klasse lediglich geglaubt würden. Rüstungskontrolle führe dann zu wirksamen Rüstungsbeschränkungen, wenn die beteiligten Staaten hinreichendes Vertrauen zueinander hätten, also Rüstungsbeschränkungen gar nicht zwingend erforderlich seien. Zwischen verfeindeten Staaten aber sei effektive Rüstungskontrolle dagegen so gut wie unmöglich. Rüstungskontrolle schade bestenfalls nicht, aber wirklich nützlich sei sie erst recht nicht. Nachzulesen sind diese Thesen in Gray’s 1992 erschienenem Buch "Das Kartenhaus – Warum Rüstungskontrolle scheitern muß".

Colin S. Gray ist heute – zusammen mit seinem langjährigen Freund Keith B. Payne vom National Institute for Public Policy - einer der wichtigsten Vordenker der Politik der neuen US-Regierung. Die beiden haben das Gedankengebäude vom "zweiten Zeitalter der Abschreckung" entworfen und mit ihren Schriften wichtige Mitglieder der neuen Administration beeinflußt. Keith Payne ist einer der engsten Berater von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld.

Richard Haass, der Politische Direktor im amerikanischen Außenministerium, beschreibt die Rüstungskontrollpolitik der neuen Regierung als "Multilateralismus a la carte". Zu jedem einzelnen Rüstungskontrollvertrag werde man sich eine Meinung bilden und diese umsetzen. Werfen wir also einen Blick auf das Zwischenergebnis der bisherigen Einzelfallbetrachtungen. Binnen sechs Monaten hat die neue Administration eine beachtliche Schneise der Verwüstung in der rüstungskontrollpolitischen Landschaft hinterlassen – a la carte.

Der ABM Vertrag soll möglichst gemeinsam mit Russland aufgegeben werden, damit die amerikanischen Raketenabwehrpläne verwirklicht werden können. Der START-Prozess, bei dem Moskau und Washington bisher vertragliche Vereinbarungen über die Reduzierung ihrer Nuklearwaffen angestrebt haben, soll durch ein Konzept wechselseitiger einseitiger Abrüstungsschritte ersetzt werden. Diese sollen nur noch politisch nicht aber rechtlich bindend sein, - bleiben also umkehrbar. Der Vertrag über ein umfassendes Verbot von Kernwaffentests soll nicht ratifiziert werden. John Bolton, der Abrüstungsbeauftragte Washingtons und ein erklärter Gegner von Rüstungskontrolle, ließ sogar prüfen, ob die Ratifizierungsvorlage im Senat wieder zurückgezogen werden kann. Zur Zeit wird gestritten, ob die USA an der geplanten Konferenz über das Inkrafttreten des Vertrages überhaupt teilnehmen sollen. Das für den Herbst dieses Jahres geplante Verifikationsabkommen zur B-Waffen-Konvention wird von der neuen Regierung abgelehnt und ist damit vorerst geplatzt. Das Versprechen der Regierung Clinton, bis 2006 auf Anti-Personenminen zu verzichten und der Konvention von Ottawa beizutreten, wurde widerrufen. Neuen Regelungen mit dem Ziel, den illegalen Handel mit Kleinwaffen einzudämmen, haben sich die Vereinigten Staaten vehement widersetzt. Auch künftig werden die USA den Internationalen Strafgerichtshof ablehnen.

Einige weitere Entscheidungen sind bereits erkennbar. Der Weltraumvertrag – zusammen mit dem ABM-Vertrag - ein wichtiges Hindernis für die geplante Weltraumrüstung der Vereinigten Staaten, dürfte ebenfalls in die Kritik kommen. Gleiches könnte für den INF-Vertrag gelten. Ihm sagen Kritiker nach, dass er allein die USA und Russland aber keinen anderen Staat zwingt, auf konventionelle Mittelstreckenraketen mit 500-5.500 km Reichweite zu verzichten.

Richard Perle, ein wichtiger Berater von US-Präsident Bush, machte deutlich, dass sich Washington aufgrund seiner Sonderrolle in der Welt nicht immer an die gleichen rüstungskontrollpolitischen Regeln halten könne wie andere: "Es gibt ein Argument für das, was manchmal als unvernünftiger amerikanischer Anspruch auf eine Ausnahmerolle verspottet wird", meinte Perle. Man könne nicht sagen, die USA seien die einzige Supermacht und im gleichen Atemzug fortfahren, die USA seien wie jeder andere Staat.

Es liegt ganz in dieser Logik, dass zwei rüstungskontrollpolitische Regime bislang nicht nur vor Kritik verschont blieben, sondern explizit auch die Unterstützung der neuen Regierung finden: der nukleare Nichtverbreitungsvertrag und das Regime zur Kontrolle von Raketentechnologie, MTCR. Beiden ist nicht nur gemeinsam, dass sie die Proliferation verhindern sollen. Die Vereinbarungen unterscheiden auch zwischen jenen Staaten , die bestimmte Waffen legitimerweise besitzen und jenen, die keinen Zugang zu diesen Waffen haben sollten.

Das vielfache Nein zur alten und neuen Rüstungskontrolle ist kein prinzipielles Nein zu weiterer Abrüstung. Getreu dem Grundsatz: Ein qualitativer Rüstungswettlauf belastet Volkswirtschaften weniger als ein quantitativer und dient dem, der technologische Vorsprünge hat, bejaht die in Hochtechnologie vernarrte Bush-Administration die "Abrüstung zwecks Umrüstung". Mit einseitigen Schritten, nicht rechtlich kodifiziert und damit umkehrbar, soll die überflüssige nukleare Hochrüstung des Kalten Krieges abgebaut werden. Nachgedacht wird über einen Abbau der strategischen Atomwaffen bis auf 1500, 1000 oder eine noch geringere Zahl. Auch andere Rüstungsdinosaurier des Kalten Krieges sollen vertragsunabhängig reduziert werden: Panzerdivisionen, Flugzeugträger und Kampfflugzeuge.

Europa steht diesem Paradigmenwechsel scheinbar hilflos gegenüber – zumindest agiert es in erster Linie status quo orientiert und defensiv. Gebetsmühlenartig wird wiederholt – das rüstungskontrollpolitisch Erreichte müsse bewahrt werden. Das von der Bush-Administration angestrebte, neue strategische Rahmenwerk der Sicherheitspolitik müsse mindestens soviel Stabilität garantieren wie das bisherige. Übersehen wird dabei: Der Angriff der amerikanischen Rüstungskontrollkritiker reicht weiter als sie selbst argumentieren. Er zielt einerseits auf eine Ausweitung amerikanischer Handlungsfreiheit. Andererseits richtet er sich gegen die aus internationalen Verträgen resultierende Einbindung und Bindungswirkung für den Nationalstaat, überträgt ein innenpolitisches Credo der republikanischen Rechten auf die Außenpolitik: Der Staat soll nur soviel regeln wie zwingend erforderlich, die Freiheit des Einzelnen – hier des Nationalstaates – nur da beschränken, wo dies unvermeidlich ist. Alles andere soll dem freien Spiel der Kräfte überlassen werden. Das aber – also der Angriff auf die Verrechtlichung der internationalen Beziehungen – ist ein Angriff auf die Grundlagen und Grundvoraussetzungen der Lieblingsidee Joschka Fischers – die Weiterentwicklung der europäischen Integration.

Unklar ist derzeit, wie schnell und wie radikal sich die Regierung Bush aus den bestehenden vertraglichen Verpflichtungen lösen kann. Denn in Washington ist eine interessante verfassungsrechtliche Debatte ausgebrochen. Kann sich die Exekutive ohne Zustimmung der Legislative aus rechtlichen Bindungen lösen, für deren Inkrafttreten eine Zweidrittelmehrheit des US-Senates erforderlich war? Da dies auch eine Frage der Machtverteilung zwischen Administration und Kongress ist, muss sie grundsätzlich gelöst werden.

Kaum absehbar ist zur Zeit, wie sich die furchtbaren Terroranschläge der vergangen Woche auf die weiteren Entscheidungsprozesse auswirken werden. Sie werden gewiss zu Verzögerungen führen. Völlig unklar ist dagegen, ob sie die unilateralen Tendenzen in der Politik Washingtons verstärken werden oder eher zu der Erkenntnis beitragen, dass die Vereinigten Staaten, trotz ihrer großen militärischen Überlegenheit, die Kooperation vieler anderer Staaten brauchen und deshalb deren Interessen wieder stärker berücksichtigen müssen.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).