Streitkräfte und Strategien - NDR info
05. November 2005


Weichenstellung für die Unabhängigkeit?

Verhandlungen über den Status des Kosovo

von Dr. Alexander Neu

Sechs Jahre nach dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien entschied der UN-Sicherheitsrat im vergangenen Monat, Verhandlungen zur Klärung des endgültigen rechtlichen Status der serbischen Provinz aufzunehmen.

Damit könnte erneut der Geist des Berliner Kongresses über dem Balkan schweben. Schon einmal, im Jahre 1878, versuchten die Großmächte, die Zukunft der Balkanvölker von außen zu bestimmen. Über das Schicksal der zu Serbien gehörenden Provinz Kosovo verhandeln nicht nur die unmittelbaren Kontrahenten, Serbien und die Kosovo-Albaner, sondern auch die sogenannte Balkan-Kontaktgruppe.

Die Kontaktgruppe ist die scheinbar einflussreiche Kraft bei den anstehenden Verhandlungen. Sie besteht aus Frankreich, Russland, Deutschland, Großbritannien, Italien und den USA. Die Balkan-Kontaktgruppe ist eine Fortführung der Bosnien-Kontaktgruppe, die sich während des Bosnien-Konfliktes Anfang der 90er Jahre gebildet hatte. Mit dem Ausbruch der Kosovo-Krise 1998 wurde aus dieser Gruppe die Balkan-Kontaktgruppe. Als externer Akteur erhebt sie einen Regulierungs- und Gestaltungsanspruch für den gesamten West-Balkan ähnlich wie schon die europäischen Großmächte auf dem Berliner Kongress 1878. Der UN-Sicherheitsrat soll schließlich das letzte Wort haben und die angestrebte Lösung völkerrechtlich absegnen.

Gegenstand der Verhandlungen ist die Frage, ob die serbische Provinz Kosovo künftig ein unabhängiger Staat werden soll oder aber einen weitreichenden Autonomiestatus innerhalb Serbiens erhalten könnte. Während die Kosovo-albanische Seite die Unabhängigkeit fordert, besteht Serbien auf einer Autonomielösung innerhalb der bestehenden Grenzen des serbischen Staates.

Serbien argumentiert mit dem historischen sowie dem verfassungs- und völkerrechtlichen Anspruch auf sein Territorium Kosovo. Tatsächlich erlauben es die völkerrechtlichen Regeln nicht, einen Staat dazu zu zwingen, gegen seinen Willen auf einen Teil seines Territoriums zu verzichten, wenn den darin lebenden Minderheiten ein ausreichendes Maß an politischer Autonomie garantiert ist. Genau diesen Grundsatz bestätigt die UN-Sicherheitsratsresolution 1244, mit der der Krieg im Juni 1999 beendet wurde. Das Kosovo solle, so wörtlich "mehr als Autonomie, aber weniger als die Unabhängigkeit" erhalten.

Die Kosovo-Albaner hingegen pochen auf die vollständige staatliche Unabhängigkeit. Sie verweisen darauf, dass die neue Staatenunion Serbien-Montenegro nicht mehr die Bundesrepublik Jugoslawien sei. Die angestrebte Unabhängigkeit wird zur Schicksalsfrage des albanischen Volkes gemacht. So gab der Präsident des Parlaments des Kosovo wörtlich zu verstehen: "Die Albaner können weder lebend noch tot etwas anderes als die Unabhängigkeit akzeptieren." Gedroht wird mit einer Destabilisierung des Balkans, falls die Unabhängigkeit des Kosovo nicht kommen sollte. Erste paramilitärische albanische Einheiten sind bereits wieder im Kosovo unterwegs, um eine entsprechende Drohkulisse aufzubauen.

Die Positionen der Großmächte liegen uneinheitlich zwischen den Forderungen der serbischen und Kosovo-albanischen Konfliktparteien. Während die USA für die Kosovo-Albaner Verständnis zeigen, unterstützen die Vetomächte Russland und China die Serben. Letztlich müssen sich die UN-Sicherheitsrats-Mitglieder einigen. Denn eine einseitige völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo durch die USA, wie Anfang der 90er Jahre von Deutschland gegenüber Slowenien und Kroatien praktiziert, wäre diesmal ein völkerrechtliches Desaster.

Was auch immer das Ergebnis der Verhandlungen sein wird: Die Festlegung eines End-Status für das Kosovo hat weit reichende Folgen. Bliebe das Kosovo weiterhin bei Serbien würde zwar dem internationalen Recht genüge getan. Auch könnte Serbien ein zentrales Element seiner Identität wahren. Darüber hinaus wäre es in der Lage, die serbische Minderheit im Kosovo und die kulturellen und historischen Objekte vor Übergriffen radikaler Kosovo-Albaner zu schützen, eine Aufgabe, die die internationale Staatengemeinschaft in den vergangenen Jahren nur unzureichend wahrnahm. Zugleich aber ist kaum vorstellbar, dass die Kosovo-Albaner diese Lösung akzeptieren würden. Jenseits aller politischen Wünsche und rechtlichen Aspekte muss sich Belgrad daher auch die Frage stellen, ob es zwei Millionen unwillige Bürger mit entsprechendem strukturellem Aufwand wirklich finanzieren will.

Sollte es allerdings zu einer Unabhängigkeit des Kosovo kommen, so könnte dies durchaus zu einer Stabilisierung des serbisch-albanischen Verhältnisses führen und somit mehr Sicherheit für die Region bedeuten. Eine Entlassung in die Unabhängigkeit könnte aber auch genau das Gegenteil bewirken und eine weitere Destabilisierung mit sich bringen. Weil die albanischen Minderheiten vor allem in Makedonien, Südserbien und Montenegro ermuntert würden, Anschlussforderungen zu stellen.

Doch die Auswirkungen würden weiterreichen: Warum darf Serbien mit der Abtrennung des Kosovo geteilt werden, Bosnien aber nicht? Die territoriale Integrität Bosniens war und ist die Handlungsmaxime der internationalen Staatengemeinschaft, wenn es darum geht, ein Zusammengehen der bosnischen Republik Srpska mit Serbien als politische Option auszuschließen. Durch eine Teilung Serbiens würde das Dayton-Abkommen für Bosnien ausgehebelt. Selbst die bosnisch-kroatische Föderation könnte erneut in Frage gestellt werden.

Jedenfalls wäre durch die Unabhängigkeit des Kosovo ein weiterer rechtlicher Präzedenzfall für Sezessionen geschaffen. Es ginge dabei nicht allein um den Austritt von Provinzen oder Landesteilen aus einem Bundesstaat. Der Präzedenzfall bestünde dann auch für ethnische Minderheiten in einem Staat, die in Provinzen oder Kommunen die Mehrheit darstellen. Hier offenbaren sich die Schwächen des westlichen Verständnisses vom Selbstbestimmungsrecht – ein Verständnis, das widersprüchlich und nicht eindeutig ist.

Doch unabhängig von den rechtlichen und territorialen Aspekten, ist die Frage zu stellen, ob ein unabhängiges Kosovo überlebensfähig wäre. Denn staatliche Unabhängigkeit bedeutet nicht nur politisch unabhängig von einem anderen Staat zu sein. Es bedeutet vor allem, die Fähigkeit zur Staatlichkeit überhaupt zu besitzen, also wirklich auf den eigenen Füßen stehen zu können. Dazu gehört auch der staatliche Schutz der örtlichen Minderheiten. Die serbische Minderheit im Kosovo konnte bislang nicht einmal die NATO effektiv schützen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass ein unabhängiges Kosovo diese Aufgabe besser erfüllen würde.

Der jüngste Bericht des bisherigen UN-Sonderbeauftragten Kai Eide spricht von einer verheerenden politischen, sozialen und ökonomischen Situation im Kosovo. Demnach kann sich das Kosovo als unabhängiger Staat auf absehbare Zeit nicht selbst tragen bzw. finanzieren. Nach sechs Jahren UN-Verwaltung sind zwar viele rechtsstaatliche Strukturen und Institutionen geschaffen worden. Doch mit Leben wurden sie nicht gefüllt. Zwar hat man viele Gesetze erlassen. Allerdings werden sie nicht oder nur unzureichend umgesetzt. Auch der Versuch der internationalen Verwaltung, ein effektives Steuersystem zu installieren, scheiterte bislang. Das Kosovo kann nur als Empfängerstaat mit erheblichen finanziellen Subventionen durch den Westen überleben. Mit anderen Worten: Das Kosovo wäre ein gescheiterter Staat, noch bevor es ein Staat würde. Diese Fragen müssen sich vor allem die EU-Mitglieder der Balkan-Kontaktgruppe, Großbritannien, Italien und Deutschland stellen. Denn es zeichnet sich zunehmend eine Verlagerung der internationalen Verantwortung für das Kosovo von den Vereinten Nationen und der NATO hin zur EU ab. Schließlich hat man sich in der Europäischen Union darauf verständigt, den westlichen Balkan-Ländern eine Perspektive für eine EU-Vollmitgliedschaft zu eröffnen. Wie das angesichts der Situation im Kosovo unter Berücksichtigung der in den 90er Jahren formulierten Aufnahmeregeln, den sogenannten Kopenhagener Kriterien, für Beitrittskandidaten vonstatten gehen soll, bleibt allerdings offen.


 

ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim BITS und als freier Journalist tätig.