Weichenstellung für die Unabhängigkeit?
Verhandlungen über den Status des Kosovo
von Dr. Alexander Neu
Sechs Jahre nach dem Krieg der NATO gegen Jugoslawien entschied der UN-Sicherheitsrat
im vergangenen Monat, Verhandlungen zur Klärung des endgültigen rechtlichen Status der
serbischen Provinz aufzunehmen.
Damit könnte erneut der Geist des Berliner Kongresses über dem Balkan schweben. Schon
einmal, im Jahre 1878, versuchten die Großmächte, die Zukunft der Balkanvölker von
außen zu bestimmen. Über das Schicksal der zu Serbien gehörenden Provinz Kosovo
verhandeln nicht nur die unmittelbaren Kontrahenten, Serbien und die Kosovo-Albaner,
sondern auch die sogenannte Balkan-Kontaktgruppe.
Die Kontaktgruppe ist die scheinbar einflussreiche Kraft bei den anstehenden
Verhandlungen. Sie besteht aus Frankreich, Russland, Deutschland, Großbritannien, Italien
und den USA. Die Balkan-Kontaktgruppe ist eine Fortführung der Bosnien-Kontaktgruppe, die
sich während des Bosnien-Konfliktes Anfang der 90er Jahre gebildet hatte. Mit dem
Ausbruch der Kosovo-Krise 1998 wurde aus dieser Gruppe die Balkan-Kontaktgruppe. Als
externer Akteur erhebt sie einen Regulierungs- und Gestaltungsanspruch für den gesamten
West-Balkan ähnlich wie schon die europäischen Großmächte auf dem Berliner Kongress
1878. Der UN-Sicherheitsrat soll schließlich das letzte Wort haben und die angestrebte
Lösung völkerrechtlich absegnen.
Gegenstand der Verhandlungen ist die Frage, ob die serbische Provinz Kosovo künftig
ein unabhängiger Staat werden soll oder aber einen weitreichenden Autonomiestatus
innerhalb Serbiens erhalten könnte. Während die Kosovo-albanische Seite die
Unabhängigkeit fordert, besteht Serbien auf einer Autonomielösung innerhalb der
bestehenden Grenzen des serbischen Staates.
Serbien argumentiert mit dem historischen sowie dem verfassungs- und völkerrechtlichen
Anspruch auf sein Territorium Kosovo. Tatsächlich erlauben es die völkerrechtlichen
Regeln nicht, einen Staat dazu zu zwingen, gegen seinen Willen auf einen Teil seines
Territoriums zu verzichten, wenn den darin lebenden Minderheiten ein ausreichendes Maß an
politischer Autonomie garantiert ist. Genau diesen Grundsatz bestätigt die
UN-Sicherheitsratsresolution 1244, mit der der Krieg im Juni 1999 beendet wurde. Das
Kosovo solle, so wörtlich "mehr als Autonomie, aber weniger als die
Unabhängigkeit" erhalten.
Die Kosovo-Albaner hingegen pochen auf die vollständige staatliche Unabhängigkeit.
Sie verweisen darauf, dass die neue Staatenunion Serbien-Montenegro nicht mehr die
Bundesrepublik Jugoslawien sei. Die angestrebte Unabhängigkeit wird zur Schicksalsfrage
des albanischen Volkes gemacht. So gab der Präsident des Parlaments des Kosovo wörtlich
zu verstehen: "Die Albaner können weder lebend noch tot etwas anderes als die
Unabhängigkeit akzeptieren." Gedroht wird mit einer Destabilisierung des Balkans,
falls die Unabhängigkeit des Kosovo nicht kommen sollte. Erste paramilitärische
albanische Einheiten sind bereits wieder im Kosovo unterwegs, um eine entsprechende
Drohkulisse aufzubauen.
Die Positionen der Großmächte liegen uneinheitlich zwischen den Forderungen der
serbischen und Kosovo-albanischen Konfliktparteien. Während die USA für die
Kosovo-Albaner Verständnis zeigen, unterstützen die Vetomächte Russland und China die
Serben. Letztlich müssen sich die UN-Sicherheitsrats-Mitglieder einigen. Denn eine
einseitige völkerrechtliche Anerkennung des Kosovo durch die USA, wie Anfang der 90er
Jahre von Deutschland gegenüber Slowenien und Kroatien praktiziert, wäre diesmal ein
völkerrechtliches Desaster.
Was auch immer das Ergebnis der Verhandlungen sein wird: Die Festlegung eines
End-Status für das Kosovo hat weit reichende Folgen. Bliebe das Kosovo weiterhin bei
Serbien würde zwar dem internationalen Recht genüge getan. Auch könnte Serbien ein
zentrales Element seiner Identität wahren. Darüber hinaus wäre es in der Lage, die
serbische Minderheit im Kosovo und die kulturellen und historischen Objekte vor
Übergriffen radikaler Kosovo-Albaner zu schützen, eine Aufgabe, die die internationale
Staatengemeinschaft in den vergangenen Jahren nur unzureichend wahrnahm. Zugleich aber ist
kaum vorstellbar, dass die Kosovo-Albaner diese Lösung akzeptieren würden. Jenseits
aller politischen Wünsche und rechtlichen Aspekte muss sich Belgrad daher auch die Frage
stellen, ob es zwei Millionen unwillige Bürger mit entsprechendem strukturellem Aufwand
wirklich finanzieren will.
Sollte es allerdings zu einer Unabhängigkeit des Kosovo kommen, so könnte dies
durchaus zu einer Stabilisierung des serbisch-albanischen Verhältnisses führen und somit
mehr Sicherheit für die Region bedeuten. Eine Entlassung in die Unabhängigkeit könnte
aber auch genau das Gegenteil bewirken und eine weitere Destabilisierung mit sich bringen.
Weil die albanischen Minderheiten vor allem in Makedonien, Südserbien und Montenegro
ermuntert würden, Anschlussforderungen zu stellen.
Doch die Auswirkungen würden weiterreichen: Warum darf Serbien mit der Abtrennung des
Kosovo geteilt werden, Bosnien aber nicht? Die territoriale Integrität Bosniens war und
ist die Handlungsmaxime der internationalen Staatengemeinschaft, wenn es darum geht, ein
Zusammengehen der bosnischen Republik Srpska mit Serbien als politische Option
auszuschließen. Durch eine Teilung Serbiens würde das Dayton-Abkommen für Bosnien
ausgehebelt. Selbst die bosnisch-kroatische Föderation könnte erneut in Frage gestellt
werden.
Jedenfalls wäre durch die Unabhängigkeit des Kosovo ein weiterer rechtlicher
Präzedenzfall für Sezessionen geschaffen. Es ginge dabei nicht allein um den Austritt
von Provinzen oder Landesteilen aus einem Bundesstaat. Der Präzedenzfall bestünde dann
auch für ethnische Minderheiten in einem Staat, die in Provinzen oder Kommunen die
Mehrheit darstellen. Hier offenbaren sich die Schwächen des westlichen Verständnisses
vom Selbstbestimmungsrecht ein Verständnis, das widersprüchlich und nicht
eindeutig ist.
Doch unabhängig von den rechtlichen und territorialen Aspekten, ist die Frage zu
stellen, ob ein unabhängiges Kosovo überlebensfähig wäre. Denn staatliche
Unabhängigkeit bedeutet nicht nur politisch unabhängig von einem anderen Staat zu sein.
Es bedeutet vor allem, die Fähigkeit zur Staatlichkeit überhaupt zu besitzen, also
wirklich auf den eigenen Füßen stehen zu können. Dazu gehört auch der staatliche
Schutz der örtlichen Minderheiten. Die serbische Minderheit im Kosovo konnte bislang
nicht einmal die NATO effektiv schützen. Es wäre eine Illusion zu glauben, dass ein
unabhängiges Kosovo diese Aufgabe besser erfüllen würde.
Der jüngste Bericht des bisherigen UN-Sonderbeauftragten Kai Eide spricht von einer
verheerenden politischen, sozialen und ökonomischen Situation im Kosovo. Demnach kann
sich das Kosovo als unabhängiger Staat auf absehbare Zeit nicht selbst tragen bzw.
finanzieren. Nach sechs Jahren UN-Verwaltung sind zwar viele rechtsstaatliche Strukturen
und Institutionen geschaffen worden. Doch mit Leben wurden sie nicht gefüllt. Zwar hat
man viele Gesetze erlassen. Allerdings werden sie nicht oder nur unzureichend umgesetzt.
Auch der Versuch der internationalen Verwaltung, ein effektives Steuersystem zu
installieren, scheiterte bislang. Das Kosovo kann nur als Empfängerstaat mit erheblichen
finanziellen Subventionen durch den Westen überleben. Mit anderen Worten: Das Kosovo
wäre ein gescheiterter Staat, noch bevor es ein Staat würde. Diese Fragen müssen sich
vor allem die EU-Mitglieder der Balkan-Kontaktgruppe, Großbritannien, Italien und
Deutschland stellen. Denn es zeichnet sich zunehmend eine Verlagerung der internationalen
Verantwortung für das Kosovo von den Vereinten Nationen und der NATO hin zur EU ab.
Schließlich hat man sich in der Europäischen Union darauf verständigt, den westlichen
Balkan-Ländern eine Perspektive für eine EU-Vollmitgliedschaft zu eröffnen. Wie das
angesichts der Situation im Kosovo unter Berücksichtigung der in den 90er Jahren
formulierten Aufnahmeregeln, den sogenannten Kopenhagener Kriterien, für
Beitrittskandidaten vonstatten gehen soll, bleibt allerdings offen.
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter beim BITS und als freier Journalist tätig.
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