Streitkräfte und Strategien - NDR info
23. August 2014


Die NATO vor einer Neuausrichtung? 

Der Gipfel in Wales soll Konsequenzen aus der Ukraine-Krise ziehen

von Otfried Nassauer

Gut zwei Wochen sind es noch bis zum nächsten NATO-Gipfel. Dort geht es um die künftigen Schwerpunkte der Allianz. Was kommt nach dem jahrelangen Einsatz in Afghanistan? Wie geht es in der Ukraine-Krise weiter? Wie wird das Militärbündnis auf die Ängste der neuen Mitglieder an seinem östlichen Rand reagieren? Der scheidende NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, versucht seit Monaten, die Richtung vorzugeben:

O-Ton  Rasmussen 
„Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...) Die größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir tun.“

Schwerpunkt soll also die Bündnisverteidigung gegen eine Bedrohung aus Russland sein. Die NATO soll mehr Präsenz und ein stärkeres militärisches Engagement in Polen, den  baltischen Republiken und zum Beispiel in Rumänien zeigen.

Ein ebenso einfaches wie altes Rezept: Die NATO würde ihren Schwerpunkt wie im Kalten Krieg auf die kollektive Verteidigung legen und den Mitgliedern vor allem Sicherheit vor Russland garantieren. Das ergibt nach den umstrittenen Auslandseinsätzen wieder einen größeren gemeinsamen Nenner, fördert den inneren Zusammenhalt und garantiert den USA Einfluss und die Führungsrolle im Bündnis. Eine solche Entwicklung läge auf einer Linie mit den Beschlüssen der letzten beiden NATO-Gipfel. Beide betonten, zentrale Aufgabe der Allianz sei die Verteidigung des Bündnisgebietes.

Doch dieses scheinbar einfache Rezept könnte sich auch als falsch erweisen. Wird Russland vom potenziellen Kooperationspartner wieder zum potenziellen Gegner, so wäre dies eine Grundsatzentscheidung mit längerfristigen Folgewirkungen – für Russland, für Europa für die USA und für die weltwirtschaftliche Entwicklung. Sicherheitspolitik in Europa würde dann wieder durch ein Gegeneinander und nicht mehr von einem potenziellen Miteinander zum gegenseitigen Vorteil bestimmt.

Eine solch gravierende Trendwende scheint derzeit möglich, obwohl sie dem wohlverstandenen Eigeninteresse der meisten Beteiligten zuwiderliefe. Der Umgang mit der Ukraine-Krise ähnelt nicht – wie oft behauptet - der von Mißverständnissen geprägten Vorgeschichte des 1.Weltkrieges, sondern eher den Zeiten der Kubakrise. Damals eskalierten die USA und die Sowjetunion den Konflikt unnachgiebig und ohne Blick für die Interessenslage des jeweils anderen. Die Entwicklung führte an den Rand eines globalen Atomkrieges, der nur aufgrund glücklicher Umstände verhindert werden konnte. So weit sind wir derzeit noch nicht. Aber gemeinsam ist beiden Krisen der weitgehende Verzicht auf  die Berücksichtigung der Interessen des jeweils anderen und vor allem auf  eine politische Eskalationskontrolle, die auf Kriegsverhinderung zielt.

Der Westen fragt sich heute angesichts der Ukrainekrise nicht, mit welchen Fehlern oder Fehleinschätzungen er zu dieser Krise aktiv beigetragen hat. Etliche NATO-Mitglieder sehen die Krise vielmehr als Chance, die Ukraine endgültig aus der Einflusssphäre Moskaus herauszulösen. Um dies zu erreichen, wird Wladimir Putin als autoritär und imperial agierender Herrscher portraitiert, der letztlich die alleinige Verantwortung für die Eskalation der Krise und das Handeln der prorussischen Separatisten trägt. Als einer, der  möglicherweise sogar die Chance sucht, Russland nach der Krim auch noch die östliche Ukraine einzuverleiben. Geflissentlich übersehen wird dabei, dass ein solcher Schritt aus wirtschaftlichen und politischen Gründen gar nicht in Moskaus Interesse liegen kann. Übersehen wird auch, dass Putin auf die in der Ukraine aktiven russischen Nationalisten und Freischärler zwar einen gewissen Druck ausüben, ihnen aber keine Befehle erteilen kann.

Zudem konfrontiert man Moskau mit widersprüchlichen Forderungen. Der Abzug russischer Soldaten von der ukrainischen Grenze und eine wirksame Unterbindung des militärischen Nachschubs für die Separatisten in der Ukraine schließen sich gegenseitig einfach aus.

Schließlich wird die politische Analyse und Interessenslage Moskau weitgehend unterschlagen. Dort sieht man die Zusammenarbeit mit dem Westen  in den letzten beiden Jahrzehnten als eine Geschichte der gebrochenen Versprechen. Der Westen habe immer nur ein Interesse an Russlands Einlenken gezeigt, nie aber ein Verständnis für dessen berechtigte Interessen. Bis heute fehlen in der Ukrainekrise zudem Lösungsvorschläge des Westens, die Moskau einen Ausweg aus der Krise ohne Gesichtsverlust ermöglichen würden. Also geht die Krise weiter und droht auch weiter zu eskalieren. Wladimir Putin kann es sich innenpolitisch nicht leisten, westlichen Forderungen bedingungslos nachzukommen. Es wäre der Anfang vom Ende seiner Regierungszeit. Der NATO-Generalsekretär sieht das ganz anders:  

O-Ton Rasmussen
Wir haben in den letzten 20 Jahren viel getan, um konstruktive Kooperation mit Russland zu entwickeln. Weil wir glauben dass ein positives Engegement  mit Russland der richtige Weg nach vorne ist;  aber nur um zu entdecken, dass Russlannd das ganz anders sieht. Wenn sie die russische Militärdoktrin lesen – sie sehen die NATO nicht als Partner, sondern als Gegner.“

Die Ukraine-Krise als rein russisches Problem – davon  mag  sich der Westen kurzfristige Vorteile versprechen. Langfristig ist es nicht im Interesse der meisten Konfliktparteien. Vor allem in Europa. Das zeigt eine andere aktuelle Krise: Im Irak wird immer deutlicher, dass auf einen willkürlich vom Zaun gebrochenen Krieg der USA gegen das Regime Saddam Husseins ein gescheiterter Wiederaufbau der staatlichen Strukturen des Landes gefolgt ist. Der Irak wird derzeit zum scheiternden und vielleicht zerbrechenden Staat. Jüngste Folge ist das Entstehen einer grenzüberschreitend militärisch erfolgreichen agierenden Terrorbande namens ISIS oder Islamischer Staat. Diese bricht  Widerstände mit brutaler Gewalt, rottet Andersgläubige aus oder zwingt sie zur Flucht. Möglicherweise können  die Dschihadisten nicht durch regionale Kräfte gestoppt werden können, sondern letztlich nur durch ein internationales militärisches Eingreifen. Russland hat im Blick auf die Bekämpfung solcher radikalislamischer Kräfte ähnliche Interessen wie der Westen. Aber stünde es dafür noch als Partner zur Verfügung? Und weiter: Wäre die NATO im Irak oder in Syrien noch militärisch handlungsfähig, wenn sie ihre militärischen Fähigkeiten wieder primär an der kollektiven Verteidigung gegen Russland ausrichtet? Mit der Türkei grenzt auch ein NATO-Land an das Konfliktgebiet.

Schließlich sind noch bei  einem weiteren Punkt Zweifel angebracht: Die Hoffnung, die europäischen NATO-Staaten würden angesichts einer wachsenden Konfrontation mit Russland bald wieder mehr Geld in ihre militärischen Fähigkeiten investieren, dürfte auf Sand gebaut sein. Das aktuelle Ziel, jedes NATO-Land solle mindestens zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung dafür aufwenden, ist ebenso unrealistisch wie die Zielmarke von drei Prozent während des Kalten Krieges. Dies gilt umso mehr, wenn die Volkswirtschaften in Europa beginnen, unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der verschärften Konfrontation mit Russland zu leiden. Die Energie- und Rohstoffversorgung wird bei einer Umstrukturierung teurer; mit Lieferungen von Technologie und landwirtschaftlichen Produkten nach Russland lässt sich weniger Geld verdienen. Noch einmal NATO-Generalsekretär Rasmussen im Juli in Washington:

O-Ton Rasmussen
„Bei unserem Gipfel in Wales erwarte ich, dass alle Führer der Allianz  sich zu einem Kurswechsle bei den Verteidsigungsausgaben verpflichten, deren Absenkung zu beenden und sich zu konkretem Handeln zu verpflichten.“


Was würde eine solche Neuausrichtung für die NATO selbst bedeuten?  Das Bündnis würde von den USA noch abhängiger  als es bereits ist. Das kann auf Dauer nicht gut gehen, denn eine solche Entwicklung trägt dazu bei, dass der Weg zu einer stärkeren sicherheitspolitischen Zusammenarbeit und Integration auch im westlichen Europa blockiert wird. Der Westen bliebe hinter seinen Möglichkeiten zurück. Mehr noch: Dies träfe langerfristig auch die NATO. Sie würde weiter an Handlungsfähigkeit verlieren. Das „erfolgeichste Militärbündnis der Geschichte“ droht 20 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges an seiner vorgeblich wichtigsten Aufgabe zu scheitern: Den Frieden zu erhalten.   



 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS