Die NATO vor einer Neuausrichtung?
Der Gipfel in Wales soll Konsequenzen aus der
Ukraine-Krise ziehen
von Otfried Nassauer
Gut zwei Wochen sind es noch bis zum nächsten
NATO-Gipfel. Dort geht es um die künftigen Schwerpunkte der
Allianz. Was kommt nach dem jahrelangen Einsatz in Afghanistan? Wie
geht es in der Ukraine-Krise weiter? Wie wird das
Militärbündnis auf die Ängste der neuen
Mitglieder an seinem östlichen Rand reagieren? Der scheidende
NATO-Generalsekretär, Anders Fogh Rasmussen, versucht seit
Monaten, die Richtung vorzugeben:
O-Ton
Rasmussen
„Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste
Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation.
(...) Die größte Verantwortlichkeit der NATO besteht
darin, unser Territorium und unsere Bevölkerungen zu
schützen und zu verteidigen. Und täuschen Sie sich
nicht: Genau das werden wir tun.“
Schwerpunkt soll also die Bündnisverteidigung
gegen eine
Bedrohung aus Russland sein. Die NATO soll mehr Präsenz und
ein stärkeres militärisches Engagement in Polen,
den baltischen Republiken und zum Beispiel in
Rumänien zeigen.
Ein ebenso einfaches wie altes Rezept: Die NATO würde ihren
Schwerpunkt wie im Kalten Krieg auf die kollektive Verteidigung legen
und den Mitgliedern vor allem Sicherheit vor Russland garantieren. Das
ergibt nach den umstrittenen Auslandseinsätzen wieder einen
größeren gemeinsamen Nenner, fördert den
inneren Zusammenhalt und garantiert den USA Einfluss und die
Führungsrolle im Bündnis. Eine solche Entwicklung
läge auf einer Linie mit den Beschlüssen der letzten
beiden NATO-Gipfel. Beide betonten, zentrale Aufgabe der Allianz sei
die Verteidigung des Bündnisgebietes.
Doch dieses scheinbar einfache Rezept könnte sich auch als
falsch erweisen. Wird Russland vom potenziellen Kooperationspartner
wieder zum potenziellen Gegner, so wäre dies eine
Grundsatzentscheidung mit längerfristigen Folgewirkungen
– für Russland, für Europa für die
USA und für die weltwirtschaftliche Entwicklung.
Sicherheitspolitik in Europa würde dann wieder durch ein
Gegeneinander und nicht mehr von einem potenziellen Miteinander zum
gegenseitigen Vorteil bestimmt.
Eine solch gravierende Trendwende scheint derzeit möglich,
obwohl sie dem wohlverstandenen Eigeninteresse der meisten Beteiligten
zuwiderliefe. Der Umgang mit der Ukraine-Krise ähnelt nicht
– wie oft behauptet - der von
Mißverständnissen geprägten Vorgeschichte
des 1.Weltkrieges, sondern eher den Zeiten der Kubakrise. Damals
eskalierten die USA und die Sowjetunion den Konflikt unnachgiebig und
ohne Blick für die Interessenslage des jeweils anderen. Die
Entwicklung führte an den Rand eines globalen Atomkrieges, der
nur aufgrund glücklicher Umstände verhindert werden
konnte. So weit sind wir derzeit noch nicht. Aber gemeinsam ist beiden
Krisen der weitgehende Verzicht auf die
Berücksichtigung der Interessen des jeweils anderen und vor
allem auf eine politische Eskalationskontrolle, die auf
Kriegsverhinderung zielt.
Der Westen fragt sich heute angesichts der Ukrainekrise nicht, mit
welchen Fehlern oder Fehleinschätzungen er zu dieser Krise
aktiv beigetragen hat. Etliche NATO-Mitglieder sehen die Krise vielmehr
als Chance, die Ukraine endgültig aus der
Einflusssphäre Moskaus herauszulösen. Um dies zu
erreichen, wird Wladimir Putin als autoritär und imperial
agierender Herrscher portraitiert, der letztlich die alleinige
Verantwortung für die Eskalation der Krise und das Handeln der
prorussischen Separatisten trägt. Als einer, der
möglicherweise sogar die Chance sucht, Russland nach der Krim
auch noch die östliche Ukraine einzuverleiben. Geflissentlich
übersehen wird dabei, dass ein solcher Schritt aus
wirtschaftlichen und politischen Gründen gar nicht in Moskaus
Interesse liegen kann. Übersehen wird auch, dass Putin auf die
in der Ukraine aktiven russischen Nationalisten und
Freischärler zwar einen gewissen Druck ausüben, ihnen
aber keine Befehle erteilen kann.
Zudem konfrontiert man Moskau mit
widersprüchlichen
Forderungen. Der Abzug russischer Soldaten von der ukrainischen Grenze
und eine wirksame Unterbindung des militärischen Nachschubs
für die Separatisten in der Ukraine schließen sich
gegenseitig einfach aus.
Schließlich wird die politische Analyse und Interessenslage
Moskau weitgehend unterschlagen. Dort sieht man die Zusammenarbeit mit
dem Westen in den letzten beiden Jahrzehnten als eine
Geschichte der gebrochenen Versprechen. Der Westen habe immer nur ein
Interesse an Russlands Einlenken gezeigt, nie aber ein
Verständnis für dessen berechtigte Interessen. Bis
heute fehlen in der Ukrainekrise zudem
Lösungsvorschläge des Westens, die Moskau einen
Ausweg aus der Krise ohne Gesichtsverlust ermöglichen
würden. Also geht die Krise weiter und droht auch weiter zu
eskalieren. Wladimir Putin kann es sich innenpolitisch nicht leisten,
westlichen Forderungen bedingungslos nachzukommen. Es wäre der
Anfang vom Ende seiner Regierungszeit. Der
NATO-Generalsekretär sieht das ganz anders:
O-Ton
Rasmussen
Wir haben in den letzten 20 Jahren viel getan, um konstruktive
Kooperation mit Russland zu entwickeln. Weil wir glauben dass ein
positives Engegement mit Russland der richtige Weg nach vorne
ist; aber nur um zu entdecken, dass Russlannd das ganz anders
sieht. Wenn sie die russische Militärdoktrin lesen –
sie sehen die NATO nicht als Partner, sondern als Gegner.“
Die Ukraine-Krise als rein russisches Problem
–
davon mag sich der Westen kurzfristige Vorteile
versprechen. Langfristig ist es nicht im Interesse der meisten
Konfliktparteien. Vor allem in Europa. Das zeigt eine andere aktuelle
Krise: Im Irak wird immer deutlicher, dass auf einen
willkürlich vom Zaun gebrochenen Krieg der USA gegen das
Regime Saddam Husseins ein gescheiterter Wiederaufbau der staatlichen
Strukturen des Landes gefolgt ist. Der Irak wird derzeit zum
scheiternden und vielleicht zerbrechenden Staat. Jüngste Folge
ist das Entstehen einer grenzüberschreitend
militärisch erfolgreichen agierenden Terrorbande namens ISIS
oder Islamischer Staat. Diese bricht Widerstände mit
brutaler Gewalt, rottet Andersgläubige aus oder zwingt sie zur
Flucht. Möglicherweise können die
Dschihadisten nicht durch regionale Kräfte gestoppt werden
können, sondern letztlich nur durch ein internationales
militärisches Eingreifen. Russland hat im Blick auf die
Bekämpfung solcher radikalislamischer Kräfte
ähnliche Interessen wie der Westen. Aber stünde es
dafür noch als Partner zur Verfügung? Und weiter:
Wäre die NATO im Irak oder in Syrien noch militärisch
handlungsfähig, wenn sie ihre militärischen
Fähigkeiten wieder primär an der kollektiven
Verteidigung gegen Russland ausrichtet? Mit der Türkei grenzt
auch ein NATO-Land an das Konfliktgebiet.
Schließlich sind noch bei einem weiteren Punkt
Zweifel angebracht: Die Hoffnung, die europäischen
NATO-Staaten würden angesichts einer wachsenden Konfrontation
mit Russland bald wieder mehr Geld in ihre militärischen
Fähigkeiten investieren, dürfte auf Sand gebaut sein.
Das aktuelle Ziel, jedes NATO-Land solle mindestens zwei Prozent seiner
Wirtschaftsleistung dafür aufwenden, ist ebenso unrealistisch
wie die Zielmarke von drei Prozent während des Kalten Krieges.
Dies gilt umso mehr, wenn die Volkswirtschaften in Europa beginnen,
unter den wirtschaftlichen Auswirkungen der verschärften
Konfrontation mit Russland zu leiden. Die Energie- und
Rohstoffversorgung wird bei einer Umstrukturierung teurer; mit
Lieferungen von Technologie und landwirtschaftlichen Produkten nach
Russland lässt sich weniger Geld verdienen. Noch einmal
NATO-Generalsekretär Rasmussen im Juli in Washington:
O-Ton Rasmussen
„Bei
unserem Gipfel in Wales erwarte ich, dass alle
Führer der Allianz sich zu einem Kurswechsle bei den
Verteidsigungsausgaben verpflichten, deren Absenkung zu beenden und
sich zu konkretem Handeln zu verpflichten.“
Was würde eine solche Neuausrichtung für die NATO
selbst bedeuten? Das Bündnis würde von den
USA noch abhängiger als es bereits ist. Das kann auf
Dauer nicht gut gehen, denn eine solche Entwicklung trägt dazu
bei, dass der Weg zu einer stärkeren sicherheitspolitischen
Zusammenarbeit und Integration auch im westlichen Europa blockiert
wird. Der Westen bliebe hinter seinen Möglichkeiten
zurück. Mehr noch: Dies träfe langerfristig auch die
NATO. Sie würde weiter an Handlungsfähigkeit
verlieren. Das „erfolgeichste
Militärbündnis der Geschichte“ droht 20
Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges an seiner vorgeblich wichtigsten
Aufgabe zu scheitern: Den Frieden zu
erhalten.

ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
|