Das NATO-Russland-Verhältnis – Eine Geschichte der Enttäuschungen
von Otfried Nassauer
„This is where the dragons play (...) where dreams are
made”. „An diesem Ort spielen die Drachen (...), werden
Träume entworfen.” Mit diesen Sätzen wirbt das noble
Celtic Manor Ressort in Wales. Hier – in einer
wunderschönen, sanft-hügeligen und sattgrünen Landschaft
- werden sich Anfang September die Staats- und Regierungschefs der NATO
zu ihrem nächsten Gipfel treffen. Sie wollen Träume
entwerfen, Visionen für die Zukunft des Bündnisses
entwickeln. Welche Aufgaben hat die NATO nach dem langen Einsatz in
Afghanistan? Warum wird sie weiter gebraucht?
NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und einige der
Mitgliedsstaaten haben bereits eine klare Vorstellung. Rasmussen
wiederholt seit Wochen einen zentralen Gedanken:
O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste Bedrohung
für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...) Die
größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser
Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu
verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir
tun.“
Russland will nicht mehr Partner sein, also wird es wieder zum
Gegner, so lautet das Mantra von Rasmussen. Das Verhältnis zu
Russland, die Krise in der Ukraine oder die künftige
Erweiterungsstrategie der Allianz sollen im Vordergrund des Gipfels
stehen. Rasmussen will die Bündnisverteidigung und die
dafür nötigen militärischen Fähigkeiten ganz oben
auf die Tagesordnung setzen. Dies fortzuführen sei dann die
Hauptaufgabe, vor der sein bereits gewählter Nachfolger, der
norwegische Sozialdemokrat Jens Stoltenberg, stehe, argumentierte
Rasmussen im estnischen Fernsehen.
Schuld ist für den NATO-Generalsekretär vor allem Wladimir
Putin, der russische Präsident, der als Autokrat regiert, die
Menschenrechte nicht achtet, sich die Krim einverleibt hat und in der
östlichen Ukraine zündeln lässt, während seine
Truppen an deren Grenze auf- und abmarschieren – gerade so, als
wollten sie zeigen, dass sie jederzeit auch einmarschieren können.
Russland habe viel Vertrauen verspielt.
Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Die Krise in der Ukraine und das
Verhalten Moskaus haben eine lange Vorgeschichte. Eine Geschichte
enttäuschter Hoffnungen Moskaus auf eine gleichberechtigte Rolle
in der Sicherheitsarchitektur Europas nach dem Kalten Krieg. Und eine
lange Geschichte der gebrochenen Zusagen des Westens.
Schon während der Verhandlungen über die deutsche Einheit
fürchtete Moskau, die NATO werde sich nach Osten ausdehnen. Die
USA, Frankreich und die Bundesregierung bemühten sich, diese
Befürchtung auszuräumen. Das geeinte Deutschland solle der
NATO angehören. Auf dem Territorium der ehemaligen DDR werde es
keine ausländischen NATO-Truppen geben. Weiter im Osten schon gar
nicht. Der Koordinator der Bundesregierung für die
deutsch-russischen Beziehungen, Gernot Erler, kürzlich im MDR:
O-Ton Erler
„Da kann ich nur dazu sagen, dass das richtig ist, dass es solche
Verabredungen, auch wenn sie nicht schriftlich festgehalten worden
sind, gibt.“
Schon drei Jahre später die Wende im Westen: Bei einem
Treffen der NATO-Verteidigungsminister plädierte Volker Rühe,
damals Verteidigungsminister, im Oktober 1993 für eine
Öffnung der NATO nach Osten. Gernot Erler erläutert das Motiv:
O-Ton Erler
„Also, Deutschland war übrigens auch der Meinung, dass die
Länder östlich von Deutschland, die
mittelosteuropäischen Länder, Mitglied der NATO und auch der
EU werden sollten, weil das für uns geostrategisch natürlich
von Vorteil war.“
Besser von Freunden umzingelt als Frontstaat eines
Bündnisses – so die Logik. Vier Jahre später stand die
Aufnahme der ersten Mitglieder an: Polen, Tschechien und Ungarn. Dann
folgten mit den baltischen Staaten drei ehemalige Sowjetrepubliken,
Slowenien und schrittweise die Staaten auf dem Balkan. Die NATO kam den
Grenzen Russlands immer näher. Um Russland die Beitritte
akzeptabel zu machen, wurde 1997 in Paris die NATO-Russland Grundakte
unterzeichnet. Das Dokument offerierte Moskau eine ständige
Vertretung und institutionalisierte Konsultationen mit der NATO. Hinzu
kam das Versprechen, die Nuklearwaffen der NATO nicht näher an die
Grenzen Russlands zu verlegen.
Doch kaum war der erste Erweiterungsschritt vollzogen, machte die NATO
auf Wunsch ihrer neuen Mitglieder einen Rückzieher: Sie beschloss,
mit Moskau im NATO-Russland-Rat nur über Themen zu reden,
über die in der NATO Konsens herrscht. Aus Moskauer Sicht wurde
der NATO-Russland-Rat damit zu einer Institution, die eher der
Ausgrenzung, denn der Einbeziehung Russlands diente. Ganz ähnlich
bei der zweiten Osterweiterung. Man versprach Russland, den
NATO-Russland Rat zu einem Gremium für gemeinsame Entscheidungen
aufzuwerten. Russland werde über Fragen der europäischen
Sicherheit gleichberechtigt mitentscheiden können. Wieder folgte
die Enttäuschung auf dem Fuß: Die neuen NATO-Mitglieder
bestanden darauf, dass weiterhin nur über Themen diskutiert werden
dürfe, bei denen im Westen bereits Konsens herrschte.
Begleitet wurde diese Entwicklung von wiederholten Vorstößen
der NATO, Russland zu zwingen, seine militärische Präsenz in
Georgien und Moldawien aufzugeben. Während Moskau den zweiten
Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, rasch
ratifizierte, taten die NATO-Länder dies nicht. Sie machten den
Truppenabzug zu einer zusätzlichen Voraussetzung.
Putin nutzte nach seiner Wahl zum Präsidenten Russlands eine viel
beachtete Rede 2001 vor dem Bundestag für ein Signal. Zwei Wochen
nach den Terroranschlägen in den USA bot er dem Westen eine
weitreichende Kooperation an, zeigte sich aber auch besorgt:
O-Ton Putin
„Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten
erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven
Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten
Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei
der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden
Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden
dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen.“
Putins Mahnung zu mehr Mitsprache verhallte ungehört. Der
NATO-Russland-Rat blieb was er war. Im Streit um die Raketenabwehr gab
es keine Lösung. Der Westen zeigte kein Interesse an der
konventionellen Rüstungskontrolle und ließ alle
Bemühungen, die OSZE zu stärken, verpuffen. Auf der
Münchener Sicherheitskonferenz 2007 kritisierte Putin all dies
scharf und verwies darauf, dass Moskau auch national dafür
sorgen könne, dass seine Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben.
Nur ein Jahr später demonstrierte er im Georgienkonflikt seine
Entschlossenheit, in Russlands nationalem Interesse auch
militärisch zu agieren. Russland scherte zudem teilweise aus
seinen KSE- und Transparenz-Verpflichtungen aus. Die NATO setzte als
Reaktion zeitweilig die Arbeit des NATO-Russland-Rates aus.
Trotzdem folgte ein neues Kooperationsangebot aus Moskau. Der NATO
wurde ein Abkommens vorgeschlagen, das verbindlich Konsultationen
für den Fall eines drohenden militärischen Konfliktes in
Europa vorsah. Von Wikileaks veröffentlichte diplomatische
Depeschen belegen eindrucksvoll, dass die NATO diesen Vorschlag bewusst
ignorierte und als durchsichtiges taktisches Manöver
diskreditierte. Der Grund war simpel: Manche NATO-Staaten
fürchteten, der Vorschlag könne verhindern, dass die
baltischen Staaten in die Eventualfallplanung zur Verteidigung Polens
einbezogen würden. Diese stand zeitgleich an.
Vier Jahre später zeigen sich die Folgen dieser Geschichte
enttäuschter Erwartungen. In der Ukraine-Krise demonstriert
Russland erneut den Willen, seine Interessen auch gegen westliche
Vorstellungen und auf Kosten seines Verhältnisses zu den Staaten
der NATO zu wahren. Moskau will und wird eine Integration der Ukraine
in die westlichen Institutionen NATO und EU nicht tolerieren, ohne
selbst in diese Institutionen integriert zu werden. Nutzt die NATO dies
bei ihrem Gipfel im Herbst als Gelegenheit, um ihre Daseinsberechtigung
auf Kosten des Verhältnisses zu Moskau neu zu begründen, so
schadet sie den langfristigen Interessen der meisten
westeuropäischen Länder. Diesen kann nicht an einem neuen
Dauerkonflikt mit Russland gelegen sein.

ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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