Streitkräfte und Strategien - NDR info
28. Juni 2014


Das NATO-Russland-Verhältnis – Eine Geschichte der Enttäuschungen

von Otfried Nassauer

„This is where the dragons play (...) where dreams are made”. „An diesem Ort spielen die Drachen (...), werden Träume entworfen.” Mit diesen Sätzen wirbt das noble Celtic Manor Ressort in Wales. Hier – in einer wunderschönen, sanft-hügeligen und sattgrünen Landschaft - werden sich Anfang September die Staats- und Regierungschefs der NATO zu ihrem nächsten Gipfel treffen. Sie wollen Träume entwerfen, Visionen für die Zukunft des Bündnisses entwickeln. Welche Aufgaben hat die NATO nach dem langen Einsatz in Afghanistan? Warum wird sie weiter gebraucht?

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und einige der Mitgliedsstaaten haben bereits eine klare Vorstellung. Rasmussen wiederholt seit Wochen einen zentralen Gedanken: 

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...) Die größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir tun.“

Russland will nicht mehr Partner sein, also wird es wieder zum Gegner, so lautet das Mantra von Rasmussen. Das Verhältnis zu Russland, die Krise in der Ukraine oder die künftige Erweiterungsstrategie der Allianz sollen im Vordergrund des Gipfels stehen. Rasmussen will  die Bündnisverteidigung und die dafür nötigen militärischen Fähigkeiten ganz oben auf die Tagesordnung setzen. Dies fortzuführen sei dann die Hauptaufgabe, vor der sein bereits gewählter Nachfolger, der norwegische Sozialdemokrat Jens Stoltenberg, stehe, argumentierte Rasmussen im estnischen Fernsehen.

Schuld ist für den NATO-Generalsekretär vor allem Wladimir Putin, der russische Präsident, der als Autokrat regiert, die Menschenrechte nicht achtet, sich die Krim einverleibt hat und in der östlichen Ukraine zündeln lässt, während seine Truppen an deren Grenze auf- und abmarschieren – gerade so, als wollten sie zeigen, dass sie jederzeit auch einmarschieren können. Russland habe viel Vertrauen verspielt.

Ganz so einfach ist es jedoch nicht. Die Krise in der Ukraine und das Verhalten Moskaus haben eine lange Vorgeschichte. Eine Geschichte enttäuschter Hoffnungen Moskaus auf eine gleichberechtigte Rolle in der Sicherheitsarchitektur Europas nach dem Kalten Krieg. Und eine lange Geschichte der gebrochenen Zusagen des Westens.

Schon während der Verhandlungen über die deutsche Einheit fürchtete Moskau, die NATO werde sich nach Osten ausdehnen. Die USA, Frankreich und die Bundesregierung bemühten sich, diese Befürchtung auszuräumen. Das geeinte Deutschland solle der NATO angehören. Auf dem Territorium der ehemaligen DDR werde es keine ausländischen NATO-Truppen geben. Weiter im Osten schon gar nicht. Der Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russischen Beziehungen, Gernot Erler, kürzlich im MDR:

O-Ton Erler
„Da kann ich nur dazu sagen, dass das richtig ist, dass es solche Verabredungen, auch wenn sie nicht schriftlich festgehalten worden sind, gibt.“

Schon drei Jahre später die Wende im Westen: Bei einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister plädierte Volker Rühe, damals Verteidigungsminister, im Oktober 1993 für eine Öffnung der NATO nach Osten. Gernot Erler erläutert das Motiv:

O-Ton Erler
„Also, Deutschland war übrigens auch der Meinung, dass die Länder östlich von Deutschland, die mittelosteuropäischen Länder, Mitglied der NATO und auch der EU werden sollten, weil das für uns geostrategisch natürlich von Vorteil war.“

Besser von Freunden umzingelt als Frontstaat eines Bündnisses – so die Logik. Vier Jahre später stand die Aufnahme der ersten Mitglieder an: Polen, Tschechien und Ungarn. Dann folgten mit den baltischen Staaten drei ehemalige Sowjetrepubliken, Slowenien und schrittweise die Staaten auf dem Balkan. Die NATO kam den Grenzen Russlands immer näher. Um Russland die Beitritte akzeptabel zu machen, wurde 1997 in Paris die NATO-Russland Grundakte unterzeichnet. Das Dokument offerierte Moskau eine ständige Vertretung und institutionalisierte Konsultationen mit der NATO. Hinzu kam das Versprechen, die Nuklearwaffen der NATO nicht näher an die Grenzen Russlands zu verlegen.

Doch kaum war der erste Erweiterungsschritt vollzogen, machte die NATO auf Wunsch ihrer neuen Mitglieder einen Rückzieher: Sie beschloss, mit Moskau im NATO-Russland-Rat nur über Themen zu reden, über die in der NATO Konsens herrscht. Aus Moskauer Sicht wurde der NATO-Russland-Rat damit zu einer Institution, die eher der Ausgrenzung, denn der Einbeziehung Russlands diente. Ganz ähnlich bei der zweiten Osterweiterung. Man versprach Russland, den NATO-Russland Rat zu einem Gremium für gemeinsame Entscheidungen aufzuwerten. Russland werde über Fragen der europäischen Sicherheit gleichberechtigt mitentscheiden können. Wieder folgte die Enttäuschung auf dem Fuß: Die neuen NATO-Mitglieder bestanden darauf, dass weiterhin nur über Themen diskutiert werden dürfe, bei denen im Westen bereits Konsens herrschte.

Begleitet wurde diese Entwicklung von wiederholten Vorstößen der NATO, Russland zu zwingen, seine militärische Präsenz in Georgien und Moldawien aufzugeben. Während Moskau den zweiten Vertrag über konventionelle Streitkräfte in Europa, rasch ratifizierte, taten die NATO-Länder dies nicht. Sie machten den Truppenabzug zu einer zusätzlichen Voraussetzung.

Putin nutzte nach seiner Wahl zum Präsidenten Russlands eine viel beachtete Rede 2001 vor dem Bundestag für ein Signal. Zwei Wochen nach den Terroranschlägen in den USA bot er dem Westen eine weitreichende Kooperation an, zeigte sich aber auch besorgt:

O-Ton Putin
„Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen.“

Putins Mahnung zu mehr Mitsprache verhallte ungehört. Der NATO-Russland-Rat blieb was er war. Im Streit um die Raketenabwehr gab es keine Lösung. Der Westen zeigte kein Interesse an der konventionellen Rüstungskontrolle und ließ alle Bemühungen, die OSZE zu stärken, verpuffen. Auf der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 kritisierte Putin all dies scharf und verwies darauf, dass  Moskau auch national dafür sorgen könne, dass seine Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben.

Nur ein Jahr später demonstrierte er im Georgienkonflikt seine Entschlossenheit, in Russlands nationalem Interesse auch militärisch zu agieren. Russland scherte zudem teilweise aus seinen KSE- und Transparenz-Verpflichtungen aus. Die NATO setzte als Reaktion zeitweilig die Arbeit des NATO-Russland-Rates aus.

Trotzdem folgte ein neues Kooperationsangebot aus Moskau. Der NATO wurde ein Abkommens vorgeschlagen, das verbindlich Konsultationen für den Fall eines drohenden militärischen Konfliktes in Europa vorsah. Von Wikileaks veröffentlichte diplomatische Depeschen belegen eindrucksvoll, dass die NATO diesen Vorschlag bewusst ignorierte und als durchsichtiges taktisches Manöver diskreditierte. Der Grund war simpel: Manche NATO-Staaten fürchteten, der Vorschlag könne verhindern, dass die baltischen Staaten in die Eventualfallplanung zur Verteidigung Polens einbezogen würden. Diese stand zeitgleich an. 

Vier Jahre später zeigen sich die Folgen dieser Geschichte enttäuschter Erwartungen. In der Ukraine-Krise demonstriert Russland erneut den Willen, seine Interessen auch gegen westliche Vorstellungen und auf Kosten seines Verhältnisses zu den Staaten der NATO zu wahren. Moskau will und wird eine Integration der Ukraine in die westlichen Institutionen NATO und EU nicht tolerieren, ohne selbst in diese Institutionen integriert zu werden. Nutzt die NATO dies bei ihrem Gipfel im Herbst als Gelegenheit, um ihre Daseinsberechtigung auf Kosten des Verhältnisses zu Moskau neu zu begründen, so schadet sie den langfristigen Interessen der meisten westeuropäischen Länder. Diesen kann nicht an einem neuen Dauerkonflikt mit Russland gelegen sein.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS