Vom Partner zum Gegner
Wie die NATO künftig mit Russland umgehen will
von Otfried Nassauer
Russland hat die Krim annektiert, und daran wird sich wohl
auch nichts ändern. Der Westen hat mit scharfen Worten
reagiert. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf dem
Treffen der NATO-Außenminister in dieser Woche:
O-Ton Rasmussen (Overvoice)
„Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste Bedrohung
für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...) Die
größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser
Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu
verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir
tun.“
Die Reaktion kam nicht von ungefähr. Für den
NATO-Generalsekretär ist diese Krise ein Geschenk. Russlands
Vorgehen auf der Krim soll ihm helfen, die NATO dauerhaft
wiederzubeleben. Diese Chance will sich Rasmussen nicht entgehen
lassen.
In diesem Jahr endet der Kampfeinsatz in Afghanistan. Danach drohte
eigentlich eine Debatte über die Daseinsberechtigung und die
Aufgaben der NATO. Wofür braucht man sie eigentlich noch? Mit der
Krim-Krise hat Moskau Rasmussen eine gut verkäufliche
Begründung geschenkt. Es ist ein altbekanntes Muster: Russland
will nicht Partner sein. Es erkläre sich selbst zum Gegner der
NATO. Das trifft sich gut mit der Haltung jener NATO-Mitglieder, die
Moskau schon lange als Bedrohung betrachten. Also wird die
Bündnisverteidigung der Allianz wieder zum zentralen Rational der
Allianz. Möglicherweise für lange Zeit. Rasmussen blendet
deshalb aus, dass auch die NATO und deren Führungsmacht, die USA,
bei militärischen Interventionen bereits in ähnlich
große Konflikte mit dem Völkerrecht geraten waren wie Moskau
mit der Krim. Beispiele sind u.a. der Irak- und der Kosovo-Krieg. Der
NATO-Generalsekretär will die Gelegenheit nutzen und konzentriert
sich ganz auf Russland.
O-Ton Rasmussen (Overvoice)
„Mit seiner Handlungsweise hat Russland ein Vorgehen
gewählt, das die Grundlagen unterminiert, auf die unsere
Kooperation aufgebaut ist. Das militärische Vorgehen gegen die
Ukraine und die illegale Annexion von Teilen des Territoriums der
souveränen Ukraine stellen einen flagranten Bruch der
internationalen Verpflichtungen Russlands dar. In Anbetracht dessen
kann es kein ‚business as usual‘ geben.“
Liebhaber klarer Fronten und Feindbilder dürfen wieder
hoffen. Im Baltikum, in Polen oder Rumänien wünscht man sich,
die NATO werde endlich keine Rücksicht mehr auf russische
Befindlichkeiten nehmen und an vorderster Front Präsenz zeigen
wird. Manche spekulieren bereits, dass auch die Allianz ihrerseits
politisch verbindliche Zusagen an Moskau bricht und eine Stationierung
größerer Kampfverbände oder gar atomarer Waffen in
Ländern wie Polen erwägt.
Auch aus amerikanischer Sicht bietet der Konflikt Chancen. Man hofft,
den Primat der NATO in der Sicherheitspolitik gegenüber der
Europäischen Union auf längere Zeit absichern zu können.
Umstrittene Projekte wie der Aufbau einer Raketenabwehr in Europa
könnten leichter durchsetzbar werden. Die Krim-Krise schwächt
in Europa darüber hinaus jene, die für eine strategische
wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland eintreten. Der
Konflikt schädigt wirtschaftliche Konkurrenten der USA.
Schließlich bleiben die innereuropäischen Streitigkeiten
erhalten, ob man Sicherheit vor Russland oder mit Russland anstreben
soll. Washington kann also weiter darauf zählen, jeweils mit den
europäischen Ländern eng zu kooperieren, deren Positionen die
Interessen der USA am stärksten widerspiegeln. Die Vereinigten
Staaten behalten die Option, ein gemeinsames Handeln Europas mit
ihrer Hilfe zu blockieren. Und Washington kann hoffen, dass schon
bald erneut die Frage einer Erweiterung der NATO und der EU
auf die Tagesordnung kommt. Erweiterung statt Vertiefung - das
garantierte bereits früher wiederholt Washingtons
Führungsrolle in Europa. Teile und herrsche.
Schließlich verbinden die USA und Rasmussen noch eine weitere
Hoffnung mit einer konfrontativen Situation in Europa: Die
Europäer sollen endlich wieder mehr Geld für ihre
Streitkräfte ausgeben. US-Außenminister Kerry forderte dies
beim NATO-Außenministertreffen in dieser Woche, der
NATO-Generalsekretär im vergangenen Monat auf dem sogenannten
Brüsseler Forum:
O-Ton Rasmussen (Overvoice)
„Ich denke, das war ein Weckruf und in allen europäischen
Hauptstädten sollte jetzt die gesamte Situation
überprüft werden. Es ist notwendig, den Trend sinkender
Verteidigungsausgaben umzukehren. Wir können einfach nicht mit
tiefen Einschnitten bei den Verteidigungshaushalten weitermachen und
zugleich glauben, dass wir fähig bleiben, eine effektive
kollektive Verteidigung vorzuhalten. Das ist die Realität und wir
müssen den Trend umkehren.“
US-Firmen hoffen bereits, dass man das in den USA
gescheiterte Luftvertei-digungs- und Raketenabwehrsystem MEADS
nun ausschließlich mit europäi-schen Ländern
wiederbeleben kann, weil Länder wie Polen oder die Türkei
sich für dieses Projekt begeistern könnten. In Deutschland
ist die Frage aufgeworfen worden, ob jene 225 Kampfpanzer,
mit denen die Bundeswehr für die Zukunft plant, nicht zu wenig
seien. Andere riefen gar nach Wiedereinführung der Wehrpflicht.
Die meisten dieser und anderer Schnellschüsse sind
wirklichkeitsfremd. Fast alle überschüssigen Leopard-Panzer
der Bundeswehr sind bereits exportiert oder verkauft worden. Der
Bau neuer Kampfpanzer würde Jahre dauern. Für die
Wiedereinführung der Wehrpflicht fehlt nicht nur das Geld. Es
macht auch keinen Sinn, jede Krise erneut zum Anlass zu nehmen, um
über die Wehrform zu debattieren. An Versuchen, das umstrittene
Luftverteidigungssystem MEADS wiederzubeleben, wird es nicht mangeln.
Allein: Das würde viele Milliarden kosten, die im Europa der
Finanzkrise niemand aufbringen will.
Die in dieser Woche gefassten Beschlüsse der
NATO-Außenminister zeigen jedoch auch, dass den starken Worten
keine ebenso starken Taten gefolgt sind. Die NATO hat ihre
Militärführung lediglich beauftragt, Vorschläge für
eine stärkere Präsenz an den Außengrenzen des
Bündnisses zu erarbeiten. Eine Entscheidung, diese auch
umzusetzen, gibt es noch nicht. Der NATO-Rat hat zwar
beschlossen, die zivile und militärische Zusammenarbeit mit
Russland einzustellen, er machte aber zugleich Ausnahmen bei Projekten,
von denen die NATO profitiert. Man gehe davon aus, dass die gemeinsame
Bekämpfung des Drogenhandels, die Lieferung von russischen
Hubschraubern an Afghanistan und die Nutzung des russischen Luftraums
für den Abzug aus Afghanistan weitergehen.
Auch denkt in der NATO kaum jemand daran, wegen der Krim einen Krieg
vom Zaun zu brechen. Die Ukraine will die Krim-Problematik vor den
Internationalen Gerichtshof bringen. Sieht Moskau davon ab, sich
weitere Teile der Ukraine einzuverleiben, so würden die
NATO-Russland-Beziehungen zwar eine ganze Weile frostig bleiben,
möglicherweise auch länger als nach dem russischen Einmarsch
2008 in Georgien. Zugleich aber wären Diskussionen im
NATO-Russland-Rat weiter möglich. Ein schneller Beitritt der
Ukraine zur NATO ist unrealistisch und kann problemlos abgelehnt
werden, weil das Bündnis keine Länder aufnimmt, die
Territorialdispute mit anderen Staaten haben. Das gilt auch für
Georgien. Und Russlands Präsident Putin müsste mit einer
solchen Lösung auch leben können. Seine Popularität ist
in Russland deutlich gewachsen, seine Macht innenpolitisch abgesichert.
Die Verantwortung für die zu erwartende Wirtschaftskrise kann er
unter Verweis auf die westlichen Sanktionen zurückweisen. So kann
das ein paar Jahre gehen. Eine eigentlich schwache Regierung Putin und
eine eigentlich schwache NATO garantieren so gegenseitig ihre
Bedeutung.
Langfristig stellen sich jedoch u.a. folgende wichtige Fragen: Welche
Folgen hat der Konflikt für das Verhältnis von NATO und EU?
Wird er den weiteren Ausbau der Europäischen Sicherheits- und
Verteidigungspolitik und damit die Vertiefung der Europäischen
Integration behindern? Das kann sehr gut sein. Eine solche
Entwicklung liegt aber nicht im Interesse der meisten
Kontinentaleuropäer. Deshalb wird es an diesen Ländern
liegen, mit Russland einen schnelleren Ausweg aus der Konfrontation zu
suchen. Das Weimarer Dreieck, bestehend aus Polen, Frankreich und
Deutschland, wäre geeignet, einen solchen Prozess der Deeskalation
zu initiieren. Wichtigste Voraussetzung für dessen Erfolg wird es
sein, Russland erstmals das deutliche Gefühl zu geben, dass
Moskaus Interessen im Westen tatsächlich ernst genommen werden.
Bis zu dieser Erkenntnis ist es aber für viele im Westen noch ein
weiter Weg.

ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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