Streitkräfte und Strategien - NDR info
09. April 2011


Präzedenzfall Libyen

Schutz der Bevölkerung im UN-Auftrag oder Interventions-Konzept zur Sicherung eigener Interessen?

von Otfried Nassauer

Vor gut einer Woche hat die NATO das Kommando über alle militärischen Aktionen gegen Libyen übernommen, für die der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen das Mandat erteilt hatte: Das Waffenembargo, die Flugverbotszone und den Schutz der Zivilbevölkerung. NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen:

O-Ton Rasmussen (overvoice)
„Unser Ziel ist es, Zivilisten und von Zivilisten bewohnte Gebiete zu schützen, die einer Bedrohung durch das Gaddafi-Regime ausgesetzt sind. Die NATO wird alle Aspekte der UN-Resolution implementieren. Nicht mehr, nicht weniger.“

Vorangegangen war ein heftiger Streit unter den westlichen Staaten. Was sollte das Ziel dieses Einsatzes sein? Der Schutz der libyschen Zivilbevölkerung und ein rascher Waffenstillstand? Oder eine Stärkung der Rebellen und letztlich der Sturz Gaddafis? Wer sollte diesen Einsatz führen? Frankreich als die treibende Kraft hinter dem Einsatz, die Vereinten Nationen oder die NATO?

Die Führungsfrage ist zugunsten der NATO entschieden. Der Streit über das Ziel des Einsatzes ist allerdings nicht beigelegt. Er wurde lediglich vertagt. Vorerst agiert die NATO auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners. Sie setzt um, was der UN-Sicherheitsrat erlaubt hat. Die Flugverbotszone, das Waffenembargo und den Schutz der libyschen Bevölkerung gegen Truppen, die diese bedrohen oder angreifen. Von einem schnellen Ende ihrer Operation in Libyen geht die NATO nicht aus. Sie plant zunächst für drei Monate.

Doch damit nicht genug: Das Bündnis übernimmt mit der Operation in Libyen nicht nur eine Aufgabe ohne klar definiertes Ziel, sondern auch die Verantwortung für die Ausgestaltung eines völkerrechtlichen Präzedenzfalls. In Libyen wird erstmals eine neue Form der humanitären Intervention praktiziert. Eine Intervention zum Schutz der Zivilbevölkerung gegen deren eigene Regierung, also eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines souveränen Staates. Die Charta der Vereinten Nationen kennt kein Recht zu einer solchen Intervention. Aber seit etwa zehn Jahren bemühen sich vor allem westliche Staaten, eine solche Möglichkeit zu schaffen. Man spricht von einem „Völkerrecht im Werden“. Das Stichwort lautet Schutzverantwortung - Responsibility to protect oder kurz R2P.

Konkreter Anlass für die Entwicklung des Konzeptes war der Krieg um das Kosovo. Die NATO wollte die albanische Minderheit im Kosovo vor Gewalt durch Serben schützen und intervenierte 1999 in die inneren Angelegenheiten der Bundesrepublik Jugoslawien. Eine völkerrechtliche Basis für den Kosovo-Krieg gab es nicht. Er wurde ohne Mandat der Vereinten Nationen begonnen. Nach dem Krieg begann die Suche nach einer völkerrechtlichen Rechtfertigungsmöglichkeit für solche Interventionen. Eine international besetzte Kommission stellte 2001 das Konzept der Responsibility to protect vor: Wenn ein Staat der Verpflichtung, seine Bevölkerung vor Völkermord und Massenvertreibung zu schützen, nicht nachkommen kann oder will, dann gehe diese Verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über, argumentierten die Autoren. In letzter Konsequenz sei dann auch die Anwendung militärischer Gewalt legitim.

Der Millenniumsgipfel der Vereinten Nationen nahm 2005 auf dieses Konzept positiv Bezug. Die Teilnehmer erklärten ihre Bereitschaft, „von Fall zu Fall“ als letztes Mittel auch die Gewaltanwendung nach Kapitel VII der UN-Charta zuzulassen, wenn

Zitat
„friedliche Mittel inadäquat sind und nationale Autoritäten nachweislich dabei versagen, ihre Bevölkerungen vor Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schützen.“

Offiziell angewendet wurde das Konzept jedoch seither nicht. Das hat sich nun geändert. In Libyen wird es erstmals praktiziert. UN-Generalsekretär Ban Ki Moon nannte den Libyen-Beschluss deshalb eine „historische Bestätigung“ der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, Menschen vor der Gewalt ihrer eigenen Regierung zu schützen. Und NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen pflichtete ihm bei:

Zitat
„Unterschätzen Sie das nicht! Im vergangen Jahrzehnt haben wir eine politische und akademische Debatte über die Schutzverantwortung gehabt. Dieses Konzept hat jetzt seinen Weg in zwei Resolutionen des Sicherheitsrates zu Libyen gefunden, namentlich die Verantwortung, das libysche Volk gegen systematische Angriffe zu schützen, die – wie der Sicherheitsrat sagte – zu ‚einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit anwachsen können.‘ “

Die treibende Kraft hinter der Libyen-Resolution, der französische Präsident Sarkozy, ging sogar noch einen Schritt weiter. Er warnte bereits andere arabische Despoten:

O-Ton Sarkozy (overvoice)
„Jeder Herrscher muss verstehen, und vor allem jeder arabische Herrscher muss verstehen, dass die Reaktion der internationalen Gemeinschaft und Europas von nun an jedes Mal die gleiche sein wird.“

Der Libyenkrieg ist also ein Präzedenzfall. Auf ihn wird man künftig immer dann zurückgreifen, wenn die Entscheidung ansteht, ob die internationale Gemeinschaft sich aus humanitären Gründen in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedsstaates einmischen soll. In dem nordafrikanischen Land geht es also auch um eine Operation am offenen Herzen des Völkerrechts.

Ist die NATO aber die geeignete Institution, um einen völkerrechtlichen Präzedenzfall auszugestalten? Es gibt Argumente, die dafür sprechen könnten: Wer sonst, wenn nicht die NATO? Dort gibt es eingeübte Verfahren der Konsensbildung. Selbst wenn in den Hinterzimmern dicke Luft herrscht, dringt wenig an die Öffentlichkeit. Wird ein Konsens erreicht, so wird er von mindestens 28 Staaten getragen. Gerade weil über das endgültige Ziel der Operation noch keine Klarheit und keine Einigkeit herrschen, könnte die NATO der geeignete Ort sein, um die strittigen Fragen zu lösen. Die Mitglieder der NATO repräsentieren viele der unterschiedlichen Positionen, wie mit der Libyenkrise umgegangen werden soll.

Das bedeutet aber auch, dass zentrale politische und völkerrechtliche Fragen an ein Militärbündnis delegiert werden, das zugleich eine konkrete militärische Operation erfolgreich durchführen soll. Damit aber läuft die NATO Gefahr, ihrem operativen militärischen Erfolg grundsätzliche und politische Fragen unterzuordnen. Fragen, die man sich anlässlich des Präzedenzfalles für das Konzept der Schutzverantwortung unbedingt stellen muss. Zum Beispiel, ob die Verpflichtung zum Schutz der Zivilbevölkerung in letzter Konsequenz auch eine Intervention am Boden mit dem Ziel eines Regimewechsels umfasst. Was also tun, wenn Gaddafi sich an der Macht halten kann und sein Regime einfach nicht zusammenbrechen will?

Mit Libyen als Präzedenzfall sind eminent wichtige politische Fragen verknüpft. Die Antworten, die die NATO entwickelt, sind in Zukunft immer dann relevant, wenn das Konzept der Schutzverantwortung ins Spiel kommt. Deshalb ist es von enormer Bedeutung, wie diese Antworten ausfallen. Wird die Schutzverantwortung sehr weit ausgelegt und mit ihr eine weitreichende Anwendung militärischer Gewalt begründet, so wächst die Gefahr, dass auch bei künftigen Interventionen mit dem Vorbild Libyen argumentiert wird. Das völkerrechtliche Verbot der Einmischung in die inneren Angelegenheiten würde dann sehr weit ausgehöhlt.

Politische und diplomatische Vermittlungsbemühungen dagegen, die Gewaltanwendung rasch mit einem Waffenstillstand zu beenden, haben bei einer solchen Konstellation selten Priorität. Sie laufen vielmehr Gefahr, stiefmütterlich behandelt zu werden. Die NATO wird solche Initiativen kaum selbst vorantreiben. Schließlich gilt es den Eindruck zu vermeiden, das Bündnis sei von seiner eigenen militärischen Durchsetzungsfähigkeit nicht überzeugt. Schon während des Luftkrieges um das Kosovo wurde deutlich: Die NATO war zwar klar überlegen, doch Milosevic kapitulierte trotzdem nicht. Die NATO fand lange keinen Weg, den Krieg zu beenden. Diese Gefahr ist auch bei der Militäroperation in Libyen nicht von der Hand zu weisen. Eine zeitlich eng begrenzte Operation von Luftstreitkräften gefährdet nicht den Zusammenhalt in der NATO. Eine lange Intervention mit ungewissem Ausgang, bei der es auch zu neuen Diskussionen über die Notwendigkeit des Einsatzes von Bodentruppen kommen könnte, kann dagegen zu einem riskanten Belastungstest für das Bündnis werden. Für die Idee einer Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft für die Zivilbevölkerung wäre Libyen dann der denkbar schlechteste Präzedenzfall.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS