Streitkräfte und Strategien - NDR info
27. März 2010


Atomwaffen und Raketenabwehr
USA diskutieren über neue Nukleardoktrin

von Otfried Nassauer

Vor fast genau einem Jahr weckte Barack Obama weltweit Hoffnung. Mit seiner Rede in Prag belebte der US-Präsident die Vision einer Welt ohne atomare Waffen neu:

O-Ton Obama (overvoice)
„Als Nuklearmacht – als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt hat – haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung, zu handeln. Daher bekunde ich heute klar und mit Überzeugung, dass die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen.“

Seine Ankündigung weckte große Erwartungen. Sie trug dazu bei, dass Obama schon im ersten Jahr seiner Amtszeit mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde. Doch in der weit verbreiteten Euphorie über sein Abrüstungsversprechen wurde zweierlei oft übersehen.

Obamas Versprechen war zum einen nicht mehr als die Bestätigung einer völkerrechtlichen Verpflichtung. Gemäß dem Atomwaffensperrvertrag muss Washington seit 1970 alle Nuklearwaffen vollständig abrüsten. Zweitens ging im allgemeinen Jubel über Obamas Ankündigung eine weitere wichtige Passage in der Rede des US-Präsidenten fast unter. Obama sagte auch:

O-Ton Obama (overvoice)
„Täuschen Sie sich nicht: So lange es diese Waffen gibt, werden die Vereinigten Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten garantieren – einschließlich der Tschechischen Republik.“

Diese zweite Aussage ist in den USA inzwischen zur wichtigsten Grundlage für die Forderung nach einer Modernisierung der Nuklearwaffen und ihrer Trägersysteme geworden. Für Notwendig gehalten wird sie in Obamas Regierung vor allem von Verteidigungsminister Robert Gates und Thomas D'Agostino, Chef der für die Atomwaffen zuständigen Nationalen Nuklearen Sicherheitsagentur (NNSA). Beide dienten schon unter George W. Bush. Unter ihm entwickelten sie ihre nuklearen Modernisierungspläne.

Barack Obama muss demnächst dem Kongress seinen Nuclear Posture Review vorlegen. In diesem Bericht soll er die künftige Nuklearwaffenpolitik seiner Regierung beschreiben und die Rolle nuklearer Waffen in der US-Strategie neu definieren. Außerdem muss der Präsident begründen, welche Nuklearwaffen die USA künftig benötigen bzw. welche verschrottet werden können. Das Dokument ist seit Dezember letzten Jahres überfällig. Die Veröffentlichung musste mehrfach verschoben werden. Hintergrund sind Auseinandersetzungen darüber, wie weit in das Papier Obamas angekündigte Schritte zu einer atomwaffenfreien Welt aufgenommen werden sollen. Die Konservativen wollen nämlich das Nuklearpotenzial der USA modern halten und möglichst wenig Einschränkungen unterwerfen. Ein Beispiel:

  • Barack Obama versprach in Prag, die Rolle nuklearer Waffen in der nationalen Sicherheitsstrategie der USA zu reduzieren. Der Nuclear Posture Review muss Auskunft darüber geben, wie dieses Versprechen umgesetzt werden soll. Geklärt werden muss u.a., ob die USA sich auch weiterhin das Recht vorbehalten, Nuklearwaffen auch gegen Staaten einzusetzen, die keine Atomwaffen besitzen. Soll Washington künftig Gegnern, die nur konventionelle, chemische oder biologische Waffen besitzen, auch weiterhin mit atomarer Vergeltung drohen? Entschieden werden muss zudem, ob Washington deklaratorisch auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen ganz oder teilweise verzichtet oder sich das Recht darauf weiterhin vorbehält.
  • Ein anderes Beispiel: Schon im Wahlkampf hatte Barack Obama versprochen, während seiner Präsidentschaft keine neuen Atomwaffen entwickeln und bauen zu lassen. Das Pentagon und die Nukleare Sicherheitsagentur sehen das anders: Nur wenn das Nuklearwaffenpotenzial zügig und umfassend modernisiert werde, seien weitere Abrüstungsschritte möglich, lautet die Begründung. Deshalb wurden etliche Milliarden Dollar für die nächsten Jahre in den Haushaltsentwurf eingestellt, um zwei Nuklearwaffentypen umfassend zu modernisieren: Einen Raketensprengkopf und die auch in Europa lagernden atomaren Bomben des Typs B-61. Beide Vorhaben bildeten unter George W. Bush den Einstieg in den Bau einer neuen Generation atomarer Waffen. Heute werden die Projekte als Lebensdauerverlängerung bestehender Waffen verkauft. Mit dem Nuclear Posture Review soll entschieden werden, wie weit die nukleare Modernisierung letztlich gehen soll.


Aus europäischer Sicht ist ein weiterer Aspekt von großer Bedeutung. Der Nuclear Posture Review wird zeigen, wie weit die Regierung Obama das unter George W. Bush grundlegend veränderte Abschreckungssystem quasi regio-nalisieren möchte und auf die NATO oder den Nahen Osten übertragen will. Wenn die Führungsmacht der NATO ihre Nuklear- und Abschreckungsstrategie ändert, so hat das zwangsläufig Auswirkungen auf die Diskussion über das neue Strategische Konzept der Allianz, das im November verabschiedet werden soll.

Dass Washington deutliche Änderungen plant, deutete sich in den letzten Wochen wiederholt an. Auf einer Konferenz zur neuen NATO-Strategie sagte Außenministerin Hillary Clinton im Februar:

O-Ton Clinton (overvoice)
„Wir glauben, dass die NATO eine eigene Raketenabwehr entwickeln muss, so dass die Allianz Europa verteidigen kann...Aber diese gefährliche Welt braucht weiterhin die Abschreckung. Was das genau bedeutet, darüber gibt es in Europa eine Debatte. Wir hoffen, dass die Europäer keinen überstürzten Schritt unternehmen werden, der die Abschreckungsfähigkeit unterminieren könnte. In der Tat: wir wollen unsere Abschreckung stärken durch die Raketenabwehr.“

Ein zentrales Planungsdokument des Pentagons, der Ballistic Missile Defense Review, gibt Einblick in die US-Vorstellungen:

Zitat
„Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale Abschreckung notwendigerweise auch [künftig] eine nukleare Komponente erfordern. Aber die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann reduziert werden durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten.“

Zur Erinnerung: Seit George W. Bush ist die nukleare Komponente nur noch ein Bestandteil der Gesamtabschreckung, die den USA militärische und politische Durchsetzungsfähigkeit garantieren soll. Weitere Abschreckungsbestandteile sind die Raketenabwehr und die Fähigkeit zu raschen konventionellen und/oder nuklearen strategischen Angriffen auf Ziele rund um den Globus. Experten sprechen von dem Konzept der Global Strikes bzw. der Prompt Global Strikes.

Würde dieses Konzept auf die NATO übertragen, so hätte das positive und negative Folgen. Positiv wäre eine Reduzierung der Rolle atomarer Waffen. Problematisch wäre dagegen, wenn der Abzug von Nuklearwaffen vom Aufbau einer NATO-Raketenabwehr oder anderer Fähigkeiten abhängig gemacht würde. Denn zum einen ist unklar, ob diese Rüstungsprojekte überhaupt finanzierbar sind. Und zum anderen wird Russland auf Dauer auch die modifizierte Raketenabwehr der USA nicht akzeptieren – trotz des US-Verzichts, Systeme in Polen und Tschechien zu stationieren. Zudem enthält das veränderte Raketenabwehrkonzept eine höchst problematische, neue Komponente. Im Ballistic Missile Defense Review wird angekündigt, dass die USA Technologien zum „frühzeitigen Abfangen“ gegnerischer Raketen entwickeln wollen. Vom „Early Intercept“ sprechen Experten. Gemeint sind Technologien, mit denen gegnerische Raketen schon kurz nach dem Start zerstört werden können - oder sogar noch bevor sie abgeschossen werden. Mit anderen Worten: Technologien, die in der NATO eine neue Diskussion über präventive Einsätze auslösen müssten. Ähnlich umstritten könnten amerikanische Forderungen werden, die NATO solle sich in die Konzepte der Global Strikes oder gar der Prompt Global Strikes einbinden lassen. Mehr noch: Wenn Washington von der NATO als regionalem Abschreckungssystem spricht, dann könnte dies ungute Erinnerungen an Diskussionen in den 70er und 80er Jahren wachrufen. Damals waren gerade die europäischen NATO-Staaten intensiv bemüht, kein regionales Abschreckungssystem zuzulassen und sicherzustellen, dass die globale Abschreckung unteilbar war.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS