Atomwaffen und Raketenabwehr
USA diskutieren über neue Nukleardoktrin
von Otfried Nassauer
Vor fast genau einem Jahr weckte Barack Obama weltweit Hoffnung. Mit
seiner Rede in Prag belebte der US-Präsident die Vision einer Welt
ohne atomare Waffen neu:
O-Ton Obama (overvoice)
„Als Nuklearmacht – als einzige Nuklearmacht, die eine Atomwaffe eingesetzt
hat – haben die Vereinigten Staaten eine moralische Verantwortung, zu
handeln. Daher bekunde ich heute klar und mit Überzeugung, dass
die Vereinigten Staaten entschlossen sind, sich für den Frieden
und die Sicherheit einer Welt ohne Atomwaffen einzusetzen.“
Seine Ankündigung weckte große Erwartungen. Sie trug dazu
bei, dass Obama schon im ersten Jahr seiner Amtszeit mit dem Friedensnobelpreis
geehrt wurde. Doch in der weit verbreiteten Euphorie über sein Abrüstungsversprechen
wurde zweierlei oft übersehen.
Obamas Versprechen war zum einen nicht mehr als die Bestätigung
einer völkerrechtlichen Verpflichtung. Gemäß dem Atomwaffensperrvertrag
muss Washington seit 1970 alle Nuklearwaffen vollständig abrüsten.
Zweitens ging im allgemeinen Jubel über Obamas Ankündigung eine
weitere wichtige Passage in der Rede des US-Präsidenten fast unter.
Obama sagte auch:
O-Ton Obama (overvoice)
„Täuschen Sie sich nicht: So lange es diese Waffen gibt, werden
die Vereinigten Staaten ein sicheres und wirksames Arsenal zur Abschreckung
potenzieller Feinde aufrechterhalten und die Verteidigung unserer Verbündeten
garantieren – einschließlich der Tschechischen Republik.“
Diese zweite Aussage ist in den USA inzwischen zur wichtigsten Grundlage
für die Forderung nach einer Modernisierung der Nuklearwaffen und
ihrer Trägersysteme geworden. Für Notwendig gehalten wird sie
in Obamas Regierung vor allem von Verteidigungsminister Robert Gates und
Thomas D'Agostino, Chef der für die Atomwaffen zuständigen Nationalen
Nuklearen Sicherheitsagentur (NNSA). Beide dienten schon unter George
W. Bush. Unter ihm entwickelten sie ihre nuklearen Modernisierungspläne.
Barack Obama muss demnächst dem Kongress seinen Nuclear Posture
Review vorlegen. In diesem Bericht soll er die künftige Nuklearwaffenpolitik
seiner Regierung beschreiben und die Rolle nuklearer Waffen in der US-Strategie
neu definieren. Außerdem muss der Präsident begründen,
welche Nuklearwaffen die USA künftig benötigen bzw. welche verschrottet
werden können. Das Dokument ist seit Dezember letzten Jahres überfällig.
Die Veröffentlichung musste mehrfach verschoben werden. Hintergrund
sind Auseinandersetzungen darüber, wie weit in das Papier Obamas
angekündigte Schritte zu einer atomwaffenfreien Welt aufgenommen
werden sollen. Die Konservativen wollen nämlich das Nuklearpotenzial
der USA modern halten und möglichst wenig Einschränkungen unterwerfen.
Ein Beispiel:
- Barack Obama versprach in Prag, die Rolle nuklearer Waffen in der
nationalen Sicherheitsstrategie der USA zu reduzieren. Der Nuclear Posture
Review muss Auskunft darüber geben, wie dieses Versprechen umgesetzt
werden soll. Geklärt werden muss u.a., ob die USA sich auch weiterhin
das Recht vorbehalten, Nuklearwaffen auch gegen Staaten einzusetzen,
die keine Atomwaffen besitzen. Soll Washington künftig Gegnern,
die nur konventionelle, chemische oder biologische Waffen besitzen,
auch weiterhin mit atomarer Vergeltung drohen? Entschieden werden muss
zudem, ob Washington deklaratorisch auf den Ersteinsatz von Nuklearwaffen
ganz oder teilweise verzichtet oder sich das Recht darauf weiterhin
vorbehält.
- Ein anderes Beispiel: Schon im Wahlkampf hatte Barack Obama versprochen,
während seiner Präsidentschaft keine neuen Atomwaffen entwickeln
und bauen zu lassen. Das Pentagon und die Nukleare Sicherheitsagentur
sehen das anders: Nur wenn das Nuklearwaffenpotenzial zügig und
umfassend modernisiert werde, seien weitere Abrüstungsschritte
möglich, lautet die Begründung. Deshalb wurden etliche Milliarden
Dollar für die nächsten Jahre in den Haushaltsentwurf eingestellt,
um zwei Nuklearwaffentypen umfassend zu modernisieren: Einen Raketensprengkopf
und die auch in Europa lagernden atomaren Bomben des Typs B-61. Beide
Vorhaben bildeten unter George W. Bush den Einstieg in den Bau einer
neuen Generation atomarer Waffen. Heute werden die Projekte als Lebensdauerverlängerung
bestehender Waffen verkauft. Mit dem Nuclear Posture Review soll entschieden
werden, wie weit die nukleare Modernisierung letztlich gehen soll.
Aus europäischer Sicht ist ein weiterer Aspekt von großer Bedeutung.
Der Nuclear Posture Review wird zeigen, wie weit die Regierung Obama das
unter George W. Bush grundlegend veränderte Abschreckungssystem quasi
regio-nalisieren möchte und auf die NATO oder den Nahen Osten übertragen
will. Wenn die Führungsmacht der NATO ihre Nuklear- und Abschreckungsstrategie
ändert, so hat das zwangsläufig Auswirkungen auf die Diskussion
über das neue Strategische Konzept der Allianz, das im November verabschiedet
werden soll.
Dass Washington deutliche Änderungen plant, deutete sich in den
letzten Wochen wiederholt an. Auf einer Konferenz zur neuen NATO-Strategie
sagte Außenministerin Hillary Clinton im Februar:
O-Ton Clinton (overvoice)
„Wir glauben, dass die NATO eine eigene Raketenabwehr entwickeln muss,
so dass die Allianz Europa verteidigen kann...Aber diese gefährliche
Welt braucht weiterhin die Abschreckung. Was das genau bedeutet, darüber
gibt es in Europa eine Debatte. Wir hoffen, dass die Europäer keinen
überstürzten Schritt unternehmen werden, der die Abschreckungsfähigkeit
unterminieren könnte. In der Tat: wir wollen unsere Abschreckung
stärken durch die Raketenabwehr.“
Ein zentrales Planungsdokument des Pentagons, der Ballistic Missile Defense
Review, gibt Einblick in die US-Vorstellungen:
Zitat
„Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale Abschreckung notwendigerweise
auch [künftig] eine nukleare Komponente erfordern. Aber die Rolle
der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann
reduziert werden durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr
und anderer Fähigkeiten.“
Zur Erinnerung: Seit George W. Bush ist die nukleare Komponente nur noch
ein Bestandteil der Gesamtabschreckung, die den USA militärische
und politische Durchsetzungsfähigkeit garantieren soll. Weitere Abschreckungsbestandteile
sind die Raketenabwehr und die Fähigkeit zu raschen konventionellen
und/oder nuklearen strategischen Angriffen auf Ziele rund um den Globus.
Experten sprechen von dem Konzept der Global Strikes bzw. der Prompt Global
Strikes.
Würde dieses Konzept auf die NATO übertragen, so hätte
das positive und negative Folgen. Positiv wäre eine Reduzierung der
Rolle atomarer Waffen. Problematisch wäre dagegen, wenn der Abzug
von Nuklearwaffen vom Aufbau einer NATO-Raketenabwehr oder anderer Fähigkeiten
abhängig gemacht würde. Denn zum einen ist unklar, ob diese
Rüstungsprojekte überhaupt finanzierbar sind. Und zum anderen
wird Russland auf Dauer auch die modifizierte Raketenabwehr der USA nicht
akzeptieren – trotz des US-Verzichts, Systeme in Polen und Tschechien
zu stationieren. Zudem enthält das veränderte Raketenabwehrkonzept
eine höchst problematische, neue Komponente. Im Ballistic Missile
Defense Review wird angekündigt, dass die USA Technologien zum „frühzeitigen
Abfangen“ gegnerischer Raketen entwickeln wollen. Vom „Early Intercept“
sprechen Experten. Gemeint sind Technologien, mit denen gegnerische Raketen
schon kurz nach dem Start zerstört werden können - oder sogar
noch bevor sie abgeschossen werden. Mit anderen Worten: Technologien,
die in der NATO eine neue Diskussion über präventive Einsätze
auslösen müssten. Ähnlich umstritten könnten amerikanische
Forderungen werden, die NATO solle sich in die Konzepte der Global Strikes
oder gar der Prompt Global Strikes einbinden lassen. Mehr noch: Wenn Washington
von der NATO als regionalem Abschreckungssystem spricht, dann könnte
dies ungute Erinnerungen an Diskussionen in den 70er und 80er Jahren wachrufen.
Damals waren gerade die europäischen NATO-Staaten intensiv bemüht,
kein regionales Abschreckungssystem zuzulassen und sicherzustellen, dass
die globale Abschreckung unteilbar war.
ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für
Transatlantische Sicherheit - BITS
|