Partner oder Rivale? Russland vor dem G-8-Gipfel
von Otfried Nassauer
Ob Klimaschutz oder Hilfe für Afrika: Die Tagesordnung für Heiligendamm ist gut
gefüllt. Ein Thema aber fehlt. Russlands künftiges Verhältnis zum Westen. Oder anders
formuliert: Das Verhältnis des Westens zu Russland. Man kann trefflich darüber
spekulieren, warum gerade dieser Themenkomplex fehlt: Wird er ausgeklammert, um den Streit
nicht noch größer werden zu lassen? Ist er schon so strittig, dass darüber
besser außerhalb der Tagesordnung gesprochen wird? Oder fehlt das Thema schlicht, weil in
Russland und den USA Präsidentschaftswahlen anstehen?
Ganz gleich wie die Antwort ausfällt: Russlands künftiges Verhältnis zum Westen ist
ein Thema. Ist Russland dem Westen nur solange ein Partner, wie es dessen politische
Agenda und Ziele mitträgt? Oder soll Russland über Europas Sicherheit mit entscheiden?
Russland setzt diese Frage immer deutlicher auf die Tagesordnung. Ein ganzes Bündel
von Fragestellungen wird dazu genutzt. Immer wieder wirft Moskau die Grundsatzfrage auf:
Ist der Westen bereit, russische Interessen zu berücksichtigen, wenn es
Meinungsverschiedenheiten gibt? Themen gibt es zuhauf:
Erstens die Zukunft des Kosovos. Martti Ahtisaaris Vermittlungsvorschlag, das Kosovo in
eine überwachte Unabhängigkeit zu entlassen, wird von den meisten westlichen Staaten
unterstützt. Russland befürchtet, dass ein Präzedenzfall für künftige
Sezessionskonflikte entsteht, der es erlaubt, Teile eines Staatsgebietes für unabhängig
zu erklären, ohne dass der betroffene Staat zustimmt. Moskau will verhandeln bis Serben
und Albaner eine politische Lösung gefunden haben, die beide akzeptieren. Es
droht, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sein Veto einzulegen, falls der Westen
nicht einlenkt. Die Außenminister der G-8-Staaten konnten am Mittwoch in Potsdam nur
feststellen, man bleibe weiter im Gespräch.
Zweites Streitthema ist die Raketenabwehr: Washingtons Pläne, in Polen und Tschechien
Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems aufzustellen, lehnt Moskau weiter
kategorisch ab. Das System stelle zwar keine akute Gefährdung der nuklearen
Abschreckungsfähigkeit Russlands dar und Russland sei auch in der Lage, Gegenmaßnahmen
zu ergreifen. Es gehe aber ums Prinzip. Niemand könne Moskau garantieren, dass
Washingtons Raketenabwehr langfristig nicht auch gegen Russland gerichtet werde. Zudem
breche Washington ein politisches Versprechen, das es im Kontext der NATO-Erweiterung 1997
gegeben habe: Auf dem Territorium der neuen Mitgliedstaaten werde der Westen keine
strategisch bedeutsamen Militärpotenziale stationieren. Da Washington sein
Raketenabwehrsystem und seine strategischen Atomwaffen heute als einheitliches Ganzes
verstehe, könne man die Stationierungspläne in Polen und Tschechien nicht isoliert
betrachten. Werde stationiert, so drohe eine neue Aufrüstungsrunde. Europa könne erneut
zum Pulverfass werden.
Drittens wird über die Zukunft der Rüstungskontrolle gestritten: Nach der einseitigen
Kündigung des ABM-Vertrages über Raketenabwehrsysteme durch Washington drängt Moskau
jetzt auf Klarheit über die Zukunft anderer Rüstungskontrollverträge.
Zum einen geht es um die KSE-Verträge über konventionelle Rüstungskontrolle in
Europa. Moskau fordert, dass die NATO-Staaten ihr Versprechen halten und diese Verträge
vollständig ratifizieren. Binnen eines Jahres soll eine Lösung gefunden werden.
Andernfalls werde Russland aus dem KSE-Regime aussteigen. Das Vertragswerk müsse zudem
wie versprochen an die zweite NATO-Erweiterung angepasst werden. Um seiner Forderung
Nachdruck zu verleihen, informiert Russland die NATO nicht mehr über Truppenbewegungen
westlich des Urals. Diese Verpflichtung enthält der neue und angepasste KSE-Vertrag, der
von den westlichen Staaten im Gegensatz zu Russland noch nicht ratifiziert worden ist.
Im Kontext des Streites über die amerikanische Raketenabwehr geht es um die Zukunft
von zwei bilateralen Verträgen mit den USA: Den INF-Vertrag, der Russland und den USA den
Besitz und die Entwicklung von nuklearen und konventionellen Mittelstreckenraketen mit
Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometern untersagt. Und den START-1-Vertrag über die
Begrenzung strategischer Atomwaffen, der Ende 2009 ausläuft.
Russische Spitzenpolitiker und Militärs signalisieren, Russland könne aus dem
INF-Vertrag ausscheiden. Der Vertrag sei ein Relikt des Kalten Krieges. Heute sei er von
Nachteil, da er nur für Russland und die USA gelte, nicht aber für Staaten wie den Iran,
der solche Waffen derzeit entwickle. Spitz merken russische Militärs an, mit solchen
Waffen habe Russland eine Option zur raschen Bekämpfung amerikanischer
Raketenabwehrstellungen in Mittelosteuropa.
In dieser Woche warf Russland schließlich auch die Frage nach der Zukunft des
START-1-Vertrages auf, ohne es offen zu sagen. Moskau testete eine neue
Interkontinentalrakete, die Mehrfachsprengköpfe tragen kann. Sie soll im nächsten
Jahrzehnt veraltete russische Raketen der Typen SS-18 und SS-19 ablösen. Der Test der
neuen Rakete, wahrscheinlich eine neue Version der Topol M, sei vertragskonform,
verlautete aus Moskau. Eine kleine, versteckte Drohung. START-1 verbietet es bis 2009,
vorhandene Interkontinentalraketen nachträglich mit Mehrfachsprengköpfen auszustatten.
Läuft der Vertrag aber aus, so wäre ein solcher Schritt erlaubt.
Die Signale gen Westen sind eindeutig: Werden russische Interessen nicht hinlänglich
berücksichtigt, dann kann auch Russland unilaterale Politik machen, die bestehende
Instrumente der Rüstungskontrolle aushebelt. Die Adressaten sind klar erkennbar: Es sind
die Staaten Europas. Während die derzeitige US-Regierung mit den meisten Moskauer
Gedankenspielen und Drohungen leben kann, stellt sich den europäischen Staaten eine
sicherheitspolitische Gretchenfrage: Sind sie bereit, Moskau zu brüskieren, um Washington
entgegenzukommen? Sind sie bereit, mit den russischen Reaktionen zu leben? Die
Streitthemen sind gut gewählt. Bei jedem Thema gibt es europäische Staaten, die Moskau
auf seiner Seite wähnen kann.
Soll über zentrale Fragen europäischer Sicherheit künftig mit oder gegen Russland
entschieden werden? Auch deshalb erinnert Moskau immer wieder an das Versprechen, den
NATO-Russland-Rat so auszubauen, dass Russland und die NATO-Mitglieder dort gemeinsam
Entscheidungen treffen können.
Für Wladimir Putin offeriert dieser Ansatz zugleich eine persönliche Chance: Er wird
ziemlich sicher in die russischen Geschichtsbücher als der Präsident eingehen, der den
politischen und wirtschaftlichen Niedergang Russlands gestoppt und dem Land seine Würde
wiedergegeben hat. Mit einer strategischen Debatte, in der der Westen entscheiden muss, ob
Europas Sicherheit mit oder gegen Russland gestaltet werden soll, kann es Putin gelingen,
Gleiches auch in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen. Ein großes Risiko geht
er dabei nicht ein. Die Entscheidung, ob es eine neue Konfrontation gibt, fällt entweder
der Westen oder sein Nachfolger.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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