Die Ereignisse scheinen sich zu überschlagen:
Heute morgen ist eine US-Brigade vom Flughafen ins Zentrum von Bagdad
vorgedrungen, hat publikumswirksam eine zentrale Saddam-Statue geschleift,
einen der wichtigsten Präsidentenpaläste besetzt und kontrolliert
möglicherweise auch das irakische Informationsministerium.
Die Ziele sind Symbole, Symbole der untergehenden Macht Saddam Husseins.
Eine zweite Brigade soll aus dem Norden im Anmarsch sein und eine
Marineinfanteriedivision ist vom Südosten und bald wohl auch
vom Osten her auf dem Weg in die Stadt. Der irakische Widerstand
wird - so die zunehmend westlich dominierte Berichterstattung -
sichtlich schwächer. Manchmal ist er - nach den Erfahrungen
der letzten zwei Wochen - sogar überraschend schwach. Auf jeden
Fall ist er überraschend unkoordiniert - wohl ein Zeichen dafür,
dass viele Führungsstrukturen nicht mehr funktionieren, Koordination
fehlt.
Ob Marsch auf Bagdad, Shock and Awe aus der Luft oder jetzt
die überraschenden Vorstöße ins Zentrum der irakischen
Macht - das militärische Vorgehen vor allem der US-Truppen
konzentriert sich auf den Faktor Geschwindigkeit. Geschwindigkeit
verspricht das Heft des Handelns in der Hand des Schnellen. Geschwindigkeit
wurde genutzt, um Städte und um irakische Verbände zu
umgehen, um irakische Verteidigungsplanungen wertlos zu machen und
die irakischen Verteidiger immer wieder zu überraschen. Die
Überlegenheit der militärischen Technik der USA stand
vor allem im Dienste der Geschwindigkeit, ebenso ihre überwältigende
Zerstörungskraft. Die Nachteile dieser Vorgehensweise, so die
Probleme mit dem Nachschub und die Unterschätzung der Wirksamkeit
paramilitärischer irakischer Kräfte in den Anfangstagen
des Kriegs, wurden soweit es ohne vollständige Gefährdung
des Gesamtziels der Operation möglich war - zugunsten der Geschwindigkeit
billigend in Kauf genommen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird diese
Vorgehensweise militärisch zum Erfolg führen ganz gleich,
wie lange sich der verbleibende irakische Widerstand noch halten
kann, ganz gleich, wie viele Opfer dieser Krieg noch fordern wird.
Soweit zu einer vorläufigen Bilanz der militärischen Aspekte
des dritten Golfkrieges.
Fragen wir deshalb nun für einen Moment nach der Rolle der
Geschwindigkeit bei den kommenden politischen Entscheidungsprozessen
in Sachen Irak. Fragen wir z.B. nach den Perspektiven des Multilateralismus
und multilateraler Entscheidungsstrukturen.
Heute trifft der britische Premier Tony Blair den US-Präsidenten
George W. Bush in Nordirland. Lassen wir die potentielle Symbolik
des Treffpunktes im Blick auf die potentielle Langwierigkeit militärischer
Interventionen als Nebensächlichkeit beiseite. Fragen wir nach
dem wichtigsten Tagesordnungspunkt dieses Gipfels, nach der Rolle
der internationalen Gemeinschaft nach einem militärischen Sieg
der USA und ihrer Verbündeten. Fragen wir nach der Rolle des
Faktors Geschwindigkeit bei diesem Entscheidungsprozeß.
Einige Beobachtungen fallen sofort ins Auge: Wie schon bei Entscheidung
über den Krieg selbst, möchte Tony Blair erreichen, dass
wesentliche Entscheidungen über die Zukunft des Iraks in der
UNO getroffen werden, multilateral durch die internationale Staatengemeinschaft
abgesegnet wird. Damit will er unter anderem britische Interessen
absichern. Aber: Zugleich kann man seine Vorstellungen auch als
Versuch der Entschleunigung und damit Demokratisierung der politischen
Entscheidungsprozesse zur Zukunft des Iraks verstehen. Tony Blair
hat möglicherweise einen wichtigen Verbündeten. US-Außenminister
Colin S. Powell möchte die Entscheidungen über die Zukunft
des Iraks international einbinden, der Legitimation wegen und der
Rückwirkungen auf die internationale Perzeption des weiteren
Vorgehens. Den damit verbundenen Zeitverlust nähme er ebenso
in Kauf wie die Reibungsverluste, die jeder internationalen Abstimmung
zueigen sind. Zugleich haben Powell und Blair aber auch ein Problem.
Sie haben - übrigens konsistent im Rahmen ihrer Position -
keine fertige Lösung für eine künftige Regierung
in der Tasche, können aber, je schneller sich der militärische
Erfolg einstellt, umso mehr zu Opfern des schnellen militärischen
Erfolges werden. Denn der könnte zu raschem Handeln zwingen.
Powell ist damit innenpolitisch bereits in der Defensive.
Tony Blair sitzt George W. Bush gegenüber, der in der Irak-Politik
bislang in wesentlichen Punkten den politischen Ratschlägen
seiner neokonservativen politischen Berater und nicht denen Powells
gefolgt ist. Diese wollten weder auf dem Weg in den Krieg einen
Umweg über die UNO nehmen, noch wollen sie dies jetzt hinsichtlich
der Zukunft des Iraks. Sie sehen die amerikanischen Interessen am
besten gewahrt, wenn Washington die erforderlichen Entscheidungen
alleine und möglichst schnell trifft - stehen also für
eine Beschleunigung des
Entscheidungsprozesses, der Dritte vor die Vogel-friss-oder-stirb-Frage
stellt. Sie haben sich intensiv auf den Nachkriegsirak vorbereitet
und halten in Kuwait unter dem Deckmantel der humanitären Hilfeleistung
und unter Führung des irakerfahrenen Ex-Generals Jay Garner
eine fast komplette Okkupationsregierung samt (exil)irakischer Beratergruppe
für diesen Fall bereit. Eine soweit bekannt - ebenso skurrile
wie prominente und skeptisch machende Mannschaft. Sie lancierten
den Vorschlag, eine neue Regierung einzusetzen noch bevor die alte
kapituliert hat und drücken aufs Tempo. Zudem haben sie Platzvorteil:
Die Macht amerikanischer Gewehrläufe kann im Irak ausgeübt
werden, befehligt durch einen der ihren, US-Verteidigungsminister
Rumsfeld.
Mit anderen Worten: Der Faktor Geschwindigkeit kann und wird mit
Sicherheit eine wichtige Rolle für die Entscheidungen über
die Zukunft des Iraks spielen. Je schneller der militärische
Erfolg kommt, desto mehr leidet aber die demokratische Partizipation
in ihrer spezifischen Form des Multilateralismus. Denn angesichts
einer Beschleunigung politischer Entscheidungsprozesse, stehen multilaterale
Entscheidungsstrukturen vor derselben Problematik wie Soziale Bewegungen
in innenpolitischen Auseinandersetzungen. Sie sind kein einheitlicher,
sofort handlungsfähiger Akteur, sondern brauchen Zeit. Zeit
zur Mobilisierung und Positionsfindung.
Das sollten auch die Bundesregierung, Frankreich und Russland bedenken,
wenn sie der Frage nachgehen, in welcher Weise der Multilateralismus,
die Rolle der Vereinten Nationen, bei den Entscheidungen über
die Zukunft des Iraks gestärkt werden kann, ohne als Beigabe
eine Ex-Post-Legitimation des Angriffs auf den Irak zu schaffen.
Die Zeit, der Faktor Geschwindigkeit arbeiten höchstwahrscheinlich
gegen sie. Sie müssen sich gemeinsam mit Tony Blair fragen:
Kann man in diesem Fall wirklich durch Mitmachen mitentscheiden?
Ist auf diesem Wege unter Zeitdruck und aus einer Abwehrhaltung
heraus - überhaupt eine Stärkung echten
Multilateralismuses möglich?
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