Der Faktor Geschwindigkeit
Geschrieben am 07.04.2003 um 21.58 Uhr / von Otfried Nassauer


Die Ereignisse scheinen sich zu überschlagen: Heute morgen ist eine US-Brigade vom Flughafen ins Zentrum von Bagdad vorgedrungen, hat publikumswirksam eine zentrale Saddam-Statue geschleift, einen der wichtigsten Präsidentenpaläste besetzt und kontrolliert möglicherweise auch das irakische Informationsministerium. Die Ziele sind Symbole, Symbole der untergehenden Macht Saddam Husseins. Eine zweite Brigade soll aus dem Norden im Anmarsch sein und eine Marineinfanteriedivision ist vom Südosten und bald wohl auch vom Osten her auf dem Weg in die Stadt. Der irakische Widerstand wird - so die zunehmend westlich dominierte Berichterstattung - sichtlich schwächer. Manchmal ist er - nach den Erfahrungen der letzten zwei Wochen - sogar überraschend schwach. Auf jeden Fall ist er überraschend unkoordiniert - wohl ein Zeichen dafür, dass viele Führungsstrukturen nicht mehr funktionieren, Koordination fehlt.

Ob „Marsch auf Bagdad“, „Shock and Awe“ aus der Luft oder jetzt die überraschenden Vorstöße ins Zentrum der irakischen Macht - das militärische Vorgehen vor allem der US-Truppen konzentriert sich auf den Faktor Geschwindigkeit. Geschwindigkeit verspricht das Heft des Handelns in der Hand des Schnellen. Geschwindigkeit wurde genutzt, um Städte und um irakische Verbände zu umgehen, um irakische Verteidigungsplanungen wertlos zu machen und die irakischen Verteidiger immer wieder zu überraschen. Die Überlegenheit der militärischen Technik der USA stand vor allem im Dienste der Geschwindigkeit, ebenso ihre überwältigende Zerstörungskraft. Die Nachteile dieser Vorgehensweise, so die Probleme mit dem Nachschub und die Unterschätzung der Wirksamkeit paramilitärischer irakischer Kräfte in den Anfangstagen des Kriegs, wurden – soweit es ohne vollständige Gefährdung des Gesamtziels der Operation möglich war - zugunsten der Geschwindigkeit billigend in Kauf genommen. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wird diese Vorgehensweise militärisch zum Erfolg führen – ganz gleich, wie lange sich der verbleibende irakische Widerstand noch halten kann, ganz gleich, wie viele Opfer dieser Krieg noch fordern wird. Soweit zu einer vorläufigen Bilanz der militärischen Aspekte des dritten Golfkrieges.

Fragen wir deshalb nun für einen Moment nach der Rolle der Geschwindigkeit bei den kommenden politischen Entscheidungsprozessen in Sachen Irak. Fragen wir z.B. nach den Perspektiven des Multilateralismus und multilateraler Entscheidungsstrukturen.

Heute trifft der britische Premier Tony Blair den US-Präsidenten George W. Bush in Nordirland. Lassen wir die potentielle Symbolik des Treffpunktes im Blick auf die potentielle Langwierigkeit militärischer Interventionen als Nebensächlichkeit beiseite. Fragen wir nach dem wichtigsten Tagesordnungspunkt dieses Gipfels, nach der Rolle der internationalen Gemeinschaft nach einem militärischen Sieg der USA und ihrer Verbündeten. Fragen wir nach der Rolle des Faktors „Geschwindigkeit“ bei diesem Entscheidungsprozeß.

Einige Beobachtungen fallen sofort ins Auge: Wie schon bei Entscheidung über den Krieg selbst, möchte Tony Blair erreichen, dass wesentliche Entscheidungen über die Zukunft des Iraks in der UNO getroffen werden, multilateral durch die internationale Staatengemeinschaft abgesegnet wird. Damit will er unter anderem britische Interessen absichern. Aber: Zugleich kann man seine Vorstellungen auch als Versuch der Entschleunigung und damit Demokratisierung der politischen Entscheidungsprozesse zur Zukunft des Iraks verstehen. Tony Blair hat möglicherweise einen wichtigen Verbündeten. US-Außenminister Colin S. Powell möchte die Entscheidungen über die Zukunft des Iraks international einbinden, der Legitimation wegen und der Rückwirkungen auf die internationale Perzeption des weiteren Vorgehens. Den damit verbundenen Zeitverlust nähme er ebenso in Kauf wie die Reibungsverluste, die jeder internationalen Abstimmung zueigen sind. Zugleich haben Powell und Blair aber auch ein Problem. Sie haben - übrigens konsistent im Rahmen ihrer Position - keine „fertige“ Lösung für eine künftige Regierung in der Tasche, können aber, je schneller sich der militärische Erfolg einstellt, umso mehr zu Opfern des schnellen militärischen Erfolges werden. Denn der könnte zu raschem Handeln zwingen. Powell ist damit innenpolitisch bereits in der Defensive.

Tony Blair sitzt George W. Bush gegenüber, der in der Irak-Politik bislang in wesentlichen Punkten den politischen Ratschlägen seiner neokonservativen politischen Berater und nicht denen Powells gefolgt ist. Diese wollten weder auf dem Weg in den Krieg einen Umweg über die UNO nehmen, noch wollen sie dies jetzt hinsichtlich der Zukunft des Iraks. Sie sehen die amerikanischen Interessen am besten gewahrt, wenn Washington die erforderlichen Entscheidungen alleine und möglichst schnell trifft - stehen also für eine Beschleunigung des Entscheidungsprozesses, der Dritte vor die „Vogel-friss-oder-stirb-Frage“ stellt. Sie haben sich intensiv auf den Nachkriegsirak vorbereitet und halten in Kuwait unter dem Deckmantel der humanitären Hilfeleistung und unter Führung des irakerfahrenen Ex-Generals Jay Garner eine fast komplette Okkupationsregierung samt (exil)irakischer Beratergruppe für diesen Fall bereit. Eine soweit bekannt - ebenso skurrile wie prominente und skeptisch machende Mannschaft. Sie lancierten den Vorschlag, eine neue Regierung einzusetzen noch bevor die alte kapituliert hat und drücken aufs Tempo. Zudem haben sie Platzvorteil: Die Macht amerikanischer Gewehrläufe kann im Irak ausgeübt werden, befehligt durch einen der ihren, US-Verteidigungsminister Rumsfeld.

Mit anderen Worten: Der Faktor „Geschwindigkeit“ kann und wird mit Sicherheit eine wichtige Rolle für die Entscheidungen über die Zukunft des Iraks spielen. Je schneller der militärische Erfolg kommt, desto mehr leidet aber die demokratische Partizipation in ihrer spezifischen Form des Multilateralismus. Denn angesichts einer Beschleunigung politischer Entscheidungsprozesse, stehen multilaterale Entscheidungsstrukturen vor derselben Problematik wie Soziale Bewegungen in innenpolitischen Auseinandersetzungen. Sie sind kein einheitlicher, sofort handlungsfähiger Akteur, sondern brauchen Zeit. Zeit zur Mobilisierung und Positionsfindung.

Das sollten auch die Bundesregierung, Frankreich und Russland bedenken, wenn sie der Frage nachgehen, in welcher Weise der Multilateralismus, die Rolle der Vereinten Nationen, bei den Entscheidungen über die Zukunft des Iraks gestärkt werden kann, ohne als Beigabe eine Ex-Post-Legitimation des Angriffs auf den Irak zu schaffen. Die Zeit, der Faktor „Geschwindigkeit“ arbeiten höchstwahrscheinlich gegen sie. Sie müssen sich gemeinsam mit Tony Blair fragen: Kann man in diesem Fall wirklich durch Mitmachen mitentscheiden? Ist auf diesem Wege – unter Zeitdruck und aus einer Abwehrhaltung heraus - überhaupt eine Stärkung echten Multilateralismuses möglich?

 

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