"Russland will Europa zur Entscheidung zwingen"
Interview mit Otfried Nassauer
Russlands Präsident Putin droht damit, aus dem INF-Vertrag zur atomaren
Abrüstung auszusteigen. Würde das zu einem neuen Wettrüsten führen, Herr Nassauer?
Nassauer: Ein neuer Rüstungswettlauf ist nicht beabsichtigt. Die russische
Drohung, auf den INF-Vertrag zu verzichten, hat eine andere Stoßrichtung: Russland will
einerseits erreichen, dass die amerikanischen Pläne für eine Raketenabwehr in Europa
scheitern auch um sich selbst wirtschaftlich teure Gegenmaßnahmen zu ersparen.
Andererseits sollen die europäischen Staaten gezwungen werden, sich zu entscheiden, ob
sie Sicherheit in Europa mit oder gegen Russland gestalten wollen. Ganz ähnlich gelagert
ist auch die russische Aussage, man könne auf das KSE-Regime, die Abkommen über
konventionelle Rüstung in Europa, notfalls verzichten.
Auf der russischen Seite wird argumentiert, man könne sich durch die
Beschränkungen des INF-Vertrages nicht mehr ausreichend vor neuen Bedrohungen schützen.
Wie berechtigt ist diese Befürchtung?
Nassauer: Russland bringt hier ein Argument vor, das auch die Amerikaner 2001
schon benutzt haben. Sie stellten den INF-Vertrag damals bereits infrage, weil er nur
Washington und Moskau bindet. Russland argumentiert, dass Nachbarstaaten wie Pakistan,
Indien oder der Iran Raketen entwickeln dürfen, die Russland nicht besitzen darf. Dieses
Argument ist zugleich eine indirekte Offerte an die USA: Wenn alle Staaten dazu gebracht
werden können, auf solche Waffen zu verzichten, würde die Welt sicherer, und die
Argumente für Raketenabwehrsysteme würden dünner.
Wie stark ist Russland im Moment in der internationalen Politik?
Nassauer: Unter Präsident Putin ist Russland politisch und wirtschaftlich
stabiler, stärker und handlungsfähiger geworden. Putin möchte das gerne nutzen, um
Russland auch außenpolitisch zu mehr Gewicht und alter Größe zurückzuführen.
Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass Russland noch lange nicht wieder die Supermacht ist,
die mit den USA direkt konkurrieren könnte. Drohungen in der Rüstungskontrollpolitik,
verbunden mit Kooperationsangeboten, sollen signalisieren, dass Russland von den
Amerikanern auf Augenhöhe und von den Europäern als strategischer Partner betrachtet
werden will.
Könnte es Russland denn gelingen, die amerikanischen Pläne zur
Raketenabwehr zu durchkreuzen?
Nassauer: Russland allein sicher nicht. Ein Verbund aus Russland, europäischen
Gegnern des Vorhabens und amerikanischen Demokraten aber kann dem Weißen Haus faktisch
die Möglichkeit nehmen, das Projekt jetzt unumkehrbar zu machen zum Beispiel,
indem die Gelder für die Vorbereitung der Stationierung der Abfangraketen in Polen nicht
freigegeben werden.
Wie sollten sich die Europäer in diesem Streit verhalten?
Nassauer: Europa sollte auf die strategischen, sicherheitspolitischen Interessen
Russlands deutlich eingehen. Das kann Europa am besten, indem es
rüstungskontrollpolitisch auf Russland zugeht. Durch Rüstungskontrolle abgesicherte
Stabilität in Europa ist ein Kerninteresse Europas. Ein wichtiger Schritt wäre ein
KSE-3-Vertrag, der den erlaubten Umfang konventioneller Streitkräfte neu festlegt und die
diversen Nato-Osterweiterungen berücksichtigt. Außerdem könnte Europa auf die
amerikanische Seite einwirken, die Pläne für eine Raketenabwehr in Europa zurzeit nicht
zu realisieren. Dafür gibt es im Moment keinen Bedarf und auch keinen großen Zeitdruck
anders als es in der Öffentlichkeit oft dargestellt wird.
Das Interview führte Fabian Leber. |
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
|