cicero.de
22. März 2011


"Der Westen hat keine gemeinsame Strategie"


Die Intervention der Alliierten in Libyen geht weiter und wirft die Frage nach der Legitimität eines solchen Einsatzes auf. Welche Ziele werden eigentlich verfolgt und auf welcher rechtlichen Grundlage? Ein Interview mit dem Friedensforscher und Militärexperten Otfried Nassauer.


Cicero: Die Ereignisse in Libyen überschlagen sich. Plötzlich wird von Krieg gesprochen, dabei ging es doch eigentlich „nur“ um eine Flugverbotszone. Was ist da passiert?

Nassauer: Das Mandat für eine Flugverbotszone wurde zunächst sehr weit ausgelegt. Das lief nach folgendem Argumentationsmuster: Um die Zivilbevölkerung zu schützen, muss nicht nur Gaddafis Luftwaffe am Boden gehalten werden, sondern auch die Luftverteidigung ausgeschaltet werden. Bodentruppen, die für die Bevölkerung eine Gefahr darstellen, müssen aus der Luft bekämpft werden. Ebenso deren Nachschub und die Befehlszentralen. Manche erweckten sogar den Eindruck, man müsse Gaddafi aus der Macht bomben. Inzwischen geht man nicht mehr ganz so weit. Hinter diesen Argumenten zeigen sich aber unterschiedliche Zielsetzungen der westlichen Länder: Ein Teil plant zum Schutz der Zivilbevölkerung eine Flugverbotszone einzurichten und eine möglichst kurze militärische Aktion durchzuführen. Ein anderer Teil geht weiter: Es ´geht nicht nur darum, die Zivilbevölkerung zu schützen, sondern auch die Rebellen zu stärken und auf die Ablösung Gaddafis hinzuarbeiten. Die USA sagen beispielsweise Gaddafi stehe nicht auf ihrer Ziel-Liste. Die Briten und Franzosen sahen das zunächst anders.


Die Kriegskoalitionäre sind sich uneinig in ihrer Zielsetzung?

Sie haben offensichtlich ein unterschiedliches Verständnis davon, wieweit diese Operation gehen soll.


Ist denn keine gemeinsame Strategie zu erkennen?

Gemeinsam ist den Koalitionären, dass sie ein militärisches Eingreifen für richtig halten. Es gibt aber keine gemeinsame Strategie, die bis zu Ende gedacht ist. Wann ist das Ziel erreicht? Wenn die Zivilbevölkerung geschützt ist? Wenn die Rebellen sich Gaddafis wieder selbst erwehren können? Oder erst, wenn Gaddafi nicht mehr an der Macht ist? Das ist ein Grund, warum manche Staaten dieser Operation skeptisch gegenüber stehen. Es gibt logischerweise auch Widersprüche in der Frage, wer die Führung haben soll: Frankreich, die USA, die NATO oder die UNO. Die USA haben kein besonderes Interesse daran, eine neue Intervention im arabischen Raum zu verantworten. Auf der anderen Seite würden die Franzosen gerne demonstrieren, dass sie bzw. Europa in der eigenen Nachbarschaft auch militärische Verantwortung übernehmen. Viele europäische NATO-Staaten würden allerdings lieber der NATO die Führung anvertrauen als den Franzosen. Mit der NATO sind aber weder die Franzosen noch die Türken glücklich.


Wer ist die treibende Kraft in der Allianz? Die Briten? Der britische Premier Cameron war einer der ersten der eine Flugverbotszone forderte.

Die Franzosen und Briten sind die treibenden Kräfte in der Mandatsfrage gewesen. Allerdings würden die Briten es lieber unter NATO-Kommando machen und die Franzosen lieber in Paris koordinieren. An dieser Uneinigkeit lässt sich erkennen, dass der Einsatz letztlich übereilt und unter Zeitdruck beschlossen wurde, ohne dass im Vorfeld über wichtige Fragen Einigkeit erzielt wurde. Das betrifft sowohl die Frage der Zielsetzung, als auch die Kommandofrage.


Ist es möglich auf Grundlage der UN-Resolution Bodentruppen zu entsenden?

Die Resolution sollte keinen größeren Einsatz westlicher Truppen am Boden erlauben, das forderte jedenfalls die Arabische Liga, die den Antrag auf eine Flugverbotszone einbrachte. Der Text der Resolution verbietet jedoch nur „Besatzungstruppen“. Man könnte also fragen: Ist der kurzzeitige Einsatz von Bodentruppen durch die Resolution gedeckt? Zum Schutz der Zivilbevölkerung? Zur Unterstützung der Rebellen? Diejenigen, die die Resolution als Legitimation für einen Sturz Gaddafis interpretieren, könnten argumentieren, dass wer A sagt, letztlich auch B sagen und bereit sein muss, den Rebellen aus der Luft den Weg freizubomben und falls das nicht reicht, ihnen auch am Boden zu helfen. Dagegen steht die Forderung der Resolution nach einem schnellen Waffenstillstand. Muss diese auch gegen die Rebellen durchgesetzt werden? Das ist ein weiteres Beispiel dafür, dass diese Resolution mit der heißen Nadel gestrickt wurde und letztlich nicht zuende gedacht ist.


Gibt es einen gemeinsamen Hintergrund für all diese Streitigkeiten und unbeantworteten Fragen?

Ja. Mit der Resolution über eine Flugverbotszone über Libyen mandatiert die UNO erstmals ein militärisches Eingreifen in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates auf Basis des Konzeptes der „Responsibility to Protect“. Also einer Schutzverantwortung der internationalen Gemeinschaft, die greift, wenn ein Staat Völkermord an seiner eigenen Bevölkerung begeht, massive Menschenrechtsverletzungen praktiziert oder Massenvertreibungen durchführt. Weil es das erste Mal ist, handelt es sich zudem um den Präzendenzfall, der zurate gezogen wird, wenn das Konzept künftig angewendet werden soll. Wie weit darf man gehen, wenn man die Zivilbevölkerung schützen will? Darf auch ein Regierungswechsel erzwungen werden? Besonders heikel ist es auch deshalb, weil die UN-Charta bisher kein Recht der internationalen Gemeinschaft kennt, sich in die inneren Angelegenheiten eines Mitgliedstaates einzumischen. Streng genommen ist dieses Recht noch kein Völkerrecht, aber die Befürworter sehen es als Völkerrecht im Werden und befürworten deshalb, dass es auch weit ausgelegt werden kann. Es geht ja darum, wann man auf künftig auf diese Möglichkeit zurückgreifen kann, um Interventionen zu rechtfertigen.


Worin bestehen die Probleme mit der responsibility to protect?

Es gibt etliche. Ich nannte bereits den Widerspruch zum Verbot der militärischen Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Staates. Aber der Fall Libyen zeigt auch noch andere Probleme auf. Die Gründe für ein Eingreifen sind letztlich sehr interpretierbar. Wann liegt ein Völkermord vor, der eine Intervention rechtfertigt? Wann droht er? Wann sind Menschenrechtsverletzungen schwerwiegend genug, um ein militärisches Eingreifen zu rechtfertigen? Wann greift man ein, wann nicht? Zu welchem Zeitpunkt? In der Elfenbeinküste sterben ja auch derzeit Hunderte, Tausende Menschen in einem Bürgerkrieg. Dort zieht aber niemand eine Intervention in Betracht. Wenn die responsibility to protect universell anerkanntes Völkerrecht werden soll, dann müsste sie immer gelten, in jedem Fall, wo ein Regime seine Bevölkerung schwerwiegend bedroht. Völkerrecht darf nicht nur bei Gutwetter funktionieren. Es muss auch bei Schlechtwetter greifen. Und dann ist da noch ein Problem: Ist jedes Mal, wenn diese Schutzverantwortung wahrgenommen werden müsste, auch jemand da, der bereit und stark genug ist, sie wahrzunehmen? Also Soldaten zu schicken? Wenn diese Schutzverantwortung nur dann wahrgenommen würde, wenn es opportun ist oder es im Interesse einiger starker Länder läge, dann kann sie keine Glaubwürdigkeit gewinnen, sondern verkommt zu einer x-beliebigen Interventionsrechtfertigung der Stärkeren.


Wenn ich also die responsibility to protect völkerrechtlich anerkenne, müsste ich den Maßstab, den ich für eine Intervention im Falle Libyens anlege, an alle Regime anlegen.

Sie können es nur zu einer Norm machen, wenn sie die Bereitschaft haben, diese Norm auch ohne Ansehen des potentiellen Gegenübers umzusetzen. Man darf dann nicht nur in die innerstaatliche Konflikte eingreifen, für die es öffentliche Aufmerksamkeit gibt oder in Ländern, an denen man ein besonderes Interesse hat. Man müsste auch bereit sein, die Verpflichtung zum Schutz auch in unbeachteten oder unbequemen Fällen umzusetzen. Stichwort Elfenbeinküste. Eine völkerrechtliche responsibility to protect müsste unabhängig vom konkreten Fall funktionieren. Das aber wird vermutlich nie der Fall sein. Auch wenn diese Verpflichtung moralisch wünschenswert ist, sie taugt womöglich nicht als Rechtsnorm.


Ist Libyen ein schlechter Präzedenzfall?

Wenn sie in diesem Fall mit der responsibility to protect argumentieren, dann senken sie die Schwelle für militärische Interventionen. Sie müssen von dem Prinzip der Schutzverantwortung künftig viel häufiger Gebrauch machen, als wenn ein Völkermord wie in Ruanda der Maßstab wäre. Wobei die Schwelle doch insofern relativ hoch ist, als dass es eine Zustimmung im Weltsicherheitsrat, also letztlich doch vieler Staaten braucht, damit diese Norm angewandt werden kann.
Der Umfang und die Qualität des Verbrechens, vor dem geschützt werden soll, sind andere Kriterien als die Zahl der Staaten bzw. das Gremium, das sich auf die Notwendigkeit des Eingreifens einigt. Ja, dieses Mal haben viele Staaten zugestimmt und niemand hat ein Veto eingelegt. Vermutlich nicht zuletzt aus Sympathie mit den Menschen in Libyen. Aber am Beispiel Kosovo konnte man sehen, dass auch anders argumentiert werden kann: Die UNO ist handlungsunfähig, es gibt voraussichtlich ein Veto, also verzichten wir auf das UN-Mandat und machen es alleine. Der Krieg um das Kosovo und dessen nachträgliche Legalisierung war ja ein wesentliches Motiv dafür, überhaupt eine Konstruktion wie die Responsibility to Protect zu entwickeln. Und die wirft nicht nur Probleme auf, sondern ist wahrscheinlich als völkerrechtliche Norm nicht tauglich.


Was glauben Sie wie es weiter gehen wird?

Zunächst muss sich der Westen entscheiden, ob er einen längeren oder eine kurzen Militäreinsatz will. Dann muss sich zeigen, ob er den Rebellen freie Hand lässt und ob diese stark genug sind, um sich gegen Gaddafis Truppen durchzusetzen, zunächst in den Rebellengebieten, und dann im Westen. Einen echten Ausblick kann man im Moment nicht wagen, weil es zu viele Unwägbarkeiten gibt. Zumal: Im Westen weiß keiner so recht, wer die Rebellen eigentlich wirklich sind und vor allem, was sie wollen und wie einig sie sich sind, wenn es darauf ankommt, ein neues Libyen zu gestalten.

Das Gespräch führte Timo Stein


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS.