Streitkräfte und Strategien - NDR info
01. Juli 2006


Keine Katastrophe?
Nachdenken über einen Iran mit Atomwaffen

Gastbeitrag von Jürgen Rose

"Es gibt nur eines, was noch schlimmer ist als eine Militäraktion – das ist ein nuklear bewaffneter Iran." – Mit diesen Worten bringt US-Senator John McCain die Haltung derer auf den Punkt, die eine Atommacht am Persischen Golf um jeden Preis verhindern wollen. Auf der Linie dieser Scharfmacher liegt auch Präsident Bush, wenn er fordert: "Der Iran darf keine Atombombe haben." Ganz in diesem Sinne haben zudem die so genannten EU-3 – also Frankreich, Großbritannien und Deutschland - mit der iranischen Seite über deren Programm zur zivilen Atomenergienutzung verhandelt. Geteilt und unterstützt wird die transatlantische Interessenlage von der israelischen Regierung. Shaul Mofaz, vor einigen Monaten noch Verteidigungsminister, drohte als Kabinettsmitglied, sein Land werde Atomwaffen in iranischem Besitz unter gar keinen Umständen dulden. Zur Erinnerung: Israel selbst verfügt über schätzungsweise 200 bis zu 500 nukleare Gefechtsköpfe und ist damit mittlerweile zur viert- oder gar drittstärksten Atommacht der Welt aufgestiegen.

Mit ihren kriegerischen Tönen begeben sich die Hardliner jedoch in eine tückische Argumentationsfalle. Denn der Verhandlungsprozess könnte scheitern und am Ende ist nicht ausgeschlossen, dass der Iran sogar von seinem verbrieften Recht Gebrauch macht, seine Mitgliedschaft im so genannten "Atomwaffensperrvertrag" zu kündigen. Dann stünden die Verfechter einer harten Linie vor dem selbstgesetzten Zwang, ihren großspurigen Worten auch kriegerische Taten folgen zu lassen. Zudem wird verschleiert, dass es neben den immer wieder diskutierten Wirtschaftssanktionen durchaus noch einen anderen Ausweg aus der Atomkrise gibt. Nämlich: Die Weltgemeinschaft akzeptiert zähneknirschend eine Atommacht Iran und versucht, die Konfliktlage im Nahen und Mittleren Osten mit nichtmilitärischen Mitteln zu entschärfen.

Ganz in diesem Sinne ist der Zwischenruf zu verstehen, den Zbigniew Brzezinski, der ehemalige Nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Jimmy Carter, schon vor einem Jahr ertönen ließ. Unbeeindruckt vom alarmistischen Stakkato diesseits und jenseits des Atlantiks erklärte dieser klassische Vertreter der realistischen Schule, dass er einen moderaten Iran mit Atomwaffen einem feindseligen vorzöge, der aus Furcht vor einer Intervention der USA ständig versuchte, sich nuklear zu bewaffnen. Letzterer sei nämlich "weitaus gefährlicher als ein moderates, atomar bewaffnetes Land". Diesseits des Atlantiks fand Brzezinski Unterstützung von Altbundeskanzler Helmut Schmidt, ebenfalls ein erfahrener Realpolitiker. Im April dieses Jahres erklärte der SPD-Politiker, die iranische Atompolitik stelle aus seiner Sicht, so wörtlich, "keine akute Bedrohung des Friedens" dar. An die Adresse der Scharfmacher gerichtet, forderte Helmut Schmidt mehr Gelassenheit und warnte eindringlich vor militärischen Sanktionen. Insbesondere sollte "Washington", so Schmidt, "weiter auf Verhandlungen setzen, statt schon wieder mit einer »Koalition der Willigen« zu drohen." Noch dezidierter reiht sich der Chef-Außenpolitiker der Europäischen Union, Javier Solana, in die Phalanx der Realisten ein, wenn er zu Protokoll gibt: "Jede Art von militärischem Vorgehen ist für uns ausgeschlossen." Flankendeckung für die realistische Position gab auch der ehemaligen KFOR-Befehlshaber Klaus Reinhardt. Der Vier-Sterne-General verweist auf die strategische Einkreisung des Irans durch die US-Militärpräsenz im Irak, in Afghanistan, Pakistan sowie am Golf. Sie wird vom Mullah-Regime als Bedrohung wahrgenommen. Daher plädiert Reinhardt nachdrücklich dafür, "den Iranern mit einer Art Sicherheitsgarantie, mit einer Art Sicherheitsabkommen dieses Argument aus der Hand zu nehmen, dass sie bedroht seien". Dass gerade ein durch die Hochphase des Kalten Krieges geprägter Spitzenmilitär und promovierter Historiker so argumentiert, ist nicht verwunderlich. Denn seine geschichtliche und militärpolitische Erfahrung besagt, dass nukleare Abschreckung in der Vergangenheit stets funktioniert hat und dies bis heute weiterhin tut – so moralisch verwerflich Nuklearwaffen auch zweifellos sein mögen.

Folgerichtig verläuft unter Experten der so genannten "Strategic Community" der Diskurs im Hintergrund bedeutend rationaler. So berichtete die renommierte britische Fachzeitschrift Jane’s Intelligence Review Ende letzten Jahres, dass die "Pragmatiker innerhalb der US-Administration" sich bereits mit dem Aufstieg Irans zur Atommacht abgefunden hätten. In ihren Langfristplanungen beschäftigten sich deshalb die Politstrategen und Militärplaner vornehmlich mit dem Problem der "Eindämmung" eines nuklear bewaffneten Irans. Erleichtert würde diese Aufgabe dadurch, dass die Anzahl möglicher Atomwaffen aufgrund extremer Knappheit an kernwaffentauglichem Spaltmaterial anfänglich nur äußerst langsam aufwüchse. Zudem seien die iranischen Trägersysteme längst nicht ausgereift. Das Hauptproblem bestünde darin, die iranische Führung davon abzuhalten, ihre Nuklearwaffen in einer Krise präemptiv, also frühzeitig, einzusetzen – aus der Furcht heraus, diese Systeme könnten durch einen gegnerischen Erstschlag ausgeschaltet werden. Die iranische Führung müsse dazu bewogen werden, ihre zukünftigen Atomwaffen als reine Abschreckungs- und Vergeltungsinstrumente gegen eine existentielle Bedrohung von außen zu betrachten.

Dass den Mullahs eine verantwortungsbewusste Handhabung von Nuklearwaffen prinzipiell nicht abgesprochen werden könne, beweist nach Ansicht der britischen Fachzeitschrift ihr Umgang mit den Chemiewaffen, über die Teheran seit dem Krieg mit dem Irak in den 80er Jahren verfügt. Der Iran habe diese Massenvernichtungsmittel damals weder zu offensiven Kriegshandlungen noch gegen die irakische Zivilbevölkerung eingesetzt. Außerdem habe Teheran sichergestellt, dass diese Waffen nicht in die Hände von Terroristen gelangten.

Auch in Israel selbst lässt sich ein Wandel in der Strategiedebatte beobachten, wie ein weiterer Beitrag in Jane’s Intelligence Review vom Januar dieses Jahres belegt. Demnach gelangt eine "wachsende Zahl israelischer Analysten zu der Auffassung, dass nukleare Parität, obwohl risikobehaftet, zu Stabilität und Frieden in der Region beitragen könnte". Reuven Pedatzur, Direktor des »Galilee Centre for Strategy and National Security«, prognostiziert einen fundamentalen Wandel der israelischen Nuklearstrategie. Unter den Vorzeichen atomarer Rivalität mit Iran würde Israel seine bislang verfolgte Verschleierungspolitik aufgeben und durch eine klare Abschreckungsdoktrin ersetzen. Leon Hadar, ein israelischer Forscher am Washingtoner Cato-Institut setzt darauf, dass "die Existenz nuklearer Waffen das Verhalten beider Seiten dämpft und die Wahrscheinlichkeit offener Aggression reduziert". Ein Abschreckungssystem würde die Konfliktgegner dazu zwingen, miteinander auf sicherheitspolitischen Kanälen zu kommunizieren. Dies wiederum setze aber voraus, den jeweils anderen als rationales Gegenüber wahrzunehmen. Israel könne es durchaus wagen, sich auf einen solchen strategischen Diskurs einzulassen. Denn es verfügt über eine gesicherte Zweitschlagsfähigkeit und wäre damit nach einem Angriff zu atomarer Vergeltung in der Lage. Zur Verfügung hierfür stehen die von Deutschland gelieferten Dolphin-U-Boote, F-15I Jagdbomber US-amerikanischer Provenienz und Jericho-2 Raketen aus eigener Produktion. Zudem besitzen die israelischen Streitkräfte in Gestalt der "Arrow-2" das einzig funktionierende Raketenabwehrsystem weltweit. Daraus folgert der Israeli Reuven Pedatzur: "Abschreckung wird funktionieren, genauso wie es zwischen den Supermächten [im Kalten Krieg] der Fall war." Und da sich die israelische Führung auf die Auseinandersetzung mit Iran konzentrieren müsse, stünde sie zugleich unter verstärktem Druck, den Friedensprozess mit den direkten arabischen Nachbarn voranzutreiben. Paradoxerweise könne daher der Verlust des israelischen Atommonopols und ein Gleichgewicht der Mächte dazu beitragen, die Friedenslösung zu erreichen, an der Israel schon so lange gelegen sei.


 

Dipl. Päd. Jürgen Rose ist Oberstleutnant der Bundeswehr. Er vertritt in diesem Beitrag nur seine persönlichen Auffassungen.