Der Atomstreit mit dem Iran
Chancen für eine neue EU-Mittel- und Nahostpolitik
von Mohssen Massarrat
Die drei EU-Staaten Deutschland, Frankreich und England haben Mitte November mit dem
Iran eine Absichtserklärung vereinbart. Darin verpflichtet sich der Iran, die
Urananreicherung nur solange auszusetzen bis die Vereinbarungen mit der EU Vertragsform
angenommen haben. Im Gegenzug erklärten sich die drei EU-Staaten u. a. bereit, Irans
Beitritt in die WTO aktiv zu unterstützen, auf nuklearem Gebiet zusammenzuarbeiten und
Iran eindeutige Sicherheitsgarantien zu gewähren.
Damit ist der Konflikt nicht gelöst, sondern - unabhängig davon, wie sich die
Internationale Atomenergie Organisation (IAEO) in Wien entscheidet - nur aufgeschoben. Der
Iran will sich das Recht auf Urananreicherung grundsätzlich vorbehalten, alle
maßgeblichen Institutionen des Landes, das Parlament, der Staatspräsident und der
Revolutionsführer legten sich längst darauf fest. Der nachträgliche Wunsch Irans, eine
geringe Anzahl von Gaszentrifugen von der Suspendierung auszunehmen, soll dieses Recht
unterstreichen. Die Verhandlungen der EU-Troika mit dem Iran bewegte sich von Anfang an
auf einem Holzweg. Beide Seiten versteckten sich hinter dem Atomwaffensperrvertrag. Die EU
gibt vor, Iran auf die Einhaltung dieses Vertrages zur Verhinderung der Weiterverbreitung
von Atomwaffen verpflichten zu wollen. Und der Iran beteuert unentwegt, mit dem
ehrgeizigen Atomprogramm und in Übereinstimmung mit jenem Vertrag den künftigen
Strombedarf decken zu wollen. Beide Seiten stecken den Kopf in den Sand, täuschen sich
selbst und die Weltöffentlichkeit und mogeln sich um den eigentlichen Konfliktkern herum.
Israel fühlte sich mit seiner Bevölkerung von ca. 6 Millionen inmitten von über 200
Millionen Arabern und Moslems schon immer bedroht und beschloß bereits in den fünfziger
Jahren, dem demographischen Ungleichgewicht gemäß der herrschenden Lehre von Balance
of Power eigene Atomwaffen entgegenzusetzen. Dadurch setzte es - gewollt oder
ungewollt - eine Eskalation des nuklearen Wettrüstens in der Region überhaupt erst in
Gang. Alle Regionalstaaten, die etwas von sich hielten, zunächst Ägypten, dann der Irak
und jetzt der Iran, wurden zur Aufrüstung regelrecht getrieben.
Der Iran mit über 65 Millionen Einwohnern und seiner geostrategisch zentralen Lage im
Zentrum des Greater Middle East kann - völlig unabhängig von der jeweiligen
politischen Ordnung - auf Dauer die atomare Bedrohung Israels nicht hinnehmen. Daher
wollen Irans Machthaber Atomwaffen, um - ebenfalls gemäß der Balance of Power -
das "Gleichgewicht des Schreckens" herzustellen. Sie handeln damit ganz und gar
"westlich rational".
Die EU, allen voran die deutsche Seite, nimmt das Sicherheitsbedürfnis Irans offenbar
nicht ernst und verhält sich - Basarmentalität hin, Basarmentalität her - genau so wie
der Iran. Sie setzt auf den Kuhhandel: wirtschaftliche Anreize gegen den dauerhaften
Verzicht auf Urananreicherung, im Klartext: Hinnahme nuklearer Vormachtstellung Israels,
ganz im Sinne von USA und Israel. Es ist nicht zu fassen: Außenpolitiker von
internationalem Rang benehmen sich wie schlechte Pädagogen, die Drohung von
Außenminister Fischer, Iran sollte sich vor einer "Fehleinschätzung der Reaktionen
der internationalen Gemeinschaft hüten", belegt die Ratlosigkeit oder mangelnde
Einsicht, dass die atomare Vormachtstellung Israels die gefährlichste Alternative ist,
Israel mehr Sicherheit zu gewähren.
Die US-Globalpolitik der Vorherrschaft und des double standard im Mittleren und Nahen
Osten hat den Nahostkonflikt verschärft, das Desaster im Irak verursacht und ist im
Begriff, einen neuen Krieg gegen den Iran heraufzubeschwören. Die EU und Deutschland
stehen vor einem historischen Scheideweg: entweder sich weiterhin innerhalb der Sackgasse
der US-Mittel- und Nahostpolitik zu bewegen und die Lasten der Unglaubwürdigkeit dieser
Politik mit den Vereinigten Staaten zu teilen oder zu einer eigenständigen und
zukunftsweisenden Mittel- und Nahostpolitik zu finden, die Zeit dazu ist jedenfalls so
reif wie nie zuvor.
Die Frontlinien verlaufen nicht - wie viele annehmen - zwischen USA und Europa, sondern
zwischen Multilateralisten und Unilateralisten auf beiden Seiten des Atlantiks. Europas
Multilateralismus hat somit in den USA einflussreiche Verbündete. Eine selbstbewusste und
offensive Haltung der EU mit glaubwürdigen Konzepten zum Irak-Krieg, zum Nahost-Konflikt
und zum Konflikt mit dem Iran würde diese Kräfte ganz sicher stärken, eigentlich sehnen
sie sich nach zukunftsweisenden Initiativen aus Europa. Es wäre für Europa daher
verhängnisvoll, eigene Handlungsmöglichkeiten zu unterschätzen. Nichtstun in der
Hängematte der Ablehnung des Irak-Krieges mag sehr bequem sein, ist jedoch nicht nur
defensiv, vielmehr verantwortungslos. Die Chance muss gerade jetzt nach der Wiederwahl von
George W. Bush vorsichtig, aber mit Konsequenz genutzt werden.
Das Moratorium mit dem Iran und das Machtvakuum in Palästina bietet der EU die
Gelegenheit zu einer Neuorientierung. Dies bedeutet die Abkehr von der Politik der
falschen Prioritäten: Ziele, wie eine massenvernichtungswaffenfreie Zone und die
Gründung eines palästinensischen Staates, die für einen dauerhaften Frieden und die
Demokratisierung der gesamten Region so zentral sind, dürften nicht einzig von einem Ende
des palästinensischen Terrors gegen Israel abhängig gemacht werden. Damit werden diese
so entscheidenden Ziele geradezu zur Geisel extremistischer Kräfte beider Seiten, die all
das vehement bekämpfen. Die Neuorientierung hieße für die EU: erstens Israels
Atomwaffenarsenale nicht länger zu tabuisieren und das Ziel einer
massenvernichtungswaffenfreien Zone im Mittleren und Nahen Osten sofort auf die Agenda
internationaler Diplomatie zu setzen und es auch zur vordringlichsten Aufgabe zu erklären
- die Arabische Liga hat sich bereits im September bei der IAEO vehement dafür eingesetzt
- und zweitens die Konfliktparteien, d. h. Israel, Iran und alle anderen Regionalstaaten
aufzufordern, sich diesem Ziel verbindlich zu verpflichten. Alle weiteren Ziele, darunter
Israels Sicherheit, Verzicht Irans auf Atomwaffentechnologien und Schaffung eines
palästinensischen Staates, ordnen sich dann dieser Prioritätenabfolge unter. Diese
Perspektie stärkt nicht nur die Multilateralisten in den USA, sondern auch die Reform-
und Friedenskräfte im gesamten Mittleren und Nahen Osten, nicht zuletzt auch in Israel.
ist gebürtiger Iraner, lehrt
Politikwissenschaft an der Universität Osnabrück und forscht u. a. über
Konfliktstrukturen und Friedensperspektiven im Mittleren und Nahen Osten
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