Recherchieren am Extrem - das Massaker von Srebrenica
Huub Jaspers
1. Vorbemerkungen
Den Titel für meinen Vortrag, den das DJV-Bildungswerk mir gegeben hatte, habe ich mit
Ausnahme eines Wortes übernommen, weil er prägnant umreisst, was ich referieren will.
Das einzige Wort, das ich nicht übernommen habe, ist das Wort "Völkermord".
Ich weiss, dass dieser Begriff oft benutzt wird, um das Massaker von Srebrenica zu
qualifizieren. Aber ich bezweifle, ob das richtig ist. Ich bin kein Jurist. Aber in der
gängigen niederländischen Defintion (Van Dale, S. 889) bedeutet Völkermord bzw.
Genozid: "die systematische Vernichtung eines Volkes oder einer Volksgruppe".
Ich glaube, die Trennung der Frauen und Kinder von den Männern in Srebrenica zeigt,
dass es hier nicht um Genozid ging. Vorwiegend die Männer von Srebrenica wurden bei den
anschliessenden Massenexekutionen ermordet, wohl weil sie als Kämpfer angesehen wurden.
Es war ein grausames Kriegsverbrechen, ein grosses Massaker mit tausenden Opfern. Aber mit
dem Begriff Völkermord möchte ich dennoch zurückhaltend sein.
Srebrenica ist - bei aller Grausamkeit und trotz des Umfangs des Massakers -
meines Ermessens etwas anderes als der Holocaust und auch etwas anderes als der
Völkermord in Ruanda 1994. Der Titel meines Vortrags lautet demnach: "Recherchieren
am Extrem das Massaker von Srebrenica"
Wir, das heisst die Radiosendung Argos, haben in den nun gut neun Jahren
seit dem Srebrenica-Drama über zwanzig Dokumentarsendungen zu diesem Thema gemacht, zu
einem bedeutenden Teil gestützt auf aufwändige eigene Recherchen. Das möchte ich
darstellen und in Relation setzen zu den zahlreichen - zum Teil sehr umfangreichen -
offiziellen Untersuchungen, die es zu diesem Drama gegeben hat.
Selbstkritisch möchte ich vorab vor allem eines anmerken: obwohl es Argos seit 1992
gibt, wurde unsere erste Srebrenica-Sendung erst am 1. September 1995, also über sechs
Wochen nach dem Fall der Enklave, gesendet. Wir waren in den dramatischen Juli-Tagen 1995
nicht in Srebrenica. Und das gilt auch für die Kollegen meiner Rundfunkanstalt VPRO und
für alle anderen Journalisten und Medien der Niederlande und der internationalen
Gemeinschaft.
2. Vom idyllisch gelegenen Silberstädtchen zum Ort des Schreckens
"Srebrenica: altes, in einem tiefen Tal verstecktes, Silberstädtchen, idyllisch
gelegen, umringt von mit Buchen bewaldeten Bergen, 6.000 Einwohner."
So eine Touristenwerbung aus dem Jahre 1990. Aber wer hatte vorher je von diesem Ort
gehört? Ich nicht, obwohl ich 1989, auf einer meiner Rucksack-Reisen quer durch das
damals noch bestehende Jugoslawien fast daran vorbeigekommen war, und zwar bei einer Reise
von Osijek im Norden des heutigen Kroatiëns nach Mostar im heutigen Bosniën. Zur
Vorbereitung dieses Vortrags habe ich es nochmal in dem Jugoslawien-Reiseführer, den ich
damals in meinem Rucksack hatte, nachgeschaut: der Ort Srbrenica kommt darin nicht vor.
Heute ist der Name Srebrenica weltbekannt. Es ist ein Schreckensname, der für eines
der grössten Kriegsverbrechen steht, die es nach dem zweiten Weltkrieg in Europa gegeben
hat. Wieviele Tote es genau gab, ist nicht bekannt. Geschätzt wird, dass es 7.000 bis
8.000 waren. Die Identifizierung der bisher in Massengräbern gefundenen Leichen ist noch
nicht abgeschlossen - neuneinhalb Jahre nachdem die muslimische Enklave im Osten Bosniens
im Juli 1995 einem serbischen Angriff zum Opfer fiel. Ein beträchtlicher Teil der Opfer
wurde bei standrechtlich Massenexekutionen erschossen.
Der Name Srebrenica steht für das Versagen der Vereinten Nationen, denn seit März
1993, als der französische General Morillon Srebrenica besuchte und von der mehrheitlich
muslimischen Bevölkerung festgehalten wurde (s. NIOD, S.1218), war das Städtchen mit ein
paar umliegenden Dörfern von der UNO zur Safe Area erklärt worden. Die
Einwohnerzahl stieg von 6.000 auf etwa 40.000. Beaufsichtigt wurde die UNO-Schutzzone von
etwa 450 leicht-bewaffneten niederländischen Blauhelmen. Die Kanonen auf
den sechsrädrigen Panzerfahrzeugen, die sie dabei hatten, waren speziell für die Mission
in Srebrenica abmontiert und durch leichtere Maschinengewehre ersetzt worden. Es war
schliesslich eine Friedensmission.
Dutchbat (Dutch Battalion), so hiess das niederländische Bataillon in Srebrenica,
konnte in den dramatischen Tagen im Sommer 1995 dann auch nicht viel mehr tun als tatenlos
zusehen wie die bosnischen Serben am 6. Juli ihren Angriff starteten, die gesamte Enklave
innerhalb weniger Tage eroberten, Frauen und Kinder deportierten und einen grossen Teil
der Männer zur Massenexekution abführten. Nicht nur Dutchbat, sondern die gesamte UNO
sah zu und tat nichts. Nach mehreren vergeblichen Anforderungen von Luftunterstützung bei
der UNO-Führung durch den Dutchbat-Kommandeur Ton Karremans warfen zwei niederländische
F-16-Kampfflugzeuge je zwei Bomben ab. Dabei wurde ein serbischer Panzer vernichtet. Das
wars.
3. Offizielle Untersuchungen im Überfluss
Der Fall der muslimischen Enklave Srebrenica ist intensiv untersucht worden, national
wie international. Es gab:
- einen vom Generalsekretär der Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen selbstkritischen
UNO-Bericht;
- Recherchen des Jugoslawien-Tribunals;
- einen Srebrenica-Untersuchungsausschuss des französischen Parlaments;
- einen Bericht der Regierung der Republika Srpska;
- einen von Belgrad in Auftrag gegebenen Bericht der serbischen Wahrheitskommission.
Ohne Anspruch auf Vollständigkeit nenne ich hier nur offizielle Berichte,
Untersuchungsberichte von Nichtregierungsorganisationen und eine ganze Reihe von Büchern
zum Thema Srebrenica lasse ich ausser Acht.
In den Niederlanden gab es mindestens sechs umfangreiche offizielle Untersuchungen zum
Fall Srebrenica:
- den Debriefings-Bericht des Verteidigungsministeriums (Oktober 1995)
- den Bericht der Kommission Van Kemenade (September 1998)
- Staatsanwaltliche Ermittlungen zur Frage, ob Dutchbatler oder andere niederländische
Militärangehörige oder Beamte strafbare Handlungen im Zusammenhang mit Srebrenica
begangen haben (diverse Male zwischen 1995 und 2001)
- den Bericht der vorläufigen parlamentarische Untersuchungskommssion Bakker
(September 2000)
- den Bereicht des Niederländischen Instituts für Kriegsdokumentation (NIOD-Bericht,
April 2002) und
- den Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses (Januar 2003)
Die bedeutendste und mit gut 6.000 Seiten auch umfangreichste Studie legte das NIOD
vor, das Niederländische Institut für Kriegsdokumentation. 1996 bekam dieses Institut,
das bis dahin fast ausschliesslich zum zweiten Weltkrieg geforscht hatte, von der
niederländischen Regierung den Auftrag, den Fall von Srebrenica zu untersuchen. Als das
NIOD gut fünf Jahre später seinen mit Spannung erwarteten Bericht am 10. April 2002
vorlegte, atmete der damalige Premierminister Kok zunächst erleichtert auf. Das NIOD
hatte nämlich relativ milde über das Versagen von Dutchbat geurteilt. Jedoch entstand in
den darauffolgenden Tagen innerhalb der Regerierung eine heftige Diskussion über die
Frage, inwiefern die Niederlande mitverantwortlich war für das Srebrenica-Drama, und auch
über die Qualität der NIOD-Studie.
Sechs Tage später, am 16. April 2002 trat dann die gesamte niederländische Regierung
zurück, nachdem zuvor sowohl der liberale Verteidigungsminister De Grave als auch der
sozialdemokratische Umweltminister Pronk angedeutet hatten, sie wollten zurücktreten. In
der Weltpresse wurde die niederländische Regierung hierfür gelobt. Jedoch möchte ich
als niederländischer Bürger dazu anmerken, dass die Tage der Regierung sowieso gezählt
waren, weil ein paar Monate später Wahlen anstanden. Ausserdem ist es in gewisser Weise
kurios, dass nun, fast sieben Jahre nach dem Srebrenica-Drama die gesamte Regierung
zurücktrat, während 1995, nachdem das Ausmass des Massakers und auch des Versagens klar
war, noch nicht einmal der damalige Verteidigungsminister Joris Voorhoeve den Hut nahm.
4. "Wiederherstellung des Misstrauens"
Bei einem Thema, das bereits so intensiv untersucht wird, von Regierungen und Instanzen
wie der UNO beauftragt, mit einem grossen Aufwand an Arbeitskraft und Mitteln, bleibt für
die Recherche von Journalisten nicht viel Spielraum. Das haben viele unserer Kollegen
damals gedacht und zugegebenermassen manchmal auch wir selbst. Wir haben es dennoch
gemacht, was uns diverse Male an den Rand der Verzweiflung brachte.
Eine zutreffende Antwort auf die Frage, warum wir recherchiert haben, gab es in einer
Kolumne in der tonangebenden Tageszeitung NRC Handelsblad im Juni 2001. Die
Autorin Elsbeth Etty schrieb damals, die Recherchen von Argos sowie der Fernsehsendung
NOVA zum mysteriösen Verschwinden eines Srebrenica-Films beim militärischen
Nachrichtendienst MID hätten gezeigt, dass eine "Wiederherstellung des
Misstrauens" notwendig sei. "Wiederherstellung des Misstrauens"
lautete auch der Titel der Kolumne. In provozierenden Worten schrieb die Autorin Etty, die
heute auch Professor an der Freien Universität Amsterdam ist: "Argwohn, Unglaube
und Skepsis brauchen wir. Der amerikanische Journalist I.F. Stone sagte, dass jede
Regierung aus Lügnern besteht. Nichts was sie sagen, dürfen wir glauben. Er hatte
Recht. Wir sind viel zu gutgläubig."
Anlass für diese bösartigen Worte war eine Argos-Sendung, in der wir aufgezeigt
hatten, dass eine von der Regierung im Sommer 1998 beauftragte Untersuchungskommission,
die Kommission Van Kemenade, trotz der weit über 1.000 Seiten, die sie
produziert hatte, keineswegs eine überzeugende Arbeit auf den Tisch gelegt hatte. Im
Widerspruch zur Schlussfolgerung von van Kemenade war mit seiner Untersuchung keineswegs
bewiesen, dass es nach dem Fall von Srebrenica keine bewusste Vertuschung seitens des
niederländischen Verteidigungsministeriums gegeben hatte. "Argos hat überzeugend
dargelegt, dass die Kommission Van Kemenade selbst Teil der
Vertuschungsoperation war." So ein Zitat aus der Kolumne der Publizistin Etty.
Und ein weiterer Satz aus ihrer NRC-Kolumne: "Van Kemenade ist dank dem
journalistischem Misstrauen von ARGOS und NOVA völlig unglaubwürdig
geworden."
5. Ein verschwundener Film als Symbol der Vertuschung
Worum ging es konkret? Bereits im Sommer 1995, unmittelbar nach dem Fall der
muslimischen Enklave, tauchten in der Presse vage Berichte auf, ein von einem
Dutchbat-Offizier in Srebrenica gemachter Film mit Fotos sei durch einen menschlichen
Fehler bei der Entwicklung in einem Fotolabor des niederländischen Nachrichtendienstes
MID vernichtet worden. Diese Berichte machten uns stutzig. Wir suchten das Gespräch mit
ehemaligen Dutchbatlern und stiessen auf das Gerücht, der Macher des Films gehe davon
aus, sein Film sei bewusst vernichtet worden oder in einem Geheimtresor gelandet.
Allerdings blieb lange unklar, wie das geschehen sein könnte und was genau auf dem Film
zu sehen war. Sogar den Namen des Machers bekamen wir trotz intensiver Suche zunächst
nicht heraus.
Unser Instinkt sagte uns, dass hinter diesem Film eine grosse Geschichte steckte. Uns
war aber auch klar, dass es ein höchst sensibles Thema war, dass wohl auch allen
Beteiligten die Brisanz klar sein würde und dass wir deshalb viel Ausdauer und Geduld
benötigen würden. Dass es so lange dauern würde, hatten wir anfangs jedoch nicht
gedacht. Erst nach etwa einem Jahr hatten wir den Namen des Fotographen herausgefunden:
Leutnant Ron Rutten. Etwa zur gleichen Zeit kamen wir ins Gespräch mit General ausser
Dienst Hans Couzy, der 1995 oberster Befehlshaber der niederländischen Landstreitkräfte
war. Er erzählte uns, dass er persönlich gesehen hatte, dass der militärische
Nachrichtendienst bereits bei der Ankunft der Dutchbatler in Zagreb versucht hatte, den
Film in die Hände zu bekommen. Das war ein Schritt voran. Aber dabei blieb es vorerst.
Nach vielen ergebnislosen Versuchen, bekamen wir dann im Frühjahr 1998 von einem
Insider, einem hochrangigen Offizier, neue Details. Entscheidend dabei war, dass er uns
erzählte, was genau auf dem Film zu sehen war. Bis dahin hatten wir nur gehört, es seien
die Leichen muslimischer Opfer gefilmt worden. Doch nun bekamen wir zu hören, dass auf
den Fotos auch Dutchbat-Soldaten zu sehen waren. Dutchbat-Soldaten, die aktiv mithalfen
bei der Deportation der Frauen und Kinder aus Srebrenica. Mit dieser Inmformation war uns
klar, dass es ein Motiv gegeben hatte, den Film verschwinden zu lassen. Unser Informant
sagte uns, die Militärführung und die Spitze des Verteidigungsministerium hätten damals
Angst gehabt, die Fotos könnten in die Presse, möglicherweise sogar in der
Weltpresse, gelangen und das Ansehen der niederländischen Streitkräfte noch mehr
beschädigen als schon geschehen war.
Das klang plausibel. Die Bilder von feiernden, tanzenden, Bier-trinkenden
Dutchbat-Soldaten in Zagreb, unmittelbar nach ihrem Abzug aus Srebrenica, gingen um die
Welt. Und das Foto auf dem Dutchbat-Kommandeur Oberstleutnant Ton Karremans sein Glas hebt
mit dem Serben-General Mladic, taucht sogar heute noch hin und wieder in der Weltpresse
auf - wie vor ein paar Monaten im Spiegel. Dabei sind die Bild-Unterschriften und die
dazugehörigen Verurteilungen schnell geschrieben und es werden die extremen Umstände,
unter denen sich diese Szenen abspielten, meist weitgehend ausgeklammert. Zur Erinnerung:
- Dutchbat war monatelang in Srebrenica eingeschlossen, zunehmend abgeschlossen von der
Versorgung mit Munition, Benzin und Lebensmitteln.
- Die 450 niederländischen Soldaten waren den angreifenden serbischen Truppen sowohl
quantitativ wie qualitativ hoffnungslos unterlegen.
- Blauhelme wurden als lebende Geiseln festgekettet an Objekte, die möglicherweise von
NATO-Flugzeugen hätten bombardiert werden können.
- Auch die bedrohten Muslime in der Enklave verhielten sich unter den gegebenen Umständen
nicht gerade freundlich den niederländischen Soldaten gegenüber. Einer der Dutchbatler,
Raviv van Rensen, wurde am 8. Juli 1995 von einer von muslimischen Kämpfern geworfenen
Handgranate getötet. Die Muslime wollten verhindern, dass die Dutchbat-Soldaten sich
gegenüber den vorrückenden Serben aus einer Stellung zurückziehen würden.
- Auf dem Dutchbat-Gelände in Potocari sassen im Juli 1995 zigtausende Flüchtlinge in
panischer Angst zusammengepfercht. Darunter viele Kinder, Frauen, Alte und Kranke
ohne medizinische Versorgung und Lebensmittel. Dabei rückten die bosnischen Serben immer
näher.
- Die mehrfachen Anfragen von Luftunterstützung durch den Dutchbat-Kommandeur Karremans
hatten sich in der UNO-Bürokratie in Luft aufgelöst.
- Auch nicht verschwiegen werden sollte, dass muslimische Kämpfer aus der Enklave heraus
Raubzüge in den umringenden serbischen Dörfern gehalten hatten. Auch dabei hatte es
Massenmorde und Vergewaltigungen gegeben.
Das macht die Worte von Oberstleutnant Karremans bei einer Pressekonferenz, in
Srebrenica habe es keinen eindeutigen Unterschied zwischen Good Guys und
Bad Guys gegeben, nicht weniger unglücklich aber begreiflich. All die hier
oben genannten Umstände sollte man vor Augen haben, bevor man ein Urteil darüber abgibt,
dass ein paar der Dutchbatler, nachdem sie heil aus der Hölle von Srebrenica raus waren,
in Zagreb erstmal Dampf ablassen mussten. Viele der Dutchbatler hatten damals allerdings
gar keinen Bock auf Feiern und Bier. Bilder davon gelangten natürlich nicht in die
Weltpresse.
Auch wissen sollte man, dass mindestens jeder fünfte der 450 Dutchbatler später
ernsthafte psychische Probleme bekommen hat. Manche landeten in Alkohol- und Drogensucht
oder in der Kriminalität. Und bei einigen war das Srebrenica-Trauma so gross, dass sie
sich das Leben nahmen. Genaue zuverlässige Zahlen gibt es nicht. Es gibt auch ehemalige
Dutchbatler, die noch regelmässig nach Bosnien zurückkommen, zum Beispiel um im Urlaub
zu helfen beim Wiederaufbau. Der ehemalige Kommandeur Karremans, als Oberst pensioniert,
lebt in Spanien. Er hat, wie er selbst sagt, "als Flüchtling" die
Niederlande verlassen.
Doch zurück zu unserer Geschichte und zum Verschwinden des Films. Im Frühjahr 1998
wussten wir also, welche komprimittierenden Bilder auf dem Film waren. Wir kannten den
Namen des Fotographen, seine Privatadresse und hatten ein paar Mal kurz mit ihm
gesprochen. Einmal hatten wir sogar unangekündigt vor seiner Haustür gestanden. Aber er
wollte zum damaligen Zeit auf keinen Fall über seine Srebrenica-Erfahrungen mit uns
reden. Bei unserem dritten Versuch, mit ihm ins Gespräch zu kommen, sagte er nur, er habe
in der Zwischenzeit beim Verteidigungsministerium um Erlaubnis gebeten, doch das habe ihm
jegliches Gespräch mit Journalisten untersagt.
Den Fotographen selbst konnten wir also zum damaligen Zeitpunkt nicht zum Reden
bringen. Aber dafür bekamen wir aus einer zweiten, anonym zu haltenden, aber
glaubwürdigen Quelle Bestätigung für die Informationen, die wir hatten. Nach Abstimmung
mit der Direktion unserer Rundfunkanstalt entschieden wir uns, die Geschichte zum dritten
Jahrestag des Falls der Enklave zu senden. Das war am 10. Juli 1998.
Die Sendung schlug ein wie eine Bombe. Der verschwundene Film wurde zum Symbol für die
Vertuschungen, die es nach dem Fall von Srebrenica gegeben hatte. Noch am gleichen Abend
brachte NOVA unsere Geschichte gross im Fernsehen, mit O-Tönen aus unserer Sendung und
einem laufendem Tonband im Bild. Der Sprecher der christdemokratischen Fraktion im
Parlament sass im Studio und kommentierte live. Er hatte gleich nach unserer Sendung mit
dem Fotofraphen, Dutchbat-Leutnant Ron Rutten, telefoniert. Der fühlte sich nun bestärkt
und konnte nicht länger schweigen. Er bestätigte unsere Geschichte mit allen Details und
erschien in den Wochen danach sogar selbst im Fernsehen.
Was war geschehen? Leutnant Rutten war wütend als er im Juli 1995 sah, dass einige
seiner Dutchbat-Kollegen beim Abtransport der muslimischen Bevölkerung aus Srebrenica
behilflich waren. Er sah dies als Hilfeleistung bei einer ethnischen Säuberung. Auch er
sah ein, dass Dutchbat nicht viel an aktivem Widerstand leisten konnte. Aber er war der
Ansicht, Dutchbat solle sich in der gegebenen Situation darauf beschränken, das Geschehen
so genau wie möglich zu beobachten und zu dokumentieren. Er fotografierte deshalb, wie
seine Kollegen den Frauen und Kindern behilflich waren beim Einsteigen in die von den
Serben organisierten Bussen.
Unter grossen Sicherheitsrisikos schmuggelte Rutten den Film an den Serben vorbei
nach Zagreb. Dort sprach er mit dem damaligen Chef der Landstreitkräfte General Couzy
über seinen Film. Ein Mitarbeiter des Nachrichtendienstes MID bat Rutten, ihm den Film zu
übergeben. Rutten lehnte dies jedoch ab und nahm den Film in seinem Gepäck mit in die
Niederlande. Am Flughafen in Soesterberg versuchte der MID erneut den Film von Rutten in
die Hände zu bekommen. Aber durch die chaotische Situation am Flughafen misslang dies.
Am nächsten Tag meldete sich dann ein Mitarbeiter des MID an der Haustür von Rutten,
um den Film abzuholen. Der Film sei ein wichtiges Beweisstück. Deshalb müsse
sichergestellt werden, dass bei der Entwicklung nichts schief gehen könne und würde er
ihn zu einem Fotolabor des Nachrichtendienstes nach Den Haag bringen. Rutten liess sich
überzeugen und gab den Film ab. Am nächsten Tag bekam er einen Anruf aus Den Haag. Der
Film sei durch einen Fehler eines Labormitarbeiters falsch entwickelt worden. Die
Fotos seien dabei leider komplett vernichtet worden.
Unsere Geschichte, die wie gesagt abends auch gross im Fernsehen lief, in der Sendung
NOVA, sorgte für Schlagzeilen. In den Tagen und Wochen danach wir selbst hatten
wegen der Sommerpause leider keine Sendezeit mehr - folgten eine Reihe von NOVA-Sendungen,
in denen aufgezeigt wurde, dass der Debriefings-Bericht, der im Oktober 1995 vom
Verteidigungsministerium an das Parlament geschickt worden war, eine äusserst einseitige
Version war, aus der viele unliebsame Details, über die Dutchbatter berichtet hatten,
gestrichen worden waren.
In der Öffentlichkeit entstand das Bild einer grossen Vertuschungsoperation. Dabei
schossen einige unserer Kollegen unserer Ansicht nach allerdings über das Ziel hinaus, in
dem sie Dutchbatler in die Nähe von Kriegsverbrechern rückten. In der ersten Sendung
nach der Sommerpause, haben wir deshalb einige der Beschuldigten zu Wort kommen lassen und
erklären lassen, aus welchen Gründen sie die muslimischen Frauen und Kinder beim
Einsteigen in die serbischen Busse unter die Arme gepackt hatten.
Im NIOD-Bericht, also dem von der Regierung in Auftrag gegebenen Srebrenica-Bericht,
liesst sich dies wie folgt (S. 3012): "1998 brach ein grosses Medienspektakel los.
Anders als 1995 gab es diesmal jedoch fundierte Recherchen. Es begann am 10. Juli 1998 mit
einer Argos-Radiosendung." Und (S. 3058): "Argos und die dadurch
inspirierte Fernsehsendung NOVA schürten Zweifel über den misslungenen Film. Anfragen im
Parlament waren die Folge. Von diesem Zeitpunk an schlugen die nachfolgenden
NOVA-Sendungen beim Verteidigungsministerium ein wie Meteorieten." Und (S. 3010):
"Der misslungene Film wurde zum Symbol einer viel grösseren Vertuschung und einer
Manipulation seitens des Staates, insbesondere seitens des Verteidigungsministeriums, mit
dem Ziel unliebsame Informationen unter den Teppich zu kehren." Das sind klare
Worte aus dem Jahr 2002. Doch zunächst nochmal zurück zum Sommer 1998
In den Niederlanden hatte es Wahlen gegeben und es wurde eine neue Regierung gebildet.
Als eine der ersten Amtshandlungen rief der neue Verteidigungsminister Frank de Grave im
August eine Kommission unter Führung des sozialdemokratischen Politikers Jos van Kemenade
ins Leben. Diese so genannte Kommssion Van Kemenade bekam den Auftrag zu
untersuchen, ob es im Zusammenhang mit dem Srebrenica-Drama Vertuschungen gegeben habe.
Bereits Ende September, also nicht mal zwei Monate nach Beginn seiner Untersuchungsarbeit,
legte van Kemenade seinen Bericht vor und schlussfolgerte: es gab beim
Verteidigungsministerium viele Mängel und Fehler. Aber es gab keine bewusste Vertuschung!
In zwei darauffolgenden Argos-Sendungen haben wir aufgezeigt, dass van Kemenades
Bericht einer kritischen Überprüfung nicht standhalten konnte. Zwar rief er Journalisten
gegenüber: "Nun vergesst doch endlich mal diesen Film!" Aber anders als
van Kemenade suggerierte, hatte seine Kommission die Vernichtung dieses Films gar nicht
untersucht. Dies konnten wir in einem Interview mit van Kemenade selbst blosslegen.
Daraufhin entschieden wir uns, eine Rekonstruktion zu machen. Auf der Grundlage der
Protokolle der zuständigen Militärpolizei rekonstruierten wir in einem Fotolabor
haargenau, was sich nach Ansicht der Staatsanwaltschaft am 26. Juli 1995 in dem Fotolabor
des militärischen Nachrichtendienstes in Den Haag abgespielt hatte. Wir taten dies
akribisch, mit genau der gleichen Maschine, dem gleichen Film, den gleichen Mengen an
Chemikalien, den gleichen Abläufen. Und was war das Ergebnis? Ein Film, auf denen die
Abbildungen zwar nicht optimal waren, jedoch gut zu erkennen. Der Film von Leutnant Rutten
war den offiziellen Verlautbarungen zufolge indes völlig blanko.
6. Dutchbat und die Panzer der Dänen
Sowohl der von der Regierung beauftragte NIOD-Bericht (April 2002) als auch der
anschliessende Bericht des parlamentarischen Untersuchungsausschusses (Januar 2003) sind
sehr kritisch mit der Arbeit der Kommssion Van Kemenade (September 1998).
Beide Untersuchungen konnten jedoch keine Beweise zutage bringen, dass der Film von
Leutnant Rutten, mittlerweile Hauptmann Rutten, bewusst vernichtet worden war.
Auch der parlamentarische Untersuchungsausschuss selbst, der sich eine sehr
eingeschränkte Aufgabenstellung gestellt hatte, und die NIOD-Studie mussten heftige
Kritik über sich ergehen lassen. Das NIOD, das dem eigenen Anspruch nach eine
wissenschaftliche Studie erstellt hat, bekam diese Kritik vor allem von Historikern und
anderen Wissenschaftlern zu hören. Aber auch wir, Argos, haben uns in die Diskussion
über die Wahrheitsfindung durch das NIOD eingemischt.
Schlagwortartig ein paar der kritischen Kommentare zur NIOD-Studie:
- "Die Forscher sind in die Rolle der Freisprecher geraten."
(Historiker
Prof. M.C. Brands, VK, 19.4.2002)
- "Eine Überdosis an Informationen führt auch zur Desinformation."
(Historiker T. Nijhuis, Direktor des Deutschland Instituts an der Universität von
Amsterdam)
- "Es wird kaum unterschieden zwischen Fakten und Interpretationen."
(Prof.
A. van Iersel, Katholische Universität Brabant)
- "Nirgendwo zeigt sich, dass man zuvor eine durchdachte Fragestellung entwickelt,
eine Interpretationsstruktur entworfen und einen Zusammenhang realisiert hat."
(Soziologe J.A.A. van Doorn)]
Am 10.April 2002 wurde die mit grosser Spannung erwartete NIOD-Studie, begleitet von
einer stundenlangen live-Fernsehsendung, durch den NIOD-Direktor Blom präsentiert. Fünf
Tage davor, also am 5. April, sendeten wir eine Geschichte, die sich in den ersten Monaten
des Jahres 1995 in New York abgespielt hatte, die eine der wichtigsten Schlussfolgerungen
des NIOD in Frage stellte und die in den über 6.000 vom NIOD produzierten Seiten an
keiner Stelle auch nur Erwähnung findet.
Im März 1995 häuften sich im DPKO in New York, im Department of Peace Keeping
Operations, salopp gesagt: das Verteidigungsministerium der UNO, die Hinweise darauf, dass
die bosnischen Serben Vorbereitungen trafen für eine Eliminierung der muslimischen
Enklave Srebrenica. Die Militärs im DPKO-Stab überlegten, welche militärischen Optionen
es gab, dieser Drohung entgegen zu wirken. Ihnen war klar, dass das leicht-bewaffnete
Dutchbat mit knapp 500 Mann keinen Widerstand bieten konnte.
Im Gegensatz zu den Niederländern hatten die dänischen Truppen, die in Tuzla -
Luftlinie 70 Kilometer nordwestlich von Srebrenica stationiert waren, zehn schwere,
modernisierte Leopard-Panzer dabei. Mit denen hatten sie bereits erfolgreich
zurückgeschossen als sie im April 1994 von den bosnischen Serben beschossen wurden.
Seither kamen die von den Dänen begleiteten Konvois ohne Probleme durch. Die Konvois der
Niederländer hingegen wurden immer wieder verzögert, gestoppt und ausgeraubt.
So entwickelten die Militärs im zuständigen DPKO-Stab einen Plan, die dänischen
Panzer nach Srebrenica zu schicken. In den Gängen des UNO-Hauptquartiers wurde dies
tagelang beratschlagt - mit den Dänen, mit den Niederländern und mit den ständigen
Mitgliedern des UNO-Sicherheitsrats, vor allem mit den Franzosen, den Britten und den
Amerikanern. In diesen Beratungen mit den Mitgliedern des Sicherheitsrats scheiterte das
Vorhaben. Vor allem Madeleine Albright, die spätere US-Aussenministerin, damals noch
amerikanische Botschafterin bei der UNO, lehnte den Plan ab.
Diese Geschichte scheint vielleicht nicht sonderlich spektakulär. Uns kostete es mehr
als ein Jahr intensiver Recherchen und diverse aufwändige Reisen, um sie sendereif zu
machen. Ihre Relevanz besteht vor allem darin, dass sie eine der zentralen
Schlussfolgerungen des NIOD in Frage stellt. Und zwar folgende, jetzt zitiere ich in
verkürzter Form die NIOD-Teilstudie zur Rolle der Nachrichtendienste (S.460): "Für
Dutchbat und UNPROFOR war der Angriff (
) eine totale Überraschung. (
) Das
gilt vermutlich auch für die meisten westlichen Nachrichtendienste. (
) Es bleibt
natürlich Spekulation, aber nun ist evident, dass da es bei keinem der Betroffenen
Vorkenntnisse gab, ein adäquates Reagieren von vorherein ausgeschlossen war."
Mit dieser eindeutig klingenden Schlussfolgerung war die NIOD-Studie übrigens auch in
Einklang gebracht mit der Srebrenica-Studie der UNO aus dem Jahre 1999. Diese
selbstkritische Analyse des UNO-Versagens besagte: "Hätte die UNO
nachrichtendienstliche Vorinformationen gehabt, die die Ungeheuerlichkeit der
bosnisch-serbischen Ziele offenbart hätten, wäre die Tragödie von Srebrenica
möglicherweise zu verhindern gewesen."
Unsere Geschichte stellte somit eine der zentralen Schlussfolgerung sowohl der UNO als
auch des NIOD in Frage. Denn der Plan, die dänischen Panzer zur Verteidigung von
Srebrenica einzusetzen, enstand je erst aufgrund der Hinweise auf serbische
Angriffsvorbereitungen, die sich spätestens seit März 1995, also gut drei Monate vor
Beginn des serbischen Angriffs, zu häufen begannen - nicht nur bei der UNPROFOR-Führung
in Zagreb, sondern auch im UNO-Hauptquartier in New York. Das beteuerte ein ehemaliger
UNO-Spitzenfunktionär, der in unserer Sendung auch konkrete Beispiele der damals
vorliegenden Erkenntnisse auflistete.
Wie haben wir diese Geschichte recherchiert und wie ist es dann weitergegangen? Es
begann mit einem Gespräch während einer Reise, mit einer Person, die - wie sich erst im
Laufe des Gesprächs herausstellte - im März 1995 als Offizier im DPKO arbeitete.
Gegenstand des vertraulichen Hintergrundgesprächs war eigentlich etwas ganz anderes.
Zufälligerweise fiel das Stichwort Srebrenica. Das was wir anschliessend zu diesem Thema
zu hören bekamen, war äusserst geheim und wir mussten schwören, unsere Quelle unter
allen Umständen zu schützen. Am Telefon, per E-mail oder Post konnten wir das Gespräch
mit unserem Tipgeber deshalb auch auf keinen Fall fortsetzen.
Wir haben erst einmal genau aufgeschrieben und korrigieren lassen, was uns erzählt
worden war. Alleine zum Korrigieren des bereits Gesagten mussten wir erneut auf Reisen
gehen. Anschliessend haben wir eine Liste erstellt mit Leuten in verschiedenen Ländern,
die von der Diskussion über die dänischen Panzer wissen mussten. Das Suchen der Namen
und Telefonnummern kostete viel Zeit. Gleichzeitig fingen wir an, diese Liste abzuarbeiten
und die Leute anzurufen. Dutzende waren es. Aber ohne jeglichen Erfolg. Niemand wusste
etwas bzw. konnte sich erinnern. Ein paar unserer Gesprächspartner versuchten, uns davon
zu überzeugen den Plan, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu bringen, könne es gar
nicht gegeben haben, da dies dies unter den damaligen Umständen ein wahnwitziges
Unterfangen gewesen wäre. Wir begannen nun selbst zu zweifeln. Selbstverständlich hatten
wir überprüft, dass unser Tipgeber im Fühjahr 1995 tatsächlich als Offizier im DPKO
gearbeitet hatte und wir waren auch nach wie vor davon überzeugt, dass er eine
ernstzunehmende Quelle war. Aber wenn so viele Leute sagen: Blödsinn
?
Trotz der zunehmenden Unsicherheit entschieden wir uns, nach Kopenhagen zu fahren und
dort Interviews zu machen mit dem damaligen dänischen Verteidigungsminister Hans
Haekkerup und mit Oberst Lars Möller, der Kommandeur des dänischen Kontingents in Tuzla
gewesen war. Möller hatte im April 1994 den Befehl gegeben, die Panzer einzusetzen als
die dänischen Blauhelme beschossen wurden. Oberst Möller schilderte uns detailliert das
stundelange Gefecht, dass er sich damals mit seinen serbischen Belagern geliefert hatte.
Für sein entschlossenens Auftreten hatte er damals Beifall von hochrangigen UNO-Militärs
bekommen. Erst viel später erfuhr Möller, dass bei dem Gefecht 150 Serben ums Leben
gekommen waren, nach dem einer der dänischen Panzer ein serbisches Munitionslager
getroffen hatte.
Bei den Interviewanfragen mit Oberst Möller und ex-Minister Haekkerup hatten wir die
UNO-Diskussion, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu schicken, bewusst nicht erwähnt.
Es schien uns angesichts der Dutzende von Dementis, die wir bereits bekommen hatten
aussichtsreicher, wenn wir unsere Interviewpartner mit den Informationen, die wir
hatten, überraschen würden. Es waren gute Interviews, mit vielen interessanten neuen
Details. Aber an eine UNO-Diskussion, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu schicken,
konnten auch diese beide Herren sich in keinster Weise erinnern jedenfalls damals
noch nicht, das heisst in den ersten Frühlingstagen von 2002. Wir standen kurz davor
aufzugeben, zumal wir wussten, dass das NIOD am 10. April seine Studie vorlegen würde und
wir unsere Geschichte unbedingt vorher senden wollten.
Am 2. April gelang es uns endlich, nach vielen vergeblichen Versuchen, ein
Hintergrundgespräch mit dem ehemaligen Bundeswehrgeneral Manfred Eisele zu bekommen.
Eisele war im Frühjahr 1995 einer der Chefs im DPKO in New York und sogar Assistant
Secretary General der UNO gewesen, also einer der höchsten Funktionäre der UNO. Zu
unserer Überraschung bestätigte Eisele uns fast einschränkungslos die Geschichte über
die UNO-internen Diskussionen über die Verlegung der dänischen Panzer drei Monate vor
dem Fall von Srebrenica. Nur an ein Gespräch zwischen Madeleine Albright mit Kofi Annan,
bei dem die amerikanische UNO-Botschafterin es ablehnte, Luftunterstützung zu bieten bei
der Überbringung der dänischen Panzer nach Srebrenica, konnte Eisele sich nicht
erinnern. Dafür erzählte er uns, dass er damals persönlich mit französischen und
britischen Diplomaten über das Vorhaben gesprochen hatte. Nach einigem Zögern stimmte
Eisele sogar einem Interview auf Band zu. Das Interview machten wir am 3. April. Zwei Tage
später haben wir die ganze Geschichte gesendet. UNO-Generalsekretär Kofi Annan hatte
unsere Interviewanfrage abgelehnt und wollte keinerlei Kommentar geben. Die Sendung bekam
nicht nur in den niederländischen Medien, sondern auch in einigen deutschsprachigen
Zeitungen und Nachrichtensendungen ein Echo in Deutschland selbst und in der
Schweiz.
In unserer Sendung sagte Eisele unter anderem, dass es damals sehr wohl möglich
gewesen wäre, die dänischen Panzer nach Srebrenica zu bringen. "Die wären
ungehindert dahin gefahren. Und dann hätte es das Massaker von Srebrenica nie
gegeben." So Ex-Bundeswehrgeneral Manfred Eisele wörtlich in unserer Sendung vom
5. April 2002. Nachdem die Sendung gelaufen war, erinnerten sich plötzlich auch andere
Leute, mit denen wir zunächst erfolglos gesprochen hatten, dass es die Diskussion über
die Verlegung der dänischen Panzer nach Srebrenica gegeben hatte. Darunter auch einer
unserer Interviewpartner in Dänemark, der uns dann sogar Namen nennen konnte von
Militärs und Diplomaten, die damals an der Diskussion beteiligt waren.
7. Welche Vorkenntnisse hatten die Nachrichtendienste und die UNO?
Gut ein halbes Jahr später, am 1. November 2002, haben wir eine Sendung zu der Frage
gemacht, wie das NIOD zu der Schlussfolgerung kommem konnte, dass die westlichen
Nachrichtendienste keine relevanten Vorkenntnisse zur Eliminierung von Srebrenica gehabt
hätten. In der NIOD-Studio selbst sind Dutzende der Hinweise auf einen bevorstehenden
Angriff dokumentiert, allerdings verstreut und unzusammenhängend. Sie werden in der
Studie keineswegs widerlegt, sondern die NIOD-Forscher lassen sie im Schlusskapittel
schlicht unter den Tisch fallen. Als Belege gibt es lediglich Verweise auf
Aussagen anonymer Gesprächspartner in den Fussnoten.
In unserer Sendung zu dieser Art der Wahrheitsfindung durch das NIOD interviewten wir
die für die Geheimdienst-Teilstudie zuständigen NIOD-Forscher. Dabei konfrontierten wir
sie unter anderem mit den Aussagen von General a.D. Manfred Eisele. "Das kann
nicht stimmen", lautete die Reaktion des NIOD-Geheimdienst-Experten Cees Wiebus. "Wir
haben Herrn Eisele auch interviewt und uns hat er nichts von alledem erzählt." Wir
erwiderten, dass Eisele auch erst angefangen hatte zu reden, nachdem wir ihm gezeigt
hatten, dass wir die Informationen über die UNO-interne Diskussion aus anderer Quelle
schon hatten.
Aber auch das mochte die NIOD-Experten nicht überzeugen. Die amerikanischen
Satellitenaufnahmen, die Eisele seiner Aussage in unserer Sendung nach bereits im
Frühjahr 1995 zu sehen bekommen hatte, wurden laut Cees Wiebus vom NIOD erst im August
1995, also nach dem Fall der Enklave, erstmalig Nicht-Amerikanern überhaupt gezeigt. Das
hatte ein hochrangiger amerikanischer Geheimdienst-Funktionär ihm persönlich gegenüber
erklärt. Damit war für die NIOD-Forscher unsere gesamte Geschichte - und auch die
Aussage des ehemaligen Bundeswehrgenerals und UNO-Spitzenfunktionärs Eisele - Blödsinn.
Manfred Eisele selbst blieb bei seiner Aussage, dass er die amerikanischen
Satellietenaufnahmen, auf denen serbische Vorbereitungen für den Angriff auf Srebrenica
klar zu erkennen waren, bereits im März 1995 gesehen hatte. Nicht auf dem offiziellen
UNO-Dienstweg, aber mit eigenen Augen.
Schon im Juni 2001 hatten wir eine Sendung gemacht zu der Frage: Was wussten die
Nachrichtendienste über die serbischen Angriffsvorbereitungen zu welchem Zeitpunkt und
was ist mit diesen Informationen geschehen? Auf der Grundlage von Geheim-Dokumenten aus
den Archiven des niederländischen Nachrichtendienstes MID, hatten wir aufgezeigt, dass
auch MID in den Wochen und Monaten vor dem Fall von Srebrenica über Berichte unter
anderem aus der Enklave selbst heraus verfügte, in denen explizite - zum Teil in
dramatischen Worten formulierte - Hinweise auf die serbischen Angriffsvorbereitungen
standen. Diese wurden jedoch in der zuständigen Analyse-Abteilung des MID in Den Haag
um-interpretiert. Es gäbe keine ernsthafte Hinweise darauf, dass die Serben es wagen
würden, die Enklave direkt anzugreifen. Als der Angriff voll im Gange war und die
serbischen Truppen längst in der Enklave standen, urteilte diese MID-Abteilung, Mladic
habe es nur auf den südöstlichen Zipfel der Enlave abgesehen und auf eine
Verbindungsstrasse.
Dies geht hervor aus den täglichen Lageberichten, die der MID im Juli 1995 erstellte,
sogenannten IntSums (Intelligence Summaries), aus denen wir in unserer Sendung
am 29. Juni 2001 zitierten. So besagte IntSum 130.95, vom 10. Juli 1995, also
vier Tage nachdem der serbische Angriff begonnen hatte:
"Die bosnisch-serbischen Truppen wollen mit ihrer laufenden Aktion vermutlich
eine bessere Kontrolle über die für sie bedeutende Ost-West-Verbindungsstrasse südlich
von der Enklave erreichen. Es hat nicht den Anschein, dass die bosnisch-serbischen Truppen
eine vollständige Besetzung der Srebrenica-Enklave anstreben."
Einen Tag später, am 11. Juli, fiel Srebrenica und die vollständige Eroberung war
eine Tatsache geworden. Intsum 131.95, erstellt am Morgen dieses Tages,
besagt:
"Trotz der letzten Entwicklungen scheint es nicht wahrscheinlich, dass die
bosnischen Serben die Srebrenica-Enklave vollständig einnehmen wollen und bei ihrer
Forderung einer Räumung bleiben werden. Es scheint nicht im Interesse der bosnischen
Serben zu sein, den Muslimen in der Enklave zu erlauben, sich in andere Teile
Bosnien-Hergegowinas zu begeben. (
) Ausserdem verfügen die
bosnisch-serbischen Truppen nicht über genügend Infanterie, um die Enklave dauerhaft
besetzen zu können. Vorerst scheint die laufende Aktion ein bosnisch-serbischer Versuch
zu sein, die Beschlussfähigheit der UNO zu testen."
Dieser dramatischen Fehleinschätzung stellten wir in unserer Sendung die Aussagen
von zwei MID-Mitarbeitern in einer MID-internen Untersuchung gegenüber, die behaupteten,
sie hätten fortwährend davor gewarnt, die Serben wollten Srebrenica erobern. "Wir
waren Rufende in der Wüste", so sagte MID-Major De Ruyter. Er habe sich dabei
gestützt auf die Berichte, die er direkt aus der Enklave heraus bekam von einem Kollegen
bei Dutchbat, Hauptfeldwebel Rave. Rave war für den Abschirmdienst, eine Unterabteilung
des MID, bei Dutchbat tätig und war gleichzeitig eingesetzt als Verbindungsoffizier. Er
war bei allen Gesprächen, die Kommandeur Karremans mit den bosnischen Serben und mit den
Muslimen führte, dabei, und hatte eine Schlüsselposition bei Duchtbat inne.
Auch zitierten wir aus einem alarmierenden Fax, das der Dutchbat-Kommandeur
Oberstleutnant Karremans am 8. Juni 1995, also gut einen Monat vor dem Fall der Enklave,
an das Verteidigungsministerium in Den Haag und an die übergeordneten UNO-Stellen in
Tuzla und Sarajevo schickte: "Es wird einen grossen Angriff durch die bosnischen
Serben geben. (
) Es werden auch Spezialeinheiten eingesetzt werden. (
) General
Mladic persönlich befehligt die Truppen. (
) Alle niederländischen
Beobachtungsposten werden ausgeschaltet werden. (
) Die Quelle dieser Informationen
muss als zuverlässig bewertet werden."
Alle diese Warnungen wurden damals in den Wind geschlagen. Die Frage warum, ist bis
heute - trotz aller Srebrenica-Untersuchungen - nicht hinreichend beantwortet.
8. Anhang: Autorenangaben und Sendungenübersicht
Argos und Srebrenica
Argos ist eine vierzigminütige Radiosendung, die jeden Freitag auf dem
niederländischen Nachrichtensender Radio 1 ausgestrahlt wird. Seit 1995
machten Gerard Legebeke und Huub Jaspers (gemeinsam) eine Reihe von Argos-Sendungen zum
Fall der bosnisch-muslimischen Enklave Srebrenica, von denen einige grosses Aufsehen
erregten. Argos wird auch in dem von der niederländischen Regierung in Auftrag gegebenen
Srebrenica-Bericht des NIOD (Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation) diverse
Male zitiert. In der Quellenangabe des NIOD-Berichts heisst es zum Beispiel: "
special mention must be made of the series of radio documentaries about Srebrenica made by
Gerard Legebeke in 1998 for the programme Argos."
Argos-Sendungen zum Fall von Srebrenica:
01.09.1995: Erfahrungen von Dutchbat-Soldaten
15.12.1995: Bosnische Flüchtlinge in den Niederlanden
29. 11.1996: Die Frauen von Srebrenica
07.02.1997: Gemeinsam mit Minister Pronk nach Tuzla, zu den Frauen von Srebrenica
10.07.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (I) Die andere
Geschichte
14.08.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (II)
niederländische Beihilfe zu etnischen Säuberungen?
02.10.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (III) Die Lücke
im Bericht der Untersuchungskommission Van Kemenade
11.12.1998: Der verschwundene Film eines Dutchbat-Offiziers (IV)
Argos-Rekonstruktion führt zu erkennbaren Bildern
02.07.1999: Srebrenica vier Jahre nach dem Fall Vermisste dort und Lücken
hier
13.10.2000: Was wusste Den Haag von geheimer UNO-Beratschlagung im Mai 1995 zur
Lage in Srebrenica?
20.10.2000: Lektionen aus Srebrenica für die UNMEE (UNO-Mission in Äthiopien und
Eritrea)
29.06.2001: Was wusste der niederländische militärische Nachrichtendienst (MID)
in den Tagen und Wochen vor dem Fall der Enklave von den serbischen Angriffsplänen?
15.03.2002: Was wusste der niederländische militärische Nachrichtendienst (MID)
in den Tagen und Wochen vor dem Fall der Enklave von den serbischen Angriffsplänen?
(Wiederholung)
05.04.2002: Srebrenica und die Panzer der Dänen (I) - UNO-Spitze wusste von
bevorstehendem Angriff
12.04.2002: Srebrenica und die Panzer der Dänen (II) Warum Dutchbat keine
schweren Waffen mitnahm
03.05.2002: Wissenschaftliche Kritik an der von der Regierung beauftragten
Srebrenica-Untersuchung des NIOD (Niederländisches Institut für Kriegsdokumentation)
01.11.2002: Wie das NIOD die Vorkenntnisse westlicher Geheimdienste unter den
Teppich kehrte
22.11.2002: Hat die niederländische UNO-Truppe getan was sie konnte, um die
Bevölkerung von Srebrenica zu schützen?
07.02.2003: Parlamentarischer Untersuchungsausschuss lässt Kernfragen zum
Fall von Srebrenica unbeantwortet
08.08.2003: Wie das NIOD die Vorkenntnisse westlicher Geheimdienste unter den
Teppich kehrte (Wiederholung)
26.09.2003: Die schleppende Identifikation der tausenden Toten von Srebrenica
13.02.2004: Können die bosnischen Flüchtlinge sicher heimkehren?
Live-Gespräche:
Desweiteren führten Argos-Redakteure im Laufe der Jahre eine zahlreiche
Live-Interviews auf Radio 1 zum Thema Srebrenica, u.a. mit den (ehemaligen) Ministern
Joris Voorhoeve, Pieter Kooijmans, Frank de Grave; mit ehemaligen Dutchbat-Soldaten; mit
Wissenschaftlern des NIOD; mit dem Leiter des parlamentarischen Untersuchungsausschusses
Bert Bakker; mit Jos van Kemenade dem Leiter der Kommission Van Kemenade; mit
dem IKV-Generalsekretär Mient Jan Faber; mit der Schwester des getöteten
Dutchbat-Soldaten Rajiv van Rensen usw. usf.
Gerard Legebeke
Jahrgang 1954, ist Historiker und Chefredakteur der investigativen Radiosendung
Argos, die von der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalt VPRO auf dem
nationalen Nachrichtensender 'Radio 1' ausgestrahlt wird. Argos wurde verschiedentlich
sowohl national als auch international (unter anderem mit dem Prix
Europa) - ausgezeichnet und bekommt viel Resonanz in anderen niederländischen
Medien (Tageszeitungen und Fernsehen).
Huub Jaspers
Jahrgang 1958, ist Redakteur der Sendung Argos und arbeitet seit vielen Jahren
zu verteidigungspolitischen Themen. Jaspers arbeitet regelmässig mit deutschen bzw.
deutschsprachigen Journalisten und Medien zusammen. Das führte zu gemeinsamen
Enthüllungen mit bzw. Publikationen in: ZDF Heute Journal, WDR Fernsehen, Streitkräfte
& Strategien, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, TAZ, Intr@net Aktuell, Hamburger
Abendblatt, Neue Luzerner Zeitung, Medizin & Globales Überleben usw. Jaspers
veröffentlichte auch Buchbeiträge.
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