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überarbeitete Fassung
eines Vortrages
Ev. Akademie Loccum am 17.4.2002 |
von Dr.Karl-Heinz Harenberg
Widersprüchliche Bilder
Als am 6. März fünf ISAF-Soldaten, darunter zwei Deutsche, bei dem
Versuch ums Leben kamen, eine russische Rakete in Afghanistan zu entschärfen, gab es
nicht nur große Anteilnahme, sondern auch die uneingeschränkte Versicherung des
Generalinspekteurs der Bundeswehr, Harald Kujat, es handele sich um einen tragischen
Unfall, denn eines sei sicher: Die Soldaten, die deutschen Soldaten jedenfalls, seien
hervorragende Experten der Kampfmittelbeseitigung, bestens ausgebildet und mit der Materie
vertraut gewesen. Eine sorgfältige Untersuchung solle die Ursache des tödlichen
Unglücks klären. Auf diese endgültige, offizielle Klärung wartet die Öffentlichkeit
immer noch. Aber soviel scheint inzwischen festzustehen: Die Soldaten waren nicht gut
ausgebildet, mit der Materie nicht vertraut, ihr Tod war nicht tragisch, sondern wäre
durchaus vermeidbar gewesen.
Als im Vorfeld der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes (10.4.)
zur Rechtmäßigkeit der Wehrpflicht von den politischen Entscheidungsträgern aller
Couleur noch einmal wortreich erklärt wurde, die Wehrpflicht sei und bleibe die Grundlage
für eine Armee in der Demokratie, unerläßlich für einen notwendigen Austausch zwischen
Gesellschaft und Bundeswehr (Stichwort: Integration), für die Gewinnung von
qualifiziertem Nachwuchs bei den Zeit- und Berufssoldaten, glaubte mancher, nicht richtig
zu hören: Denn gerade in dieser Zeit des Lamentierens waren die Nachrichten voll vom
tatsächlichen Zustand der real existierenden Wehrpflichtarmee. Am aussagekräftigsten ist
in diesem Zusammenhang der Jahresbericht 2001 von Brigadegeneral Dieter Löchel, dem
Beauftragter für Erziehung und Ausbildung beim Generalinspekteur. Da ist die Rede von den
"Klagen vieler Vorgesetzter über eine (anhaltend) rückläufige Qualität bei den
Wehrpflichtigen", "vom kontinuierlich wachsenden Anteil von
Problemfällen", davon, daß "die Ausbildung und der sinnvolle Einsatz von W9
(neun Monate dienenden Wehrpflichtigen) bei der Mehrheit des Führungspersonals nur Fragen
aufwerfen oder zu Schulterzucken führen". Schon die W10-Soldaten seien gerade bei
den hochtechnisierten Teilstreitkräften, Luftwaffe und Marine, "bestenfalls nur noch
als Handlanger einsetzbar" gewesen.
Ein dritter Widerspruch aus dem Informationsangebot der jüngsten
Vergangenheit: General Löchel stellt in seinem Jahresbericht fest: "Der politischen
Leitung wird mit starken Vorbehalten begegnet. Nach den Einsatzentscheidungen für
"Enduring Freedom" (also der Beteiligung am Antiterror-Krieg auf der Seite der
USA) und "ISAF" (der internationalen UN-Schutztruppe für Kabul) konzentrieren
sich die Erwartungen auf den Bundeskanzler - auf den Bundeskanzler wohlgemerkt, nicht auf
den Verteidigungsminister - da man von ihm jetzt die notwendige finanzielle
Unterfütterung der Bundeswehr erwartet." Kurz vorher dagegen, auf dem Höhepunkt,
oder besser: auf einem der vorerst letzten Höhepunkte der Kritik an Rudolf Scharping
hieß es in der FAZ (14.12.01), der Inspekteur des Heeres, Gert Gudera, habe "im
Einvernehmen mit dem Generalinspekteur mitgeteilt: "Die gesamte Führung des
deutschen Heeres steht uneingeschränkt (der Begriff kommt bekannt vor -
uneingeschränkt!-) hinter dem politischen Auftrag und den Weisungen des Bundesministers
der Verteidigung." Wie verlogen das war, haben die ungewohnt kritischen Beiträge auf
der Kommandeurtagung Mitte April in Hannover gezeigt.
Diese kleine Auswahl an Widersprüchen zeigt, daß es heute nicht nur
nicht leichter ist als zu früheren Zeiten, eine Standortbestimmung der Bundeswehr - und
damit des Verhältnisses zwischen der bewaffneten Macht und der zivilen Gesellschaft -
vorzunehmen, sondern erheblich schwieriger. Der Grund dafür ist einfach und kann doch
nicht oft genug wiederholt werden: Die Bundeswehr hat sich im vergangenen Jahrzehnt von
einer Friedensarmee zu einer kriegführenden Armee gewandelt. Zu Zeiten des Kalten Krieges
hieß es: Wenn die Bundeswehr als Mitglied der NATO Krieg führen muß, hat sie bei der
Erfüllung des Auftrages (der Kriegsverhinderung durch Abschreckung) versagt. Denn Krieg
bedeutete, wovor Politik, Gesellschaft und Bundeswehr die Augen fest geschlossen hielten,
zumindest das Ende Deutschlands. Heute heißt es: Die Bundeswehr muß an der Seite ihrer
Verbündeten Kriege führen, wenn sie nicht als Versager dastehen will. Aber auch dahinter
steht kein eigenständiges politisches Konzept der Bundesregierung, sondern eine fast
ausschließlich reaktive Politik. Mit einfachen Worten: Die Bundesregierung - und die
rot-grüne dramatisch mehr als ihre Vorgängerin - schickt deutsche Soldaten überall da
hin, wo die USA oder die NATO sie haben wollen.
Diese Entwicklung bringt zwangsläufig völlig neue Aspekte zum Thema
"Die Bundeswehr und die Demokratie" mit sich, erfordert zusätzliche Kriterien,
um "Nähe und Distanz der Streitkräfte zur zivilen Gesellschaft" aus heutiger
Sicht beurteilen zu können.
1. Innere Führung gestern und heute
Das Gründungskonzept der Bundeswehr beruht auf den Ideen von Innerer
Führung und vom Staatsbürger in Uniform, die mit dem Namen Wolf Graf Baudissin verbunden
sind, einem der Gründungsväter der neuen deutschen Streitkräfte. Innere Führung, deren
vielschichtige Definitionen und umstrittene Interpretationen hier nicht detailliert
wiedergegeben können, sollte und soll bis heute den politisch (mit-)verantwortlichen
Soldaten hervorbringen, dessen Denken und Handeln in der demokratischen Verfassung der
Bundesrepublik verwurzelt ist und der dadurch gefeit wird gegen verbrecherische Befehle,
wie sie in Nazi-Deutschland und im Zweiten Weltkrieg allzu willfährig befolgt wurden.
Dieses Konzept, das kein starres Programm sein kann, sondern in einem
fortlaufenden Prozeß Veränderungen der eigenen Verfassung und Gesetze, des
Völkerrechtes und des weltweiten Geschehens aufnehmen und für sich nutzbar machen muß,
spielt in der öffentlichen Diskussion seit langem praktisch kaum eine Rolle mehr. Es sind
mehr oder weniger nur noch einige amtlich bestellte Sachwalter, die sich mit dem Zustand
des Staatsbürgers in Uniform auseinandersetzen: der Wehrbeauftragte des Deutschen
Bundestages zum Beispiel, der schon genannte Beauftragte Erziehung und Ausbildung, das
bundeswehreigene Zentrum für Innere Führung in Koblenz oder das Sozialwissenschaftliche
Institut der Bundeswehr, das SOWI, in Straußberg.
Daß diese mit der Förderung bzw. der Kontrolle der Innere Führung
beauftragten Institutionen die Praxis in der Truppe wirklich abbilden und beeinflussen
können, darf aus vielen Gründen bezweifelt werden. Einen Beleg dafür liefert zum
Beispiel Reinhard Hamann, Dozent an der Führungsakademie der Bundeswehr mit seinem
Aufsatz "Abschied vom Staatsbürger in Uniform": "Die vielfältigen
Defizite im Bereich der Inneren Führung sind zwar in der einschlägigen
sozialwissenschaftlichen Literatur seit Jahrzehnten hinreichend dokumentiert, und an
Ursachenanalysen und Verbesserungsvorschlägen hat es von kompetenter ziviler und
militärischer Seite nie gemangelt, aber politische und militärische Führung konnten
naturgemäß an gesicherten Erkenntnissen, die der PR-Formel von der bewährten Inneren
Führung zuwiderliefen, gar kein Interesse haben. Es ist daher nur logisch, daß selbst
das Sozialwissenschaftliche Institut der Bundeswehr nicht die Erlaubnis bekommt,
Feldforschungen zu Fragen der Inneren Führung durchzuführen und zu publizieren."
Mitdenken und Mithandeln im militärischen Alltag setzen beim Soldaten
politisches Interesse und Kenntnisse voraus. Die Kenntnisse sollen den Truppenführern im
Rahmen von Aus- und Fortbildung vermittelt und von diesen wiederum an die Mannschaften im
politischen Unterricht weitergegeben werden. Anders als zu Zeiten des Kalten Krieges ist
das gerade für eine Armee, deren Soldaten in aller Welt eingesetzt werden, immens
wichtig. Doch ob es tatsächlich im nötigen Umfang geschieht, erscheint aus schon ganz
praktischen Gründen unwahrscheinlich, ist doch die Bundeswehr nicht nur durch ihre
zahlreichen Auslandseinsätze am Rande der Überforderung, sondern auch durch die derzeit
angelaufene Strukturreform, den anhaltenden Beförderungs- und Verwendungsstau sowie die
finanziellen Schwierigkeiten mit ihren vielfältigen Folgen. Diese Folgen zeigen sich
ebenso deutlich im Zustand der Kasernen mit "schlechten Betten, altem Mobiliar sowie
der Willkür und dem Bürokratismus bei der Absenkung von Raumtemperaturen und der
Regulierung von Duschzeiten" (Jahresbericht Löchel) wie sie bei der Ausstattung mit
Waffen, Ersatzteilen oder der Einrichtung von Schreibstuben deutlich werden.
Aber nicht nur am materiellen Angebot mangelt es. Es fehlt das
sicherheitspolitische Konzept für die neuen Aufgaben der Bundeswehr ,es fehlen
nachvollziehbare Begründungen für die gegenwärtigen Militäreinsätze sowie eine breite
Diskussion darüber. Folgerichtig muß General Löchel in seinem Jahresbericht
feststellen, daß "sich der Abwärtstrend bei der Durchführung der Politischen
Bildung (...) verstetigt (hat). Von den Vorgesetzten wird den (interessierten) Soldaten
nur selten ein umfassendes "Lagebild" zu aktuellen Problemen, das auch
persönliche Bewertung einschließt, gegeben." Ratlosigkeit bei den Vorgesetzten,
Desinteresse bei den Untergebenen, Demotivation in beiden Gruppen - die deutschen
Streitkräfte zu Beginn des 21. Jahrhunderts.
2. Die Bundeswehr im Einsatz
Die zunehmende Bereitschaft der deutschen Politik,
Bundeswehrangehörige selbst in den entlegensten Gebieten der Erde einzusetzen, schafft
zwangsläufig nicht nur einen neuen Soldatentyp, sondern auch eine andere
gesellschaftliche Einstellung zum Militär.
Diese sich ändernde gesellschaftliche Einstellung zu den Soldaten ist
zur Zeit kaum einzuschätzen, dafür ist die Gewöhnung an eine Bundeswehr im Einsatz nach
knapp zehn Jahren noch zu neu. Vordergründig drängt sich der Eindruck auf, daß sich die
Mehrheit der Bevölkerung an diese Einsätze gewöhnt hat, und zwar unabhängig davon,
daß sich die Bundeswehr nicht mehr nur an humanitären, sondern seit der Bombardierung
des ehemaligen Jugoslawiens durchaus auch an kriegerischen Aktionen - noch dazu unter
völkerrechtlich umstrittenen Voraussetzungen - beteiligt. Kritische Stimmen warnten
anfangs, diese Zustimmung im Sinne von "kein Widerspruch" werde vielleicht
nachlassen, wenn die ersten Zinksärge nach Hause kämen. Auch das kann inzwischen als
Fehleinschätzung gelten, da die öffentliche Meinung es, vom Ausdruck des Bedauerns
einmal abgesehen, hinnimmt, daß Soldaten mit Hammer und Meißel eine sowjetische Rakete
bearbeiten und dabei sterben. Und die Frage, ob 1998 mit der Wahl der rot-grünen
Bundesregierung auch die Lizenz zum Schießeinsatz in aller Welt vergeben worden ist,
scheint die mündigen Wahlbürgerinnen und -bürger von damals nicht einmal theoretisch
mehr zu interessieren. Sind Nähe und Distanz der Streitkräfte zur zivilen Gesellschaft
denn nicht auch abhängig von Nähe und Distanz der zivilen Gesellschaft zu den
Streitkräften?
Bleibt die Wirkung auf die breite Öffentlichkeit, den die wieder auf
militärische Gewalt setzende deutsche Politik haben könnte, bislang noch im Unklaren, so
gibt es für die Wirkung dieser Politik auf die Soldaten der Bundeswehr erste
Erkenntnisse. Sie lassen sich rückschließen aus Untersuchungen in Österreich, in denen
es um die Frage ging, warum sich die "blauen Barette", so der Name der
österreichischen Soldaten im UN-Auslandseinsatz, zu solchen Missionen freiwillig melden.
Dabei muß man vor Augen haben, daß Soldaten im sogenannten Friedenseinsatz ja nur noch
zum Teil - oft zum geringeren Teil - als Kämpfer agieren, also das tun können und
müssen, was sie gelernt haben. Gerade der Einsatz auf dem Balkan zeigt die Fülle von
Aufgaben, die auf den Soldaten zukommen. Oberst a.D. Heinz Kluss beschreibt sie in seinem
Aufsatz "Lehrmeister Krieg?" so: "Junge Offiziere waren im Kosovo nicht nur
verantwortlich für die Sicherheit ihrer Truppe und der Bevölkerung; sie leiteten den
Wiederaufbau von Häusern, die Instandsetzung von Straßen und Brücken; sie organisierten
die medizinische Versorgung, sie haben Schulen beaufsichtigt, in vielen Kommunen agierten
sie vorübergehend als Bürgermeister, Polizeichef, Zeitungsherausgeber, Friedensrichter
und Gefängnisdirektor..."
Hier entsteht also eine ganz andere Nähe noch dazu zu einer ganz
anderen, fremden Gesellschaft. Ob und wie diese Erfahrungen in der Fremde auch das
Verhältnis von Militär und Gesellschaft zuhause mitprägen, auf diese Frage gibt es noch
keine schlüssigen Antworten. Nur soviel - und damit zurück zu der Umfrage in Österreich
- scheint vorerst festzustehen: Aus dem für den Krieg ausgebildeten Soldaten wird im
Friedenseinsatz nicht etwa einfach der Samariter. Nein, die vorrangige Motivation ist der
Verdienst - in Österreich jedenfalls. Franz Kernic, als Oberst wissenschaftlicher
Mitarbeiter an der Landesverteidigungsakademie in Wien, kommt in seiner Darstellung der
"Soziologische(n) Aspekte militärischer Einsätze im Rahmen von internationalen
friedenserhaltenden Missionen" unter anderem zu dem Schluß: "Die Erhellung der
Beweggründe für einen Auslandseinsatz zeigte deutlich, daß es nicht ein allgemeines
Friedensverständnis oder eine spezifische Friedensliebe ist, die Soldaten zu einem
derartigen Dienst bewegen. Der zentrale Grund liegt im Geld und dies führt zugleich dazu,
daß sich in Österreich auf diese Weise ein kleines Söldnerheer von sogenannten
UN-Profis entwickelt." Die Aussicht auf einen guten Verdienst steht, wie es bei
Kernic an anderer Stelle heißt, "unbestreitbar bei fast allen Soldaten, völlig
unabhängig von Faktoren wie militärischer Rang, Alter oder Herkunft" an erster
Stelle. Es bleibt der Phantasie der interessierten Öffentlichkeit überlassen, ob sich
bei einer entsprechenden Untersuchung in Deutschland vergleichbare Ergebnisse
herausstellen würden; denn bislang gibt es von der Institution, die solche Fragen
eigentlich bearbeiten müßte, dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Bundeswehr, keine
vergleichbare Studie. Der Grund dafür ist - kaum zu glauben, aber wahr: Mitarbeiter des
SOWI haben seit knapp zehn Jahren keine repräsentativen Befragungen in der gesamten
Truppe mehr gemacht - genauer: machen dürfen. Die Angst vor unerfreulichen Ergebnissen
war und ist in politischer Leitung und militärischer Führung weit verbreitet. Armee in
der Demokratie eben.
Einige Erkenntnisse hat das SOWI noch aus der Anfangszeit der
Auslandseinsätze aus einer Befragung von Unteroffizieren und Offizieren gewonnen, die den
Erfahrungen aus Österreich nur auf den ersten Blick widersprechen. Danach erschien es den
Befragten, wie die für diese Studie federführende Militärsoziologin Sabine Collmer von
der Münchner Bundeswehruniversität schreibt, "noch wichtiger (als die
Zusammenarbeit mit anderen Nationen)" zu wissen, daß eine "deutliche Mehrheit
der Bevölkerung für den Einsatz" ist - und zwar unabhängig von einer Zustimmung
des Bundestages. Hier zeigt sich eine zivil-militärische Beziehung, die Mut machen
könnte, wenn - ja wenn diese Bevölkerung sich tatsächlich um die Belange der
Streitkräfte kümmern, für diese interessieren würde. Schon Georg Leber,
Verteidigungsminister in den siebziger Jahren, konnte sich nur auf eine schweigende
Mehrheit berufen, wenn er von der Zustimmung der zivilen Gesellschaft zur bewaffneten
Macht gesprochen oder im Weißbuch geschrieben hat.
3. Die Bundeswehr als Spiegelbild der Gesellschaft?
Gerade den politischen und militärischen Entscheidungsträgern ist es
ein besonderer Wunsch, daß die Streitkräfte ein Spiegelbild der Gesellschaft sein
sollten. Und eben dies, so die in diesen Kreisen gängige Ansicht, sei nur durch die
Wehrpflicht gewährleistet. Die Hoffnung, daß das Bundesverfassungsgericht diesem Spuk
aus Vorurteilen, Halb- oder Unwahrheiten am 10.April ein Ende machen würde, hat sich
nicht erfüllt. Das höchste deutsche Gericht hat die Wehrpflicht unter Hinweis auf
frühere Entscheidungen als verfassungsgemäß bestätigt, zugleich aber die Frage nach
deren Zweckmäßigkeit an die Politiker zurücküberwiesen: "Die dem Gesetzgeber
eröffnete Wahl zwischen einer Wehrpflicht- und einer Freiwilligenarmee," so heißt
es in der Begründung, ist "eine grundlegende staatspolitische Entscheidung, die auf
wesentliche Bereiche des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens einwirkt und bei der
der Gesetzgeber neben verteidigungspolitischen Gesichtspunkten auch allgemeinpolitische,
wirtschafts- und gesellschaftspolitische Gründe von sehr verschiedenem Gewicht zu
bewerten und gegeneinander abzuwägen hat."
Die Folgen, die sich aus dieser Zurückhaltung des Gerichtes ergeben,
sind für die Bundeswehr zweifellos verheerend. Denn da die Mehrheit der Politiker (hier
erscheint sie wieder: die Große Koalition) - aus welchen Gründen auch immer - an der
Wehrpflicht festhalten will, bleiben die Probleme der deutschen Armee nicht nur unlösbar,
sondern sie werden sich noch erheblich verschärfen. Dabei - und das ist das Verblüffende
- sind so ziemlich alle Argumente widerlegbar, die für die Erhaltung der Wehrpflicht bzw.
gegen eine Freiwilligenarmee ins Feld geführt werden.
Einige Argumente sollen hier noch einmal kurz aufgenommen werden, weil
sie eines deutlich machen: Nicht Nähe und Distanz der Streitkräfte zur zivilen
Gesellschaft sind gegenwärtig das Problem, sondern die Distanz der Gesellschaft bzw.
deren politischer Entscheidungsträger zu den Streitkräften.
Ein paar Beispiele: Es gibt die These, nur die Wehrpflichtarmee könne
Spiegelbild der Gesellschaft sein. Tatsächlich ist die heutige Bundeswehr mit Wehrpflicht
schon lange keine gesellschaftlich repräsentative Armee mehr. Über 180.000 junge Männer
haben den Kriegsdienst im vergangenen Jahr verweigert - mehr, als Wehrpflichtige
eingezogen worden sind. Frauen sind von diesem sogenannten "Austausch" ganz
ausgeschlossen, sie dürfen nur freiwillig antreten. Müßten sie in das WehrPFLICHTsystem
mit einbezogen werden, bräche die geplante Bundeswehrstruktur sofort zusammen. Darum
vielleicht hat das Bundesverfassungsgericht einen Tag nach seiner für die Bundeswehr
verhängnisvollen Entscheidung zur Wehrpflicht auch gleich den Beschluß nachgeschoben,
daß die Beschränkung der Wehrpflicht auf Männer ebenfalls mit der Verfassung
übereinstimme.
Zudem: Ein zivil-militärischer Austausch findet natürlich auch bei
einer Freiwilligenarmee statt. Denn eine Freiwilligenarmee ist nicht gleichbedeutend mit
Berufsarmee, in der - wie bei den Lehrern - von der Beamtung bis zur Pensionierung gedient
wird. Jürgen Groß, selbst Oberstleutnant und zur Zeit abkommandiert an das Hamburger
Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, weist einsehbar darauf hin, daß
die Verpflichtungszeiten der meisten Soldaten einer Freiwilligenarmee ebenfalls befristet
wären, bei den Mannschaften in der Regel auf vier, bei den Unteroffizieren auf sechs
sowie bei den Offizieren auf zehn Jahre. Auf diese Weise, so Groß in seiner kleinen
Schrift "Reform der Inneren Führung", "bliebe auch das
integrationsfördernde Element des ständigen Personalaustausches zwischen Streitkräften
und Gesellschaft weitestgehend erhalten."
Im übrigen gilt dieses Konzept von der Inneren Führung ja nicht - wie
manche glauben machen wollen - ausschließlich oder doch vorrangig für Wehrpflichtige,
sondern ebenso für Zeit- und Berufssoldaten, zumal diese, mehr noch als früher, das
Fundament für die Armee in der Demokratie bilden. Der Wehrpflichtige heute, der neun
Monate dient und das vielleicht gar noch in drei Schritten von sechs Monaten plus zweimal
sechs Wochen, eignet sich bestenfalls als Statussymbol, da er sich weder als Soldat noch
als Staatsbürger in Uniform richtig entfalten geschweige denn bewähren kann. Und die
freiwillig länger Grundwehrdienstleistenden (23 Monate) sind bereits ein kaschierter
Bestandteil einer Freiwilligenarmee.
Ein weiteres Argument lautet, daß eine Freiwilligenarmee besonders
attraktiv wäre für Rambos und Rechtsradikale. Diese Behauptung ist schon in sich
unlogisch, da die bewaffnete Macht bereits immer große Anziehungskraft auf gewaltbereite
Menschen ausübt hat. Nur - bei einer Freiwilligenarmee sollte es durch Auswahl und
Ausbildung des Nachwuchses leichter fallen, derartige Typen aus der Truppe herauszuhalten.
Denn, so schreibt Professor Berthold Meyer, Vorstandsmitglied der Hessischen Stiftung für
Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt/Main: "Anders als bei der Wehrpflicht,
von der nur straffällig gewordene Rechtsextremisten ausgeschlossen werden können, wäre
es in einer Freiwilligenarmee möglich, schon bei der dann für alle Bewerberinnen und
Bewerber notwendigen Eignungsprüfung diejenigen herauszufiltern, die nicht in die Armee
einer Demokratie gehören." Im übrigen: Für rechtsextremistische und
fremdenfeindlichen "Vorkommnisse", so nennt es der Wehrbeauftragte, sind, wie
aus dessen jüngstem Jahresbericht hervorgeht, zu 80 Prozent Wehrpflichtige
verantwortlich.
Schließlich die Warnung mit drohendem Unterton: Regierung und
Parlament schicken eine Freiwilligenarmee unbeschwerter und schneller in den Krieg als
eine Wehrpflichtarmee. Wer das behauptet, der sollte sich erst einmal fragen, ob nicht
gerade die derzeitige Wehrpflichtarmee schon viel zu oft, zu schnell und ohne ausreichende
rechtliche sowie konzeptionelle Rahmenbedingungen in den Krieg geschickt wird.
4. Der "Europäer in Uniform"
Die Bundeswehr befindet sich so wie die Bundesrepublik in einer Phase
des Umbruchs, dessen Umfang und Auswirkungen noch unabsehbar sind, zumal die Einflußnahme
durch Regierung und Parlament auf diese Entwicklung immer geringer werden wird.
Dieser Umbruch wird ganz wesentlich, wenn nicht entscheidend vom
Zusammenwachsen Europas in der Europäischen Union geprägt werden. Zunehmend wichtiger
als die NATO jedenfalls wird die Frage sein, wie der alte Kontinent seine Geschicke selbst
in die Hand nimmt. Europa arbeitet an der Entwicklung einer Gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik (GASP), einer Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik
(ESVP) und bereitet den Einsatz gemeinsamer ziviler und militärischer
Krisenmanagementkräfte vor. Die militärischen Kräfte sollen in Korps-Größe im Jahr
2003 einsatzbereit sein. Europa diskutiert eine weitgehende Rüstungszusammenarbeit, nicht
zuletzt zur Abwehr amerikanischer Konkurrenz und arbeitet an der Harmonisierung
militärischer Strukturen und Verfahrensabläufe. Von einer Weiterentwicklung dieser
Ansätze muß man selbst dann ausgehen, wenn Zusammenarbeit und Angleichung zur Zeit nur
stockend und nicht ohne Widersprüche vorankommen. Gefordert ist ja schließlich auf
mittlere und längere Sicht der Verzicht auf eigene nationale Interessen und
Entscheidungsbefugnisse, ja sogar auf Teilaspekte nationaler Souveränität, zugunsten
Europas. Wie sollte das nicht schwerfallen?
Dennoch: Im Hinblick auf diese "europäische" Zukunft - und
gerade deutsche Politiker sehen sich ja gerne an der Spitze des europäischen Fortschritts
- geht es nicht mehr nur um nationale militärische Reformen, noch dazu um halbherzige; es
geht vielmehr darum, für diese Zukunft gerüstet zu sein - was für die Streitkräfte
wörtlich zu nehmen ist. Es geht um einen Neuanfang. Daß die aktuellen Pläne zum Umbau
der Bundeswehr einen Neuanfang mit europäischer Perspektive bedeuten, behaupten nicht
einmal die dafür Verantwortlichen.
Einige Stichworte zu einem solchen Neuanfang mögen verdeutlichen,
worum es geht:
- Die Bundeswehr als bewaffnete Dienstleistungsorganisation. In Anbetracht der auch
zukünftig rasant wachsenden Rüstungskosten können Streitkräfte nicht mehr dafür
eingesetzt werden, an der Oder Deiche zu sichern oder im Kosovo und Afghanistan Straßen
zu bauen. Sie sind - soweit Militär wohl auch in Zukunft leider nötig ist -
ausschließlich zum Einsatz mit Waffen eingeplant. Daß sich aus dieser Perspektive ein
285.000 Mann/Frau-starke Wehrpflichtarmee (CDU/CSU wollen gar 300.000) von selbst
verbietet, bedarf keiner Erläuterung. Da die Bundeswehr im Rahmen von ESVP und GASP nicht
allein agiert, braucht sie maximal 150.000 Soldaten in einer und Rotes Kreuz, NGOs
wie Ärzte ohne Grenzen und vergleichbare Hilfsorganisationen gestärkt und, so wie beim
Militär, einmal gemeinsam und auf europäischer Ebene koordiniert eingesetzt werden
sollten, ist wohl ebenfalls selbstverständlich.
- Die Anforderungen an den Soldaten für die Bundeswehr der Zukunft werden in einem ersten
Schritt so schnell wie möglich festgelegt. Dieser Soldat muß auch dann Bürger in
Uniform bleiben, wenn er in Krisengebieten eingesetzt wird, in denen Krieger und Warlords
das Kriegsbild und die Gesellschaft bestimmen. Auch dann und dort darf er nicht zum
Kämpfer, zum Krieger mutieren. Auf diese Weise kann die Bundesrepublik mit ihrer Armee in
Europa ein Beispiel setzen, kann einen demokratischen Standard für europäische Soldaten
vorgeben. (Ob sich dieser Standard gegen Vorstellungen wie jene der französischen
Fremdenlegion durchsetzen läßt, muß sich erweisen.) Trotz aller Kritik an der Praxis
der Inneren Führung: Für und in Europa ist dieses Konzept noch immer vorbildlich, wenn
auch verbesserungsfähig. Vielleicht können alte Einsichten dann endlich in Tat umgesetzt
werden, zum Beispiel, daß jeder Offizier ein Fachstudium unter Einschluß eines
gesellschaftswissenschaftlichen Anleitstudiums zu absolvieren hat. Das wurde zwar schon
vom damaligen Verteidigungsminister Helmut Schmidt bei der Gründung der beiden
bundeswehreigenen Universitäten vor drei Jahrzehnten gefordert, doch der Anteil
studierter Soldaten im Offizierskorps geht schon seit langem ständig zurück.
Einzelheiten dazu werden, wie bei schlechtem Gewissen üblich, geheimgehalten, aber der
ehemalige SOWI-Mitarbeiter Detlef Bald weiß in der Vierteljahrschrift Sicherheit und
Frieden beispielhaft zu berichten, daß "im Jahre 1999 die Luftwaffe nur 28,8 Prozent
studierter Offiziere übernommen hatte. Das,so Bald, "kommt einem regelrechten
Bildungsabsturz gleich."
- Die Politik begründet eine zeitgemäße, unpathetische Legitimation für die Existenz
deutscher Soldaten. Zwar ergibt sich diese Notwendigkeit eigentlich bereits aus der
wachsenden europäischen Zusammenarbeit; daneben aber muß endlich Schluß gemacht werden
mit dem Mythos von der Armee und dem Bündnis als Schicksalsgemeinschaft, als Hüter von
Demokratie und Freiheit. Der Abschied von einer derartigen Heroisierung der Armee würde
nicht nur neue Maßstäbe setzen für eine Demokratisierung der Streitkräfte selbst,
sondern auch die Gefahr bannen - wenn sie denn in einem freiheitlichen, toleranten
Staatswesen auf dem Weg zu einer europäischen Vereinigung überhaupt droht - daß sich
die bewaffnete Macht zu einem reaktionären Staat im Staate entwickeln könnte.
Auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, wie die Europäer ihn eingeschlagen
haben, werden auch in Zukunft noch viele Hindernisse zu überwinden sein; Vernunft und die
Zwänge des Weltgeschehens werden aber nach menschlichem Ermessen dafür sorgen, daß es
auf diesem Wege kein Zurück gibt. Mit dieser Aussicht wird sich das Thema "Die
Bundeswehr und die Demokratie" in zehn oder fünfzehn Jahren nicht mehr so stellen;
wohl aber die Frage nach "Nähe und Distanz der Streitkräfte - des Europäers in
Uniform - zur zivilen Gesellschaft".
Dr. Karl-Heinz Harenberg ist Journalist. Über
Jahrzehnte war er für die Hörfunk-Sendung Streitkräfte und Strategien beim
NDR zuständig, das einzige sicherheitspolitische Hörfunkmagazin Deutschlands.
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