Modernisierung statt Abrüstung – Ein Jahr nach
Obamas Berliner Rede
Gastbeitrag von Thomas Horlohe
Besser hätten die Bedingungen für Barack Obamas Rede am 19.
Juni 2013 nicht sein können: Strahlender Sonnenschein und ein
Berliner Publikum, das ihm vor der historischen Kulisse des
Brandenburger Tors einen herzlichen Empfang bereitete. Der
Friedensnobelpreisträger krempelte die Ärmel seines
blütenweißen Hemdes auf und feierte sich als
Abrüstungspräsident:
O-Ton Obama (overvoice)
„Ich habe unsere Anstrengungen verstärkt, die Verbreitung
von Nuklearwaffen aufzuhalten und die Zahl und die Bedeutung von
Amerikas Kernwaffen verringert. Aufgrund des New START-Vertrages sind
wir dabei, die Zahl der dislozierten Atomsprengköpfe Amerikas und
Russlands auf das niedrigste Niveau seit den 1950er Jahren
zurückzuführen.“
Der Präsident versprach, sich selbst noch zu übertreffen:
O-Ton Obama (overvoice)
„Aber wir müssen noch mehr tun. Deshalb kündige ich
heute weitere Schritte nach vorn an. Als Ergebnis einer umfassenden
Überprüfung bin ich zu der Feststellung gelangt, dass wir die
Sicherheit Amerikas und unserer Verbündeten (…) auch mit
einem Drittel weniger stationierter Nuklearwaffen gewährleisten
können. Ich beabsichtige mit Russland über diese Einschnitte
zu verhandeln.“
Dann kam Obama auf die Atomwaffen, die viele Deutsche
besonders beunruhigen. Für Rüstungskritiker gehören sie
schon längst auf den Müllhaufen der Geschichte: die
sogenannten taktischen Nuklearwaffen. Fast ein Vierteljahrhundert nach
Ende des Kalten Krieges sind sie noch immer für den Einsatz auf
dem sogenannten europäischen Kriegsschauplatz vorgesehen. Obama
weiter:
O-Ton Obama (overvoice)
„Wir werden mit unseren NATO-Verbündeten zusammenarbeiten,
um bei den US-amerikanischen und russischen taktischen Atomwaffen in
Europa mutige Abrüstungsschritte zu erzielen.“
Ein Jahr danach stellt sich die Frage: Was ist aus den wohlklingenden Worten geworden?
Bereits der kritische Blick auf den Redetext ernüchterte: Das New
START-Rüstungskontrollabkommen, für das der Präsident
Beifall heischte, war fraglos ein wichtiger Schritt in die richtige
Richtung. Doch hier lautet das Schlüsselwort
„dislozierte“ Atomsprengköpfe. Das bedeutet, die nach
dem Abkommen überzähligen Sprengköpfe werden von den
Trägersystemen, also z.B. den Interkontinentalraketen lediglich
heruntergeladen und entfernt. Aber damit sind sie noch nicht
unschädlich gemacht und verschrottet, sondern einer Reserve
zugeführt, die einer abstrakten Risikovorsorge dienen soll.
Die gründliche Überprüfung der Atomstreitkräfte und
–strategie, auf die der Präsident sich in seiner Berliner
Rede bezog, hatte über zwei Jahre benötigt. Das
Ergebnis - dass die USA mit einem Drittel weniger strategischer
Nuklearwaffen auskommen können - war bereits vier Monate zuvor
durchgesickert. Es ist erfreulich, aber gemessen am Anspruch des
Präsidenten doch eher bescheiden. Verständlich, mithilfe
dieser Verhandlungsmasse mit Russland eine Verringerung gleichen
Umfangs vereinbaren zu wollen. Nur war dieser Versuch bereits wenige
Wochen vor seiner Berliner Rede gescheitert. Obamas Sicherheitsberater
hatte sich bei seinem Besuch in Moskau mit den
Abrüstungsvorschlägen für strategische Nuklearwaffen
eine Abfuhr geholt. Überraschend kam das nicht. Bereits in der
Präambel zum New START-Vertrag hatte Russland sehr deutlich
gemacht, dass seine Sorgen zwei ganz anderen Kategorien von
Waffensystemen gelten: der Raketenabwehr und Langstrecken-Raketen mit
konventionellen Sprengköpfen.
Ein Jahr nach seiner Berliner Rede muss sich der US-Präsident die
Frage gefallen lassen: Wenn sein Ziel eine atomwaffenfreie Welt ist,
warum hält er dann weiterhin an 1.550 US-Atomwaffen fest, ein
Drittel mehr, als Obama für nötig hält? Auf Dauer ist
Einsicht ohne Konsequenzen zu wenig.
Die Ankündigung des US-Präsidenten, „mutige“
Abrüstungsschritte bei den taktischen Atomwaffen zu unternehmen,
erwies sich ebenfalls als fragwürdig. Zeitgleich zur Rede des
Präsidenten in Berlin hatte sein Pressesprecher in
Washington eine Mitteilung über die neue Einsatzstrategie für
Nuklearwaffen veröffentlicht, auf die der Präsident Bezug
nahm. Mit Erstaunen konnte man lesen, dass die Direktive zur neuen
Einsatzstrategie für Atomwaffen gar keine neuen Aussagen zu den
taktischen Nuklearwaffen in Europa enthält. Wörtlich:
Zitat
„Diese Analyse beschäftigt sich nicht mit den in Europa vorn
stationierten Waffen, mit denen die NATO unterstützt werden
soll.“
Das bedeutet, Obama erweckte in seiner Berliner Rede zwar den
Eindruck, er habe einen neuen Anlauf zu „mutigen“
Abrüstungsschritten bei taktischen Nuklearwaffen angeordnet.
Tatsächlich hatte er diese Waffensysteme jedoch ausgeklammert.
Das US-Verteidigungsministerium wurde in seinem obligatorischen Bericht an den Kongress noch deutlicher:
Zitat
„In Übereinstimmung mit der Deterrence and Defense Posture
Review der NATO aus dem Jahr 2012 sollte das vorn stationierte
Dispositiv so lange beibehalten werden, bis die NATO einvernehmlich
feststellt, dass die Zeit reif ist, Änderungen vorzunehmen.“
Im Klartext: die Regierung Obama macht ihre
„mutigen“ Abrüstungsschritte vom Konsens ihrer
NATO-Verbündeten abhängig, die in dieser Frage bisher
bestenfalls Formelkompromisse zustande bringen. Denn für einige
NATO-Staaten sind die taktischen Atomwaffen gefährliche Altlasten
aus dem Kalten Krieg, doch für die östlichen
Bündnismitglieder und Nachbarn Russlands sind sie eine
Versicherungspolice, gerade jetzt nach der Krim-Krise. Für sie
sind diese Waffen ein wichtiger Teil des nuklearen Schutzschirms der
Vereinigten Staaten.
Ein Jahr nach der Rede Obamas vor dem Brandenburger Tor sind die
Chancen auf Abrüstung taktischer Atomwaffen nahezu Null. Oliver
Meier von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik und Simon
Lunn, vormals Generalsekretär der Nordatlantischen Versammlung,
machen sich in einem gemeinsamen Aufsatz keine Illusionen - Zitat:
Zitat
„In den letzten Jahren sind die Bemühungen um eine
Wiederbelebung des Rüstungskontrolldialogs zwischen der NATO und
Russland vollständig zum Erliegen gekommen. Russlands fehlende
Dialogbereitschaft und die Weigerung einiger NATO-Mitglieder,
Veränderungen im nuklearen Dispositiv des Bündnisses vom
Verhalten Russlands zu entkoppeln, haben zu einem Stillstand
geführt.“
Bleibt es also in Sachen Atomabrüstung beim Stillstand?
So könnte man denken. Doch mit der Annexion der Krim durch
Russland könnte aus Stillstand sogar Rückschritt werden.
Zu den Kollateralschäden der Ukraine-Krise dürfte die
Abrüstungsbereitschaft insbesondere kleiner Nuklearstaaten
zählen. Im Budapester Memorandum von 1994 hatte die Ukraine auf
Atomwaffen verzichtet und im Gegenzug Sicherheitsgarantien Russlands,
der USA und Großbritanniens erhalten. Zwanzig Jahre später
haben sie sich als wertlos erwiesen. Andere kleine Staaten, wie
Nordkorea, Iran und Pakistan, setzen bisher erfolgreich auf die
abschreckende Wirkung von Atomwaffen. Libyens Diktator Gaddafi
verzichtete darauf, musste ausländische Interventionen im
Bürgerkrieg hinnehmen und bezahlte diesen Fehler mit dem Leben.
Kernwaffen könnten also wieder attraktiver werden, besonders
für schwache oder gefährdete Staaten. Einige
Strategieexperten sprachen bereits vor der Krim-Annexion von einer
Renaissance der Nuklearabschreckung. Paul Bracken, Sicherheitsexperte
und Professor an der Universität von Yale, rief sogar ein
„Zweites Nuklearzeitalter“ aus.
Die langfristigen Konsequenzen der verdeckten russischen
Militärintervention in der Ukraine sind längst noch nicht
abschätzbar. Zu befürchten ist allerdings, dass einige
Staaten künftig mehr auf atomare Abschreckung als auf
Abrüstung setzen werden.

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