Ordnungsmacht wider Willen – Obamas Dilemma im Nahen Osten
Andreas Flocken
US-Präsident Obama war eigentlich angetreten, um Kriege zu beenden
und keine neuen zu führen. Der Irak-Krieg 2003 war für den
Friedensnobelpreisträger ein unnötiger, ein
„dummer“ Krieg. Der Abzug der US-Truppen vor rund drei
Jahren war für den US-Präsidenten daher ein
überfälliger Schritt.
Doch inzwischen kontrolliert die Terrorgruppe ISIS weite Teile
des Irak. Die Abkürzung ISIS steht für „Islamischer
Staat im Irak und in Groß-Syrien“.
Die USA sind jetzt in einem Dilemma. Denn die Supermacht will einen
Zusammenbruch des Irak verhindern und einem möglichen
Flächenbrand in der Region nicht tatenlos zuschauen. Ein erneutes
Militärengagement kommt aber auch nicht in Frage. Zwar hat Obama
seinen Außenminister in die Region entsandt, um den Konflikt
politisch zu lösen. Doch die Erfolgsaussichten der Mission sind
gering. Obama hatte in der vergangenen Woche zugleich angekündigt,
bei einem weiteren Vormarsch der ISIS-Dschihadisten ggf. auch
militärische Instrumente einzusetzen:
O-Ton Obama
„We will be prepared to take targeted and precise military
action, if and when we determine that the situation on the ground
requires it.”
Die Rede ist von Luftangriffen. Der US-Präsident
versucht, sich so auch zu Hause etwas mehr Luft zu verschaffen. Denn
nicht nur der republikanische Senator John McCain kritisiert Obamas
Irak-Politik und wirft ihm Tatenlosigkeit vor:
O-Ton McCain (overvoice)
„Der Präsident treibt lieber Wahlkampfspenden ein und spielt
Golf. Und jetzt zaudert er, während der Irak brennt."
Der Druck auf Obama ist also groß. Der US-Präsident
hat die Entsendung von Bodentruppen ausgeschlossen. Allerdings sollen
rund 200 Soldaten US-Einrichtungen im Irak schützen.
Außerdem hat der Präsident angekündigt, bis
zu 300 Militärberater in das Land zu schicken.
Unter ihnen sind auch viele Spezialkräfte, die offenbar
US-Luftschläge vorbereiten sollen. Diese Soldaten können
Ziele erkunden und diese für Luftangriffe markieren.
Obamas Parteikollegin, die Minderheitsführerin im
Repräsentantenhaus Nancy Pelosi, warnt daher, vor einer
schleichendenden Eskalation:
O-Ton Pelosi
„You have to be careful sending special forces. Because it's a number that has a tendency to grow up.”
Mit der Entsendung von Militärberatern hatte bereits
Anfang der 1960er Jahre schleichend der Vietnam-Krieg begonnen.
Es wurden immer mehr Soldaten geschickt. Der Krieg endete
schließlich für die USA in einem Debakel.
Obama möchte eigentlich verhindern, dass die USA im Nahen Osten in
einen Krieg hineingezogen werden. Der US-Präsident will eine
politische Lösung, setzt auf eine neue Regierung im Irak. Denn die
von Schiiten dominierte Regierung unter Ministerpräsident
Nuri al-Maliki benachteiligt die Sunniten im Land. Für das
Weiße Haus einer der Hauptgründe für den sich
abzeichnenden Zerfall des Irak. Maliki lehnt einen Rücktritt
allerdings weiterhin ab, ist auch gegen die Bildung einer Regierung der
nationalen Einheit.
Interview Flocken / Dr. Jochen Hippler
Flocken: Über die
festgefahrene Situation im Irak habe ich mit dem Konfliktforscher
Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen gesprochen. Ich
habe Jochen Hippler zunächst gefragt, ob Maliki wirklich der
Alleinschuldige für die gegenwärtige Lage ist:
Hippler: Alleinschuldig wäre vielleicht ein bisschen
überzogen, weil man auch daran denken muss, dass er nicht aus dem
Nichts gekommen ist. Ich glaube, dass die US-Besetzung des Irak
2003 und die Jahre danach eine wichtige Voraussetzung der
Katastrophe waren. Aber Maliki hat als Ministerpräsident eine
große Mitverantwortung, weil er versucht hat, alle anderen
politischen Akteure an den Rand zu drängen und seine
persönliche Macht im schiitischen Lager, aber erst recht
gegenüber Sunniten und Kurden zu stärken. Und das hat halt
viele Gegenreaktionen auf den Plan gerufen.
Flocken: Für viele ist
rätselhaft, dass die Terrorgruppe ISIS so schnell weite Teile des
Irak kontrollieren konnte. Die Rede ist ja von rund 10.000
Kämpfern, möglicherweise sogar weniger. Haben Sie eine
Erklärung dafür, dass man mit einigen Tausend Kämpfern
große Teile Syriens und des Irak kontrollieren kann?
Hippler: Ich glaube, das ist nicht so schwer zu erklären,
weil es eben tatsächlich nur bestimmte Teile des Landes sind.
Landesteile, die entweder praktisch Wüste mit einer sehr geringen
Bevölkerungsdichte sind, oder es sind Gebiete, die im Westen des
Landes liegen und von sunnitischen Bevölkerungsteilen bzw.
sunnitischen Stämmen bewohnt werden. Und die haben in den letzten
Jahren unter Maliki, vor allem seit 2011, das Gefühl gehabt, dass
sie an den Rand gedrückt werden, dass sie nicht ernst
genommen und stattdessen misshandelt, unterdrückt und auch
ziemlich brutal unterdrückt werden. Und sie sehen inzwischen in
den Aufständischen das kleinere Übel verglichen mit dem
irakischen Staat. Das heißt, wenn die Bevölkerung die
ISIS-Verbände nicht tolerieren würde, teilweise nicht
unterstützen würde, dann wäre dieses schnelle Vordringen
völlig undenkbar gewesen. So einen Vormarsch kann man sich in
anderen Landesteilen daher nicht vorstellen. Im kurdischen Norden
beispielsweise kann man das ausschließen. Und in den schiitischen
Teilen des Irak, also vor allem im Süden und im Südosten und
in großen Teilen von Bagdad, wo die Schiiten dominieren, ist so
ein Vorstoß ebenfalls auszuschließen. Das heißt,
dieses blitzartige Vordringen legt eben tatsächlich nahe, dass es
nur möglich wurde aufgrund des Stillschweigens oder der aktiven
Hilfe großer Teile der sunnitischen Bevölkerung, weil sie im
Moment Maliki schlimmer findet als ISIS.
Flocken: In Syrien tobt ja
schon seit mehr als drei Jahren ein Bürgerkrieg. Und auch hier ist
die Terrorgruppe ISIS ein wichtiger Akteur. Jetzt erleben wir auch im
Irak einen offenen Bürgerkrieg. Sind diese Konflikte nicht schon
längst verschmolzen zu einem Konflikt?
Hippler: Ja, wir haben insgesamt einen regionalen Konflikt.
Denken Sie an die Situation in Libyen nach dem Sturz von Gaddafi, da
gibt es Verknüpfungen mit Mali, mit Boko Haram in Nigeria, aber
auch Waffenlieferungen nach Ägypten, nach Syrien, und in den Irak.
Und dann haben wir jetzt tatsächlich diesen Doppelkrieg in Syrien
und im Irak. Es besteht die Gefahr, dass jetzt Jordanien, vielleicht
die Türkei, aber vor allem der Libanon mit reingezogen werden. Das
heißt, diese Aufbruchsstimmung von 2011 / 2012 mit dem Arabischen
Frühling ist inzwischen ersetzt worden durch eine regionale
Bürgerkriegssituation.
Flocken: Kritiker bezweifeln,
dass der Irak als Staatsgebilde überhaupt noch zu halten ist. Der
Norden wird ja de facto schon jetzt von den Kurden kontrolliert. Steht
der Irak als Staat vor dem Zerfall?
Hippler: Also das wäre noch ein bisschen zu früh, es
so zu sagen. Es gab in den 90er Jahren solche Spekulationen, die sich
aber nicht bewahrheitet haben. Wir hatten sie 2003 / 2005. Das hat sich
ebenfalls nicht bewahrheitet. Allerdings muss man schon sagen, dass aus
zwei Gründen die Gefahr des Zerfalls des Irak jetzt etwas
stärker geworden ist. Erstens, weil jetzt ein großer Teil
der sunnitischen Bevölkerungsgegenden dieses blitzartige
Vordringen von ISIS unterstützt. Das zeigt, wie sehr sich diese
arabischen Sunniten inzwischen entfremdet haben. Und zweitens haben die
Kurden relativ klug diese Situation des Vordringens ausgenutzt, um etwa
Kirkuk, also die Ölstadt im Norden, und andere Gegenden unter
Kontrolle zu bringen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Kurden
diese Kontrolle wieder abgeben werden, wenn die Krise vorbei ist.
Flocken: Weite Teile des Irak
werden von der Terrororganisation ISIS kontrolliert. Kritiker sagen,
die Ursachen für die jetzigen Probleme des Landes sind in erster
Linie auf den US-Angriff 2003 zurückzuführen. Und auf den
Sturz von Saddam Hussein. Denn damals gab es praktisch keine Al Qaida
im Irak, auch keine Terrorgruppe ISIS. Inwiefern sind die USA
mitverantwortlich für die jetzige Entwicklung?
Hippler: Ich glaube, dass es eine große Mitverantwortung
der USA gibt. Es hat aber auch Faktoren vorher und nachher gegeben.
Bereits in den 20er und 30er Jahren hat der damalige irakische
König sich darüber beschwert, dass der Irak eigentlich gar
nicht regierbar ist. Aber ich glaube, dass die USA eine
Schlüsselrolle haben. Zum Teil war es so, dass die Erwartungen
Washingtons bei der Intervention und bei der Besetzung ausgesprochen
naiv gewesen sind. Man dachte, in 90 Tagen das Land an eine neue
irakische Regierung weitergeben zu können. Dann stellte man fest,
dass es keine funktionierenden Parteien, keine Gewerkschaften, keine
Zivilgesellschaft gab und dass man zuerst nicht wusste, an wen man die
Macht übergeben sollte. Außer evtl. an zwei islamistische
schiitische Parteien. Das wollte man damals aber nicht. Und dann hat
man eben händeringend repräsentative irakische Politiker
gesucht, und das waren dann halt Schiiten, Sunniten, Kurden und andere.
Und dann hat man sozusagen eine Prämie darauf ausgesetzt, wer ist
„schiitischer“ und wer ist „sunnitischer“ als
der Gegner. Und das hat die Spaltung in der irakischen Gesellschaft,
die es da sicher gab, wesentlich verschärft. Insofern glaube ich
tatsächlich, dass die US-Besatzung eine große
Mitverantwortung für die gegenwärtige Situation hat.
Flocken: Die USA sind ja dann Ende 2011 aus dem Irak abgezogen. Erfolgte der Abzug zu früh?
Hippler: Zu früh, das kann man nicht sagen. Wenn damals
Herr Maliki, der auch einen großen Teil der Schuld hat, eine
versöhnende, eine integrierende Politik betrieben hätte, und
nicht eine Politik, persönlich alle Macht auf sich selbst zu
konzentrieren, und alle seine Gegner an die Wand zu drängen, dann
hätte es eine Chance für den Irak gegeben. Es hat aber keinen
Mechanismus, keine Automatik gegeben, dass nach dem US-Abzug das
rauskommen musste, was jetzt im Irak passiert. Maliki hatte eine
Chance, die er aber vollkommen missachtet und nicht genutzt hat.
Flocken: Die USA haben ja vor
ihrem Abzug aus dem Irak Ende 2011 Milliarden von Dollar in Ausbildung
und Ausrüstung der irakischen Sicherheitskräfte gesteckt.
Gegen die zahlenmäßig kleine Terrorgruppe ISIS haben die
irakischen Sicherheitskräfte aber de facto keinen Widerstand
geleistet. Zeigt das nicht, wie fragwürdig das Konzept ist,
Sicherheitskräfte auszubilden und auszurüsten, ohne dass man
eine politische Lösung hat? Ich frage das auch mit Blick auf
Afghanistan, wo ja ein ähnliches Konzept seit Jahren praktiziert
wird.
Hippler: Natürlich. Sie haben völlig Recht. Wenn man
eine Situation hat, in der der Staatsapparat als Fremdkörper oder
sogar als Feind betrachtet wird, und dazu haben sowohl Herr Karsai in
Afghanistan als auch Herr Maliki im Irak, sehr viel dazu beigetragen;
also wenn der Staatsapparat selber nicht die Gesellschaft
repräsentiert, sondern wahrgenommen wird als ein Machtinstrument
einer kleinen Clique oder einer Person oder einer bestimmten
Bevölkerungsgruppe, wenn Sie in so einem politischen Rahmen
Militär ausbilden, dann heißt es nicht, dass dieser Apparat
unter [gesellschaftlichen] Belastungen tatsächlich auch
funktionieren wird. Eine Militärausbildung ist nicht nur etwas
Technisches, so als ob man Gewehre reinigen oder Fahrzeuge benutzen
kann. Es geht ja eben tatsächlich darum, einen Sicherheitsapparat
zu haben, der dann in Kriegen, auch unter Lebensgefahr für die
eigene Regierung eintritt, für den eigenen Staat. Und wenn die
Leute das Gefühl haben, warum sollte ich für Karsai oder
für Maliki sterben, dann nützt Ihnen die beste Ausbildung
nichts. Das Primäre muss tatsächlich in solchen Situationen
sein, die Gesellschaft zusammenzuführen, zu integrieren, einen
funktionierenden legitimen Staatsapparat zu haben. Dann ist die
Stärkung von Sicherheitsapparaten sicher eine sehr nützliche
und notwendige Geschichte. Aber ohne diese Grundsätze, ohne diese
Grundlage hängt die Ausbildung der Sicherheitskräfte
völlig in der Luft. Und wie wir jetzt im Irak sehen, schmilzt der
Sicherheitsapparat dann wie Schnee in der Sonne, wenn die
Voraussetzungen nicht vorhanden sind.
Flocken: Der Vormarsch der
Terrorgruppe ISIS wird von den USA und den westlichen Staaten als
große Bedrohung wahrgenommen. Der syrische Machthaber Assad
versucht ebenfalls, die Terrormiliz ISIS zu zerschlagen, genauso wie
die USA. Geht Assad aus der momentanen Situation nicht sogar sehr
gestärkt hervor? Ist er möglicherweise nicht wieder für
den Westen akzeptabel, als Bollwerk gegen den Terrorismus? Assad quasi
als das kleinere Übel?
Hippler: In gewisser Hinsicht ist diese Tendenz, Assad als das
kleinere Übel zu nehmen schon so seit einem bis eineinhalb Jahren
in Gange, auch wenn man das öffentlich nicht ausspricht. Aber im
Schatten dieser sich veränderten Wahrnehmung, spielt jetzt
natürlich auch ISIS eine gewisse Rolle. Und da kann man schon
sagen, dass Assad inzwischen von vielen Leuten, auch im Ausland, jetzt
nicht mehr als so schlimm gesehen wird wie früher. Allerdings ist
dieser „Rückweg“ schwierig: weg von dieser
aktivistischen Umsturzpolitik gegen die syrische Diktatur, die ja von
den meisten westlichen Ländern betrieben worden ist, hin zu einer
Politik, mit dem Diktator wieder ins Geschäft zu kommen. Eine
solche Politik ist natürlich auch nicht sehr beliebt in der
Öffentlichkeit. Man wird da noch ein bisschen vorsichtig sein, bis
man den Schritt gehen wird.
Flocken: Welche
Möglichkeiten hat denn der Westen, jetzt von außen
einzugreifen oder eine Lösung des Konfliktes zu unterstützen?
Hippler: Ich glaube, dass es praktisch keine gibt, wenn die
Voraussetzungen im Irak und in Syrien von innen heraus nicht gegeben
sind. Wir haben jetzt gelernt, in Somalia, in Afghanistan, im Irak und
sonst wo, auch in Syrien, dass die Möglichkeit westlicher Politik
durch militärische Stärke, Regime zu zerstören und zu
stürzen, fast unbegrenzt ist. Beispiele sind Saddam Hussein, die
Taliban und Muammar al-Gaddafi. Aber es mangelt an der Fähigkeit
nach dem Sturz solcher Regime, neue Gesellschaften konstruktiv
aufzubauen. An dieser Aufgabe ist sind wir fast immer gescheitert, weil
die notwendigen Voraussetzungen in den Ländern nicht vorgelegen
haben. Das sollte auch dazu führen, vielleicht in Zukunft die
Kriterien für solche Interventionen nochmal etwas kritischer und
selbstkritischer zu überdenken.

Andreas Flocken ist Redakteur
für die Hörfunk-Sendung "Streitkräfte und
Strategien" bei NDRinfo.
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