Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
16. Juli 2011


Falscher Korpsgeist und schlechtes Krisenmanagement?
Segelschulschiff Gorch Fock bleibt der Marine trotzdem erhalten

Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski

Aufatmen in der Marine. Mit dem in der vergangenen Woche vorgelegten Bericht des Verteidigungsministeriums zu den Vorkommnissen auf dem Segelschulschiff werde endlich ein Schluss-Strich unter dieses unrühmliche Kapitel gezogen, so die Erwartung. Denn der tödliche Sturz der Offiziersanwärterin Sarah Seele aus der Takelage der Gorch Fock im November vergangenen Jahres war der Beginn eine Affäre, die die Öffentlichkeit monatelang beschäftigen sollte. Es gab zahlreiche Vorwürfe. Von Meuterei und sexuellen Belästigungen war die Rede. Berichtet wurde u.a. von einer Karnevalsfeier an Bord kurz nach der Trauerfeier für die verunglückte Soldatin. Der Kommandant des Segelschulschiffes wurde schließlich vom damaligen Verteidigungsminister zu Guttenberg abgelöst – aus Fürsorgegründen, bis alle Vorwürfe geklärt seien.

Unter diesen Negativ-Schlagzeilen hat die Marine sichtlich gelitten. Die kleinste Teilstreitkraft der Bundeswehr fühlte sich zu Unrecht an den Pranger gestellt. Marineinspekteur Axel Schimpf im Mai, nach der Rückkehr der Gorch Fock in Kiel:

O-Ton Schimpf
„Wir wollen weder was vertuschen noch was verheimlichen, sondern wir wollen transparent und offen sein. Und das ist auch mein Ziel. Und ich möchte, dass wir zügig die Gorch Fock wieder in ruhige Fahrwasser kriegen.“

Das Segelschulschiff sollte der Marine erhalten bleiben. Für die Marineführung war eine Aufgabe des Schiffes undenkbar. Denn die Gorch Fock ist ein identitätsstiftendes Symbol der Marine. Fast jeder Offizier war im Zuge seiner Ausbildung auf diesem Schiff. Auch wenn die Erfahrungen an Bord nicht immer positiv waren: das gemeinsame Erlebnis hat das Offizierskorps geprägt und zusammengeschweißt. Dieses enge Miteinander unterscheidet Marineoffiziere vom Offizierskorps der anderen Teilstreitkräfte. Ein Verlust der Drei-Mast-Bark wäre für das Selbstverständnis und den Stolz der Marineführung ein schwerer Schlag.

Gleich mehrere Untersuchungen sollten Licht in das Dunkel der Gorch-Fock-Affäre bringen. Die Staatsanwaltschaft Kiel untersuchte die Todesumstände der Offiziersanwärterin. Parallel dazu beschäftigte sich der Havariebeauftragte der Marine mit dem Unfall. Ein weiteres Gremium sollte klären, ob die Ausbildung auf dem Schiff noch zeitgemäß ist. Außerdem wurde Konteradmiral Kolletschke vom Marineamt in Rostock beauftragt, die von den Offiziersanwärtern und in den Medien erhobenen Vorwürfe zu untersuchen.

Dieser Bericht wurde im März vorgelegt. Trotz der vom Marineinspekteur angekündigten Offenheit und Transparenz war er allerdings nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Der rund 100 Seiten starke Report trägt den Stempel Verschlusssache: VS – Nur für den Dienstgebrauch. Das gilt übrigens auch für die anderen inzwischen vorgelegten Berichte der Bundeswehr zur Gorch Fock-Affäre.

Konteradmiral Kolletschke entlastet in seinem Bericht die Besatzung des Segelschulschiffes. In der abschließenden Bewertung heißt es:

Zitat Kolletschke-Bericht
„Als Ergebnis der Untersuchung stellt die Kommission fest, dass die erhobenen Vorwürfe sich zum großen Teil als nicht haltbar erwiesen haben. Soweit Vorwürfe in Teilen bestätigt werden konnten, besaßen diese hingegen bei Weitem nicht die Qualität, die ihnen ursprünglich beigemessen worden ist.“

Also viel Geschrei um nichts? In den Medien schien sich das Blatt zu wenden. So manche Zeitung sah den geschassten Kommandanten der Gorch Fock bereits rehabilitiert.

Kolletschke räumt in seinem Bericht u.a. mit dem Missverständnis auf, das Aufentern, d.h. das Klettern auf die knapp 30 m hohen Masten, sei für die Offiziersanwärter freiwillig. In dem Bericht ist von einer „verpflichtenden Enterausbildung“ die Rede. Erst nach dem tödlichen Unfall im November hat der damalige Kommandant Schatz gegenüber Offiziersanwärter klargestellt, niemand werde gezwungen aufzuentern.

Beim Krisenmanagement der Gorch Fock-Affäre durch die  Marine ist diese Differenzierung allerdings nie deutlich geworden. Offenbar trauten sich die für die Öffentlichkeitsarbeit zuständigen Stellen nicht, nach dem tödlichen Unfall deutlich zu sagen, dass vor dem Sturz aus der Takelage grundsätzlich jeder Offiziersanwärter an Bord aufentern musste.

Als der Kolletschke-Bericht im März jedoch im Verteidigungsausschuss beraten werden sollte, gab es eine Überraschung. Das Thema wurde kurzfristig wieder von der Tagesordnung genommen. Der Grund: Staatssekretär Wolf ließ die Ausschussmitglieder wissen, das Verteidigungsministerium mache sich diesen Bericht nicht zu eigen. Die Empörung in dem Ausschuss war groß. Verwundert war aber auch Marineinspekteur Axel Schimpf, der dem Ausschuss Rede und Antwort stehen wollte. Der verteidigungspolitische Sprecher der Grünen Omid Nouripour:

O-Ton Nouripour
„Wir haben hier einen Bericht zu den Vorkommnissen auf der Gorch Fock bekommen. Jetzt sagt die Bundesregierung: Wir haben mit dem Bericht überhaupt nichts zu tun. Das war nur die Leitung der Marine.“ 

Ein einmaliger Vorgang und zugleich eine Ohrfeige für Marineinspekteur Axel Schimpf, der den Report weitergeleitet hatte.
 
Warum aber ging die Bundesregierung auf Distanz zum Marine-Bericht? Ganz offensichtlich teilte die Spitze des Verteidigungsministeriums nicht die Schlussfolgerungen und den Inhalt des Reports. Sollte die Marine möglicherweise doch reingewaschen werden und in einem möglichst guten Licht erscheinen?

Bemerkenswert ist jedenfalls, dass für den Bericht zwar zahlreiche Soldaten und Offiziersanwärter befragt worden sind, nicht jedoch der Kommandant und der Erste Offizier der Gorch Fock. Dabei tragen sie die Hauptverantwortung für die Abläufe an Bord. Warum diese Befragung nicht erfolgte, lässt der Bericht offen.

Es stellt sich außerdem die Frage, ob es richtig war, die Vorwürfe durch den Chef des Marineamtes untersuchen zu lassen. Möglicherweise war er befangen. Denn seiner Dienststelle untersteht die Marineschule Mürwik, der die Gorch Fock unterstellt ist.

Probleme mit dem Kolletschke-Bericht hatte auch der Wehrbeauftragte des Bundestages. So stellt das Team des Konteradmirals beispielsweise fest, dass nach dem tödlichen Unfall das Aufentern auf Befehl des Kommandanten nur noch auf freiwilliger Basis erfolgte. Daraufhin wollten zwölf Offiziersanwärter nicht mehr in die Takelage. Trotz dieses Befehls hat es nach Angaben von Lehrgangsteilnehmern jedoch Sticheleien und Kritik von Offizieren gegeben. Dieser Umstand wird von Kolletschke allerdings nur beiläufig erwähnt, und ist für ihn kein Grund gewesen, der Sache genauer nachzugehen.

Bei zwei Offiziersanwärtern, die wegen mangelnder Eignung zum Offizier abgelöst werden sollten, ist die Weigerung aufzuentern, u.a. als Begründung für ihre geplante Suspendierung angeführt worden – obwohl aufentern nach dem Unfall freiwillig war. Ein Fehler, wie in dem Report einräumt wird, aber zugleich ein Hinweis darauf, dass auch noch nach dem Tod der Kadettin in unzulässigerweise Druck auf die Offiziersanwärter ausgeübt worden ist.

Kein Problem hat der Marine-Bericht mit der sogenannten Heizerleine im Maschinenraum der Gorch Fock. Es geht um eine Wäscheleine mit Damenslips, die Besatzungsmitglieder über Jahre hinweg von Landgängen mitgebracht haben sollen, quasi als Trophäen-Sammlung. Für die Untersuchungskommission nicht mehr als ein „traditioneller Spaß“. Zitat:

Zitat Kolletschke-Bericht
„Zwar entspricht die Leine nicht den Maßstäben der ‚political correctness‘, [sie] stellt aber gerade für die Soldaten der Schiffstechnik ein zusammenhaltsförderndes Element dar, welches in der Abwägung unter Führungsaspekten nicht zu beanstanden ist und als ‚Brauchtumsstück‘ betrachtet werden muss.“

Der Kolletschke-Bericht sieht also keinen Handlungsbedarf, obwohl eingeräumt wird, dass sich Offiziersanwärterinnen durch die Wäscheleine gestört fühlten.

Zu anderen Punkten wie beispielsweise der kurzen Dauer und den Umständen der Segelvorausbildung unmittelbar nach der Ankunft der Offiziersanwärter gibt der Bericht keine Auskunft. Das hätte man aber erwartet. Denn die rund 70 Offiziersanwärter waren erst nachts am 6. November aus Deutschland kommend verspätet im brasilianischen Hafen Salvador de Bahia eingetroffen. Sie hatten noch mit der Zeit- und Klimaumstellung und dem Jetlag zu kämpfen. Einen Tag später passierte der tödliche Unfall, nachdem die Offiziersanwärter zum siebten Mal aufgeentert waren.
 
Zur Segelvorausbildlung schweigt die Marine in ihrem Untersuchungsbericht. Anders die Staatsanwaltschaft Kiel. Ihre Sprecherin, Birgit Heß, im vergangenen Monat bei der Bekanntgabe der Ermittlungsergebnisse:

O-Ton Heß
„Wir haben festgestellt, dass diese Grundausbildung, gerade innerhalb dieser ersten Tage doch sehr aufwendig ist und den jungen Soldaten eine Menge abverlangt. Es ist aber nicht Aufgabe der Staatsanwaltschaft letztendlich zu beurteilen, wie dann der Ablauf sachgerecht zu sein hat oder ob man ihn zukünftig auch verbessern könnte.“

In der Tat, das wäre Aufgabe der Marineführung. Trotzdem nimmt die Staatsanwaltschaft kein Blatt vor den Mund und wundert sich, dass es auf der Gorch Fock offenbar an klaren Vorgaben für die Ausbildung mangelt. In dem Ermittlungsbericht heißt es:

Zitat Ermittlungsbericht
„Vor dem Hintergrund der vielzähligen Vorschriften und Regelungen innerhalb der Bundeswehr, hier speziell der Marine, erscheint es deshalb bemerkenswert, dass die Segelvorausbildung an Bord der Gorch Fock seit Indienststellung ohne Vorgaben der Abläufe im Einzelnen ‚wie immer‘ nach dem Ermessen der Schiffsführung durchgeführt wird. Dies mit der Folge, dass eine Einweisung der Ausbilder einschließlich Wachführer, Segeloffizier und Divisionsoffizier jeweils durch die Vorgänger im Amt erfolgt.“

Doch damit nicht genug. Der Ermittlungsbericht stellt fest:

Zitat Ermittlungsbericht
„Inwieweit bei diesen ‚Einweisungen‘ sichergestellt ist, dass einheitliche Vorgaben durch die Schiffsführung berücksichtigt und umgesetzt werden, konnte im Rahmen der Ermittlungen nicht nachvollzogen werden.“

Aus Sicht der Staatsanwaltschaft war bei der Ausbildung an Bord viel vom Zufall und von der persönlichen Einschätzung der Stammmannschaft abhängig. Das Ermittlungsverfahren wegen des Todes der Offiziersanwärterin Sarah Seele wurde zwar eingestellt, doch für die Staatsanwaltschaft bleiben Fragen offen.

Zitat Ermittlungsbericht
„Nicht nachvollziehbar ist, dass aufgrund fehlender Vorgaben es den Ausbildern in der Takelage überlassen blieb, welche Probleme der Kadetten […] meldepflichtig waren und welche nicht. Auch konnte nicht sicher festgestellt werden, dass - wie sonst im militärischen Bereich durchaus üblich - konkrete Meldewege vorgegeben waren. Der entsprechende Austausch zwischen den Ausbildern in der Takelage und dem Wachführer scheint eher beiläufig in den ‚Rauchpausen‘ an Deck stattgefunden zu haben.“

Der Hintergrund: Einige Ausbilder hatten bemerkt, dass die abgestürzte Offiziersanwärterin zuvor Probleme in der Takelage hatte. Diese Hinweise wurden jedoch während der Ausbildung nicht an die anderen Aufsichtspersonen weitergegeben.

Es gab also durchaus Defizite und Probleme an Bord der Gorch Fock  – auch wenn der Kolletschke-Bericht der Marine einen anderen Eindruck vermittelt. Diese Erkenntnis hat sich letztlich auch bei der Spitze des Verteidigungsministeriums durchgesetzt. Und das erklärt, warum man sich den im März vorgelegte Marine-Bericht nicht zu eigen gemacht hat.

In der in der vergangenen Woche vorgelegten Bewertung des Verteidigungsministeriums wurden schließlich zentrale Aussagen der Kolletschke-Kommission kassiert. Stattdessen sind in dem neuen Bericht Erkenntnisse der Staatsanwaltschaft aufgegriffen worden. Kritisiert wird insbesondere der Kommandant der Gorch Fock. Sein Führungsverhalten habe nicht für widerspruchsfreie, verlässliche und klare Vorgaben an Bord gesorgt. Das gelte insbesondere für die Segelvorausbildung.

Das Verteidigungsministerium hält es außerdem nicht für akzeptabel, dass derartige Mängel nicht den vorgesetzten Dienststellen des Segelschulschiffes aufgefallen seien. Sie seien offensichtlich auch Resultat einer mangelnden Dienstaufsicht über einen längeren Zeitraum hinweg. Die Kritik richtet sich an die Marineschule in Mürwik, zu der die Gorch Fock gehört. Angesprochen fühlen muss sich aber auch die nächsthöhere Dienststelle, das Marineamt in Rostock unter Führung von Konteradmiral Kolletschke. Dieser Offizier war mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragt worden.
 
Untersagt worden sind auch das Aufhängen der sogenannten „Heizerleine“ und vergleichbare angebliche „Trophäensammlungen“. Kolletschke hatte diese Praktiken noch verteidigt. Vermeintliches „Brauchtum“ dürfe weder diskriminierend, geschmacklos noch verletzend sein, heißt es jetzt.

Die Bewertung des Verteidigungsministeriums ist also wenig schmeichelhaft für die Marine und ihren Inspekteur Axel Schimpf. Zurück bleibt der Eindruck, die Marine hat die Aufklärung der Gorch Fock-Affäre eher halbherzig betrieben. Dabei hatte man doch Offenheit und Transparenz angekündigt.

So wie es aussieht, wird das Segelschulschiff aber weiterhin der Marine erhalten bleiben. Nicht nur der Marineberichterstatter der CDU-Bundestagsfraktion, Ingo Gädechens, ist sich da ganz sicher:

O-Ton Gädechens
„Dieses Segelschulschiff der Deutschen Marine bekommt einen Neustart mit einem neuen Kommandanten, mit einem neuen Ausbildungskonzept und wird damit Ausbildungsplattform der Deutschen Marine bleiben.“

Der neue Kommandant der Gorch Fock übernimmt allerdings ein schweres Erbe. Der Ruf des Segelschiffes ist beschädigt, vielleicht sogar ruiniert. Verantwortlich dafür sind nicht allein die Medien und der damalige Verteidigungsminister zu Guttenberg. Verantwortlich ist auch der Umgang der Deutschen Marine mit der Affäre. Keine guten Voraussetzungen für einen Neustart des Segelschulschiffes.


Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.