Gastbeitrag aus
Streitkräfte und Strategien - NDR info
14. November 2009


Solidarität auf Kosten von Transparenz?

Der Umgang mit dem NATO-Bericht zum Luftangriff bei Kundus.

Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski

Normalerweise wird einem neuen Minister eine Einarbeitungszeit eingeräumt. Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat diese Zeit nicht bekommen. Während der Übergabe des Amtes durch seinen Vorgänger wurde dem Ministerium am 28. Oktober der bereits lange erwartete NATO-Untersuchungsbericht zum Luftangriff bei Kundus übergeben – aus Sicherheitsgründen per Kurier. Im Verteidigungsministerium war bereits festgelegt worden, wie nach der Vorlage des Geheimreports verfahren werden sollte. In der Nacht kam eine Auswertegruppe zusammen, um den 75 Seiten umfassenden Bericht und seine 500 Seiten Anlagen zu studieren. Am Mittag gab dann der oberste Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Schneiderhan, eine 11 Minuten lange Erklärung ab. Fragen der eilig zusammengetrommelten Journalisten waren nicht zugelassen. Zum Inhalt des Untersuchungsberichts sagte Schneiderhan wenig. Dafür schilderte der General umfassend die schwierige militärische Situation, in der sich der damalige Kommandeur von Kundus befunden hatte:

O-Ton Schneiderhan
„Es handelte sich um eine Kombination aus üblicher Vorgehensweise der feindlichen Kräfte, den vorhandenen Warnhinweisen über einen größeren geplanten Anschlag und dem Versuch der feindlichen Kräfte, sich die Mittel für einen solchen Anschlag zu beschaffen. Das führte nach meiner Bewertung zu der richtigen Lagebeurteilung, dass der Luftangriff zum damaligen Zeitpunkt militärisch angemessen war.“

Allerdings war der politischen und militärischen Führung schon kurz nach dem verheerenden Luftangriff klar, dass bei der Anforderung des Luftschlags gegen NATO-Einsatzregeln verstoßen worden war. Darauf ging der Generalinspekteur in seinem Statement am 29. Oktober aber lediglich ganz kurz und dann auch nur indirekt ein:

O-Ton Schneiderhan
„Ohne jetzt an dieser Stelle zu sehr ins Detail gehen zu können, stelle ich fest, dass in dem Untersuchungsbericht eine ganze Reihe von Empfehlungen enthalten sind, die darauf abzielen, die hier angewandten Verfahren und Vorschriften zu verbessern. Das schließt auch die Fachausbildung ein.“

Diese Aussage ist der einzige Hinweis des Generalinspekteurs auf mögliche Fehler bei der Anforderung des Luftangriffs. Dabei war schon längst durchgesickert, dass der Kommandeur von Kundus gegen Einsatzregeln der NATO verstoßen hatte: gegen die Rules of Engagement und das Standard-Einsatzverfahren, die sogenannten Standing Operation Procedures.

Von ISAF-Befehlshaber McChrystal war kurz zuvor ein Kurswechsel angekündigt worden. Der Schutz der Bevölkerung soll im Mittelpunkt der Militäroperationen stehen, nicht der Kampf gegen die Taliban. Ein Umdenken der ISAFTruppe wurde gefordert. Die entsprechende Weisung schließt ein militärisches Vorgehen gegen Aufständische zwar nicht aus, aber in Zweifelsfällen sollte insbesondere auf Luftangriffe verzichtet werden.

Sogenannte Luftnahunterstützung ist nach den NATO-Vorschriften nur zulässig, wenn eigene Truppen Feindberührung haben oder aber eine unmittelbare Bedrohung besteht. Die beiden von den Taliban gekaperten Tanklaster hatten sich ungefähr sieben Kilometer vom deutschen Feldlager entfernt auf einer Sandbank festgefahren – jedoch nicht in Fahrtrichtung zum Bundeswehr- Camp. Es heißt, der Kommandeur von Kundus habe als Begründung für die Luftunterstützung gegenüber den Piloten zunächst „Feindberührung“ angegeben, obwohl keine Soldaten vor Ort waren. Später sei dann von einer „unmittelbaren Bedrohung“ die Rede gewesen. Nach den ISAF-Bestimmungen muss vor einem Luftschlag sichergestellt sein, dass keine Unbeteiligten gefährdet sind. Die Operationszentrale in Kundus stand in der Nacht zum 4. September offenbar in Kontakt mit einem afghanischen Informanten. Diese Quelle soll mehrmals berichtet haben, bei der Menschenmenge um die LKW handle es sich allein um Aufständische - unter ihnen seien auch vier Talibanführer.

Das Geschehen auf der Sandbank konnte im Gefechtsstand im deutschen Feldlager live über die von den Kampfflugzeugen übermittelten Bilder beobachtet werden. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums sprach wenig später sogar von einem dritten Aufklärungsstrang, über den er allerdings keine Einzelheiten nennen wollte. Doch es stellte sich schon bald heraus, dass es diese Quelle nicht gegeben hat. Bei der NATO kommt man inzwischen zu dem Schluss, es habe kein klares und kontinuierliches Lagebild gegeben.

Die US-Piloten der beiden F-15 Kampfflugzeuge sollen dem deutschen Kommandeur fünfmal vorgeschlagen haben, die Tanklaster niedrig zu überfliegen, - als Warnung, um die Menge am Boden zu vertreiben. Die Piloten hatten offenbar Zweifel, dass die Bombardierung im Einklang mit den ISAF-Bestimmungen stand. „Show of Force“ wird eine solche Machtdemonstration genannt. Die Menschen wären voraussichtlich in Panik geflüchtet, mit ihnen wohl auch die gemeldeten Taliban-Führer, - allerdings ohne die festgefahrenen Tanklaster.

Aber ging es dem deutschen Kommandeur allein um die mögliche Bedrohung durch die gekaperten Tanker? Oder ging es möglicherweise auch um die Ausschaltung der Taliban-Führer und der zahlreichen Aufständischen? - Das letzte Wort bei der Luftnahunterstützung hat die Bodenstelle. Der Kommandeur von Kundus lehnte eine Warnung durch Überflüge ab. Die Flugzeuge warfen schließlich zwei Bomben ab. Bis zu 142 Menschen wurden getötet.

Die Bundeswehr hat sich nicht sofort an den Ort der Bombardierung begeben, obwohl es nach einer ISAF-Direktive so vorgesehen ist. Als die Soldaten dort später eintrafen, waren die Toten von Einheimischen bereits geborgen worden. Das ist einer der Gründe, warum sich die genaue Zahl der Opfer nicht mehr exakt ermitteln lässt.

Der Kommandeur von Kundus musste in dieser extremen Situation weitreichende und schwierige Entscheidungen treffen. Für solche Fälle steht ihm vor Ort u.a. ein Rechtsberater zur Verfügung. Doch dieser ist offenbar nicht konsultiert worden. Während des sich über vier Stunden hinziehenden Dramas ist auch kein Kontakt zu den Vorgesetzten in Masar-i-Scharif oder Kabul aufgenommen worden. Einzige Berater des Kommandeurs waren in der Nacht ein Oberfeldwebel und ein Hauptmann, die Kontakt zu den Kampfflugzeugen bzw. zum afghanischen Informanten hielten.

Nach dem verheerenden Luftangriff warnte Verteidigungsminister Jung vor einer Vorverurteilung und stellte sich schnell vor den Bundeswehr-Offizier – ge5 nauso wie die Soldaten in Kundus. Sie sahen sich schon seit Wochen heftigen Attacken der Aufständischen ausgesetzt. Kaum eine Patrouille, die nicht beschossen wurde. Anders als das Verteidigungsministerium sahen sich die Soldaten im Krieg. Die Stimmung in Kundus war schlecht. So mancher Soldat fühlte sich von der politischen und militärischen Führung im mehrere tausend Kilometer entfernten Berlin im Stich gelassen. Nach der öffentlichen Kritik an dem Luftschlag rumorte es in der Truppe.

Schließlich reiste der Generalinspekteur mehr als eine Woche nach dem Luftschlag nach Kundus, um sich selbst ein Bild über die Lage vor Ort zu machen. Es ging aber auch darum, die Gemüter zu beruhigen. Für Kritiker erfolgte diese Reise viel zu spät. Nach der Rückkehr setzte sich Schneiderhan für eine lückenlose Aufklärung des Vorfalls ein. Zitat:

Zitat Schneiderhan
„Das beste Mittel gegen Spekulationen ist die Offenlegung der Wahrheit. ...Wir müssen uns aber auch darauf einstellen, dass dabei Einzelheiten festgestellt werden, die von uns weitere Antworten verlangen. Darauf sollten wir aber gelassen reagieren und Spekulationen tunlichst unterlassen.“

Es gab die Befürchtung, ein Verfahren gegen den Kommandeur wegen des Luftschlags könnte die eh schon angeschlagene Moral der Truppe noch weiter untergraben. Die Sorge ging um, die Soldaten würden in kritischen Situationen gar nichts mehr entscheiden – weil sie befürchteten, sich deswegen vor Gericht verantworten zu müssen. Der scheidende Verteidigungsminister Franz Josef Jung sprach bei seiner Verabschiedung im vergangenen Monat aus, was viele in der Bundeswehr denken. Und er bekam dafür viel Applaus:

O-Ton Jung
„Ich bin und bleibe der Auffassung, und das sage ich auch ausdrücklich für Oberst Klein, dass Soldaten, die einen Auftrag im Rahmen des Mandates wahrnehmen, im Interesse unserer Sicherheit sich engagieren, und deshalb nicht mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert werden sollten.“

Diese Zielrichtung hatte auch die Erklärung von Generalinspekteur Schneiderhan nach Eintreffen des NATO-Untersuchungsberichts. Adressat war vor allem die Generalstaatsanwaltschaft Dresden, die die Einleitung von Ermittlungen prüfte. Das Statement des Generals und die Prüfung des Geheimreports blieben offenbar nicht ganz ohne Wirkung. Die sächsische Anklagebehörde übergab den Fall der Generalbundesanwaltschaft in Karlsruhe – weil sie von einem bewaffneten Konflikt - also einem Krieg - in Afghanistan ausgeht.

Der neue Verteidigungsminister sieht das genauso. Zu Guttenberg spricht ganz bewusst von kriegsähnlichen Verhältnissen - anders als sein Vorgänger, der das Wort Krieg nicht in den Mund nehmen wollte. Die Folge: Die Rechtsposition des Kommandeurs von Kundus hat sich verbessert. Denn die Rechtsgrundlage ist jetzt nicht mehr das nationale Strafrecht, sondern das Völkerstrafgesetzbuch bzw. das humanitäre Kriegsvölkerrecht. Deshalb befasst sich nun die Generalbundesanwaltschaft mit dem Fall. Geprüft wird in erster Linie, ob der Befehl des Offiziers zum Luftschlag verhältnismäßig war. Ob NATOEinsatzregeln beachtet worden sind, spielt dabei keine Rolle. Bei der Bundesanwaltschaft sind wegen des Luftangriffs bereits mehrere Strafanzeigen eingegangen. Sie sind von der Behörde bisher ausnahmslos abgewiesen worden. Rückendeckung hat der Oberst zusätzlich von Verteidigungsminister zu Guttenberg bekommen. Denn nach Abgabe des Verfahrens an die Bundesanwaltschaft bezeichnete der CSU-Politiker den Luftschlag von Kundus nicht nur als militärisch angemessen. Er ging über die Feststellung des Generalinspekteurs sogar noch hinaus - indem zu Guttenberg die in dem geheimen NATO-Untersuchungsbericht festgestellten Fehler und Verstöße letztlich für unerheblich erklärte:

O-Ton zu Guttenberg
„Ich formuliere es mal umgekehrt: Wenn das Ganze fehlerfrei vonstatten gegangen wäre, komme ich auch zu dem Schluss, dass der Luftschlag hätte stattfinden müssen.“

Zugleich lehnte der Verteidigungsminister es ab, wegen der Regelverstöße ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Offenbar auch ein Signal an Karlsruhe. Mit der Rechtfertigung des Luftschlags konterkariert zu Guttenberg allerdings den neuen Ansatz von ISAF-Befehlshaber McChrystal, bei einer Gefährdung von Zivilisten auf Luftangriffe zu verzichten. Denn der neue Verteidigungsminister geht zugleich davon aus, dass bei dem Angriff auch Unbeteiligte zu Schaden gekommen sind. NATO-Stellen halten den Luftangriff für einen Fehler. Bei Beachtung der ISAF-Regeln wäre es gar nicht zu dem Luftangriff gekommen. In dasselbe Horn stößt die Opposition. Der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Rainer Arnold, der den NATO-Untersuchungsbericht in der Geheimschutzstelle des Bundestages gelesen hat:

O-Ton Arnold
„Es ist eindeutig: Es gab Versäumnisse, es gab einen gravierenden Fehler, dieser Einsatz war nicht im Einklang mit den ISAF-Weisungen und es gab auch keine unmittelbare Bedrohung für das deutsche Kontingent. Und insofern muss man sich hier einfach der Wahrheit stellen.“

Zu Guttenberg hat Offenheit und Transparenz angekündigt. Der Verteidigungsminister hat die NATO gebeten, einen zusätzlichen, nicht als geheim eingestuften Bericht vorzulegen. Jedoch ohne Erfolg:

O-Ton Guttenberg
„Dem kann man seitens der NATO offensichtlich nicht nachkommen, weil die Einschätzung der NATO wohl dahingeht, dass zu viele unter Geheimhaltungsaspekten befindliche Teile in diesem Papier sind. Und das ist etwas, was ich zur Kenntnis zu nehmen habe und was ich natürlich nicht im nationalen Alleingang aushebeln kann.“

„Kann man doch“, ist dagegen aus der NATO zu hören. Dafür gibt es Beispiele, sagt Paul Schäfer, der Sicherheitsexperte der Linksfraktion:

O-Ton Schäfer
„So ist es ja schon mal gemacht worden bei dem ersten Bericht dieser Gruppe von McChrystal, der also dann diese Untersuchung ausgelöst hat. Dort hatten wir es auch zu tun mit einem NATO-vertraulichem Dokument, wo man die Schlussfolgerung und was daraus folgt, welche Untersuchungen jetzt durchgeführt werden müssen, das hat man also sozusagen abgekoppelt, und den Obleuten des Verteidigungsausschusses zugänglich gemacht. Also, es ließen sich da schon Mittel und Wege denken, um also das, worauf es ankommt bei diesem Bericht, dem Parlament und der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.“

Doch daran ist die politische und militärische Führung der Bundeswehr offenbar nicht wirklich interessiert. Die Versäumnisse möchte sie nicht öffentlich machen. Da passt es gut, wenn man sich hinter dem als geheim eingestuften NATO-Untersuchungsbericht verstecken kann.


Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.