Solidarität auf Kosten von Transparenz?
Der Umgang mit dem NATO-Bericht zum Luftangriff bei Kundus.
Gastbeitrag von Andreas Dawidzinski
Normalerweise wird einem neuen Minister eine Einarbeitungszeit eingeräumt.
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg hat diese Zeit nicht
bekommen. Während der Übergabe des Amtes durch seinen Vorgänger
wurde dem Ministerium am 28. Oktober der bereits lange erwartete NATO-Untersuchungsbericht
zum Luftangriff bei Kundus übergeben – aus Sicherheitsgründen
per Kurier. Im Verteidigungsministerium war bereits festgelegt worden,
wie nach der Vorlage des Geheimreports verfahren werden sollte. In der
Nacht kam eine Auswertegruppe zusammen, um den 75 Seiten umfassenden Bericht
und seine 500 Seiten Anlagen zu studieren. Am Mittag gab dann der oberste
Soldat der Bundeswehr, Generalinspekteur Schneiderhan, eine 11 Minuten
lange Erklärung ab. Fragen der eilig zusammengetrommelten Journalisten
waren nicht zugelassen. Zum Inhalt des Untersuchungsberichts sagte Schneiderhan
wenig. Dafür schilderte der General umfassend die schwierige militärische
Situation, in der sich der damalige Kommandeur von Kundus befunden hatte:
O-Ton Schneiderhan
„Es handelte sich um eine Kombination aus üblicher Vorgehensweise
der feindlichen Kräfte, den vorhandenen Warnhinweisen über
einen größeren geplanten Anschlag und dem Versuch der feindlichen
Kräfte, sich die Mittel für einen solchen Anschlag zu beschaffen.
Das führte nach meiner Bewertung zu der richtigen Lagebeurteilung,
dass der Luftangriff zum damaligen Zeitpunkt militärisch angemessen
war.“
Allerdings war der politischen und militärischen Führung schon
kurz nach dem verheerenden Luftangriff klar, dass bei der Anforderung
des Luftschlags gegen NATO-Einsatzregeln verstoßen worden war. Darauf
ging der Generalinspekteur in seinem Statement am 29. Oktober aber lediglich
ganz kurz und dann auch nur indirekt ein:
O-Ton Schneiderhan
„Ohne jetzt an dieser Stelle zu sehr ins Detail gehen zu können,
stelle ich fest, dass in dem Untersuchungsbericht eine ganze Reihe von
Empfehlungen enthalten sind, die darauf abzielen, die hier angewandten
Verfahren und Vorschriften zu verbessern. Das schließt auch die
Fachausbildung ein.“
Diese Aussage ist der einzige Hinweis des Generalinspekteurs auf mögliche
Fehler bei der Anforderung des Luftangriffs. Dabei war schon längst
durchgesickert, dass der Kommandeur von Kundus gegen Einsatzregeln der
NATO verstoßen hatte: gegen die Rules of Engagement und das Standard-Einsatzverfahren,
die sogenannten Standing Operation Procedures.
Von ISAF-Befehlshaber McChrystal war kurz zuvor ein Kurswechsel angekündigt
worden. Der Schutz der Bevölkerung soll im Mittelpunkt der Militäroperationen
stehen, nicht der Kampf gegen die Taliban. Ein Umdenken der ISAFTruppe
wurde gefordert. Die entsprechende Weisung schließt ein militärisches
Vorgehen gegen Aufständische zwar nicht aus, aber in Zweifelsfällen
sollte insbesondere auf Luftangriffe verzichtet werden.
Sogenannte Luftnahunterstützung ist nach den NATO-Vorschriften
nur zulässig, wenn eigene Truppen Feindberührung haben oder
aber eine unmittelbare Bedrohung besteht. Die beiden von den Taliban gekaperten
Tanklaster hatten sich ungefähr sieben Kilometer vom deutschen Feldlager
entfernt auf einer Sandbank festgefahren – jedoch nicht in Fahrtrichtung
zum Bundeswehr- Camp. Es heißt, der Kommandeur von Kundus habe als
Begründung für die Luftunterstützung gegenüber den
Piloten zunächst „Feindberührung“ angegeben, obwohl keine Soldaten
vor Ort waren. Später sei dann von einer „unmittelbaren Bedrohung“
die Rede gewesen. Nach den ISAF-Bestimmungen muss vor einem Luftschlag
sichergestellt sein, dass keine Unbeteiligten gefährdet sind. Die
Operationszentrale in Kundus stand in der Nacht zum 4. September offenbar
in Kontakt mit einem afghanischen Informanten. Diese Quelle soll mehrmals
berichtet haben, bei der Menschenmenge um die LKW handle es sich allein
um Aufständische - unter ihnen seien auch vier Talibanführer.
Das Geschehen auf der Sandbank konnte im Gefechtsstand im deutschen
Feldlager live über die von den Kampfflugzeugen übermittelten
Bilder beobachtet werden. Der Sprecher des Verteidigungsministeriums sprach
wenig später sogar von einem dritten Aufklärungsstrang, über
den er allerdings keine Einzelheiten nennen wollte. Doch es stellte sich
schon bald heraus, dass es diese Quelle nicht gegeben hat. Bei der NATO
kommt man inzwischen zu dem Schluss, es habe kein klares und kontinuierliches
Lagebild gegeben.
Die US-Piloten der beiden F-15 Kampfflugzeuge sollen dem deutschen Kommandeur
fünfmal vorgeschlagen haben, die Tanklaster niedrig zu überfliegen,
- als Warnung, um die Menge am Boden zu vertreiben. Die Piloten hatten
offenbar Zweifel, dass die Bombardierung im Einklang mit den ISAF-Bestimmungen
stand. „Show of Force“ wird eine solche Machtdemonstration genannt. Die
Menschen wären voraussichtlich in Panik geflüchtet, mit ihnen
wohl auch die gemeldeten Taliban-Führer, - allerdings ohne die festgefahrenen
Tanklaster.
Aber ging es dem deutschen Kommandeur allein um die mögliche Bedrohung
durch die gekaperten Tanker? Oder ging es möglicherweise auch um
die Ausschaltung der Taliban-Führer und der zahlreichen Aufständischen?
- Das letzte Wort bei der Luftnahunterstützung hat die Bodenstelle.
Der Kommandeur von Kundus lehnte eine Warnung durch Überflüge
ab. Die Flugzeuge warfen schließlich zwei Bomben ab. Bis zu 142
Menschen wurden getötet.
Die Bundeswehr hat sich nicht sofort an den Ort der Bombardierung begeben,
obwohl es nach einer ISAF-Direktive so vorgesehen ist. Als die Soldaten
dort später eintrafen, waren die Toten von Einheimischen bereits
geborgen worden. Das ist einer der Gründe, warum sich die genaue
Zahl der Opfer nicht mehr exakt ermitteln lässt.
Der Kommandeur von Kundus musste in dieser extremen Situation weitreichende
und schwierige Entscheidungen treffen. Für solche Fälle steht
ihm vor Ort u.a. ein Rechtsberater zur Verfügung. Doch dieser ist
offenbar nicht konsultiert worden. Während des sich über vier
Stunden hinziehenden Dramas ist auch kein Kontakt zu den Vorgesetzten
in Masar-i-Scharif oder Kabul aufgenommen worden. Einzige Berater des
Kommandeurs waren in der Nacht ein Oberfeldwebel und ein Hauptmann, die
Kontakt zu den Kampfflugzeugen bzw. zum afghanischen Informanten hielten.
Nach dem verheerenden Luftangriff warnte Verteidigungsminister Jung
vor einer Vorverurteilung und stellte sich schnell vor den Bundeswehr-Offizier
– ge5 nauso wie die Soldaten in Kundus. Sie sahen sich schon seit Wochen
heftigen Attacken der Aufständischen ausgesetzt. Kaum eine Patrouille,
die nicht beschossen wurde. Anders als das Verteidigungsministerium sahen
sich die Soldaten im Krieg. Die Stimmung in Kundus war schlecht. So mancher
Soldat fühlte sich von der politischen und militärischen Führung
im mehrere tausend Kilometer entfernten Berlin im Stich gelassen. Nach
der öffentlichen Kritik an dem Luftschlag rumorte es in der Truppe.
Schließlich reiste der Generalinspekteur mehr als eine Woche nach
dem Luftschlag nach Kundus, um sich selbst ein Bild über die Lage
vor Ort zu machen. Es ging aber auch darum, die Gemüter zu beruhigen.
Für Kritiker erfolgte diese Reise viel zu spät. Nach der Rückkehr
setzte sich Schneiderhan für eine lückenlose Aufklärung
des Vorfalls ein. Zitat:
Zitat Schneiderhan
„Das beste Mittel gegen Spekulationen ist die Offenlegung der Wahrheit.
...Wir müssen uns aber auch darauf einstellen, dass dabei Einzelheiten
festgestellt werden, die von uns weitere Antworten verlangen. Darauf
sollten wir aber gelassen reagieren und Spekulationen tunlichst unterlassen.“
Es gab die Befürchtung, ein Verfahren gegen den Kommandeur wegen
des Luftschlags könnte die eh schon angeschlagene Moral der Truppe
noch weiter untergraben. Die Sorge ging um, die Soldaten würden in
kritischen Situationen gar nichts mehr entscheiden – weil sie befürchteten,
sich deswegen vor Gericht verantworten zu müssen. Der scheidende
Verteidigungsminister Franz Josef Jung sprach bei seiner Verabschiedung
im vergangenen Monat aus, was viele in der Bundeswehr denken. Und er bekam
dafür viel Applaus:
O-Ton Jung
„Ich bin und bleibe der Auffassung, und das sage ich auch ausdrücklich
für Oberst Klein, dass Soldaten, die einen Auftrag im Rahmen des
Mandates wahrnehmen, im Interesse unserer Sicherheit sich engagieren,
und deshalb nicht mit staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen konfrontiert
werden sollten.“
Diese Zielrichtung hatte auch die Erklärung von Generalinspekteur
Schneiderhan nach Eintreffen des NATO-Untersuchungsberichts. Adressat
war vor allem die Generalstaatsanwaltschaft Dresden, die die Einleitung
von Ermittlungen prüfte. Das Statement des Generals und die Prüfung
des Geheimreports blieben offenbar nicht ganz ohne Wirkung. Die sächsische
Anklagebehörde übergab den Fall der Generalbundesanwaltschaft
in Karlsruhe – weil sie von einem bewaffneten Konflikt - also einem Krieg
- in Afghanistan ausgeht.
Der neue Verteidigungsminister sieht das genauso. Zu Guttenberg spricht
ganz bewusst von kriegsähnlichen Verhältnissen - anders als
sein Vorgänger, der das Wort Krieg nicht in den Mund nehmen wollte.
Die Folge: Die Rechtsposition des Kommandeurs von Kundus hat sich verbessert.
Denn die Rechtsgrundlage ist jetzt nicht mehr das nationale Strafrecht,
sondern das Völkerstrafgesetzbuch bzw. das humanitäre Kriegsvölkerrecht.
Deshalb befasst sich nun die Generalbundesanwaltschaft mit dem Fall. Geprüft
wird in erster Linie, ob der Befehl des Offiziers zum Luftschlag verhältnismäßig
war. Ob NATOEinsatzregeln beachtet worden sind, spielt dabei keine Rolle.
Bei der Bundesanwaltschaft sind wegen des Luftangriffs bereits mehrere
Strafanzeigen eingegangen. Sie sind von der Behörde bisher ausnahmslos
abgewiesen worden. Rückendeckung hat der Oberst zusätzlich von
Verteidigungsminister zu Guttenberg bekommen. Denn nach Abgabe des Verfahrens
an die Bundesanwaltschaft bezeichnete der CSU-Politiker den Luftschlag
von Kundus nicht nur als militärisch angemessen. Er ging über
die Feststellung des Generalinspekteurs sogar noch hinaus - indem zu Guttenberg
die in dem geheimen NATO-Untersuchungsbericht festgestellten Fehler und
Verstöße letztlich für unerheblich erklärte:
O-Ton zu Guttenberg
„Ich formuliere es mal umgekehrt: Wenn das Ganze fehlerfrei vonstatten
gegangen wäre, komme ich auch zu dem Schluss, dass der Luftschlag
hätte stattfinden müssen.“
Zugleich lehnte der Verteidigungsminister es ab, wegen der Regelverstöße
ein Disziplinarverfahren einzuleiten. Offenbar auch ein Signal an Karlsruhe.
Mit der Rechtfertigung des Luftschlags konterkariert zu Guttenberg allerdings
den neuen Ansatz von ISAF-Befehlshaber McChrystal, bei einer Gefährdung
von Zivilisten auf Luftangriffe zu verzichten. Denn der neue Verteidigungsminister
geht zugleich davon aus, dass bei dem Angriff auch Unbeteiligte zu Schaden
gekommen sind. NATO-Stellen halten den Luftangriff für einen Fehler.
Bei Beachtung der ISAF-Regeln wäre es gar nicht zu dem Luftangriff
gekommen. In dasselbe Horn stößt die Opposition. Der verteidigungspolitische
Sprecher der SPD, Rainer Arnold, der den NATO-Untersuchungsbericht in
der Geheimschutzstelle des Bundestages gelesen hat:
O-Ton Arnold
„Es ist eindeutig: Es gab Versäumnisse, es gab einen gravierenden
Fehler, dieser Einsatz war nicht im Einklang mit den ISAF-Weisungen
und es gab auch keine unmittelbare Bedrohung für das deutsche Kontingent.
Und insofern muss man sich hier einfach der Wahrheit stellen.“
Zu Guttenberg hat Offenheit und Transparenz angekündigt. Der Verteidigungsminister
hat die NATO gebeten, einen zusätzlichen, nicht als geheim eingestuften
Bericht vorzulegen. Jedoch ohne Erfolg:
O-Ton Guttenberg
„Dem kann man seitens der NATO offensichtlich nicht nachkommen, weil
die Einschätzung der NATO wohl dahingeht, dass zu viele unter Geheimhaltungsaspekten
befindliche Teile in diesem Papier sind. Und das ist etwas, was ich
zur Kenntnis zu nehmen habe und was ich natürlich nicht im nationalen
Alleingang aushebeln kann.“
„Kann man doch“, ist dagegen aus der NATO zu hören. Dafür
gibt es Beispiele, sagt Paul Schäfer, der Sicherheitsexperte der
Linksfraktion:
O-Ton Schäfer
„So ist es ja schon mal gemacht worden bei dem ersten Bericht dieser
Gruppe von McChrystal, der also dann diese Untersuchung ausgelöst
hat. Dort hatten wir es auch zu tun mit einem NATO-vertraulichem Dokument,
wo man die Schlussfolgerung und was daraus folgt, welche Untersuchungen
jetzt durchgeführt werden müssen, das hat man also sozusagen
abgekoppelt, und den Obleuten des Verteidigungsausschusses zugänglich
gemacht. Also, es ließen sich da schon Mittel und Wege denken,
um also das, worauf es ankommt bei diesem Bericht, dem Parlament und
der Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.“
Doch daran ist die politische und militärische Führung der
Bundeswehr offenbar nicht wirklich interessiert. Die Versäumnisse
möchte sie nicht öffentlich machen. Da passt es gut, wenn man
sich hinter dem als geheim eingestuften NATO-Untersuchungsbericht verstecken
kann.
Andreas Dawidzinski ist freier Journalist.
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