11. Oktober 2001

 

Regierungserklärung von Bundeskanzler Schröder zur aktuellen Lage nach Beginn der Operation gegen den internationalen Terrorismus in Afghanistan

Herr Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Am 7. Oktober haben die Vereinigten Staaten von Amerika - als Teil der notwendigen Antwort auf die terroristischen Anschläge von New York und Washington - mit militärischen Maßnahmen gegen die Infrastruktur des terroristischen Netzwerks von Osama bin Laden und Einrichtungen des Taliban-Regimes in Afghanistan begonnen. In dieser Situation wird von Deutschland aktive Solidarität und verantwortliches Handeln erwartet - und auch geleistet. Eine Solidarität, die sich nicht in Lippenbekenntnissen erschöpfen darf. Und eine Politik, die Deutschlands Verantwortung in der Welt, aber auch der Verantwortung der Bundesregierung für die Menschen in Deutschland angemessen ist.

Nicht nur bei uns stellen sich viele Menschen die bange Frage:

Welcher Beitrag wird im Kampf gegen den Terrorismus von uns gefordert, und welche Risiken müssen wir dabei eingehen? Stehen wir vor einer neuen Phase internationaler Instabilität - mit allen Konsequenzen für die äußere und innere Sicherheit, aber auch für unsere Freiheit?

Die Antwort der Bundesregierung auf diese Fragen ist eindeutig:

Wir befinden uns mitten in einer entscheidenden und wahrscheinlich langwierigen Auseinandersetzung mit dem internationalen Terrorismus.

Wir haben diesen Konflikt nicht gewollt - er ist uns durch die barbarischen Attentate aufgezwungen worden. Aber wir nehmen diese Auseinandersetzung mit dem Terrorismus an - und wir werden sie gewinnen. Wir führen keinen Krieg gegen einzelne Staaten oder Völker - und schon gar nicht gegen die islamische Welt insgesamt. Aber wer den Terrorismus fördert oder unterstützt, wer seinen Hintermännern und Drahtziehern Unterschlupf bietet, wer ihnen gestattet, ihre Netzwerke des Terrors zu betreiben und ihre Verbrechen vorzubereiten - der wird dafür zur Rechenschaft gezogen.

Das Taliban-Regime hat all das gewusst. Die Machthaber in Kabul hatten Zeit genug, den Forderungen der Staaten- und Völkergemeinschaft nachzukommen. Sie haben die derzeitige Konfrontation gewollt.

Das afghanische Volk ist selbst Opfer von Terrorismus, Armut und Unterdrückung. Darum wollen wir die Menschen in Afghanistan im Rahmen der atlantischen Solidarität, aber vor allem im Rahmen der Vereinten Nationen, auch mit einem umfassenden Hilfsprogramm unterstützen.

Ebenso klar und deutlich sagt die Bundesregierung den Menschen in Deutschland: Wir tun alles in unserer Macht Stehende, um die Sicherheit der Bürger zu gewährleisten. Gewiss: Im Moment gibt es keine konkreten Hinweise auf akute Bedrohungen mit terroristischen Anschlägen. Zu Furcht und zur Panik besteht kein Anlass. Gleichwohl haben wir den Schutz besonders gefährdeter Einrichtungen verstärkt und weitere Maßnahmen zur besseren Bekämpfung der neuen Formen von Terrorismus und Gewalt ergriffen.

Bereits am 19. September haben wir im Kabinett ein erstes Anti-Terrorpaket beschlossen. Dadurch werden wir die Sicherheit im Luftverkehr verbessern. Das betrifft die Überprüfung und Überwachung der Beschäftigten auf Flughäfen, die Intensivierung der Gepäckkontrollen und die Begleitung deutscher Flugzeuge durch Sicherheitspersonal. Für die Bekämpfung des Terrorismus wird die Bundesregierung jährlich 3 Milliarden Mark zusätzlich bereitstellen. Wir wollen unser Strafrecht so regeln, dass wir ausländische Kriminelle und terroristische Vereinigungen besser verfolgen können. Und wir schaffen das Religionsprivileg im Vereinsrecht ab. Denn das Grundrecht der Glaubens- und Bekenntnisfreiheit darf nicht jene schützen, die religiös-fanatischen Zielen nachhängen und Mord und Terror planen.

Es ist ganz klar: Auf die neuen Formen des Terrorismus müssen wir durch eine engere nationale und internationale Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden reagieren. Aber genauso unmissverständlich können wir festhalten: Der Standard der inneren Sicherheit in Deutschland genügt höchsten internationalen Ansprüchen. Bundeskriminalamt, Bundesgrenzschutz, die Dienste und die Polizei leisten gute und wirksame Arbeit. Und für diese Arbeit sind wir ihnen zu Dank verpflichtet.

Der Terrorismus, mit dem wir es zu tun haben, organisiert sich in einem internationalen Netzwerk. Viele Maßnahmen erfordern daher sinnvollerweise eine engere europäische und internationale Kooperation. Darum haben wir uns auf der Sondersitzung des Europäischen Rates am 20. September in Brüssel intensiv mit Problemen der Verhütung und Bekämpfung des Terrorismus beschäftigt.

Ein weiteres informelles Treffen wird am 19. Oktober in Gent folgen.

Dabei geht es den Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union vor allem darum, einen europäischen Haftbefehl einzuführen, der zu spürbar vereinfachten Verfahren bei der Überstellung von Straftätern führen wird. Ferner wollen wir die Arbeit der Anti-Terror-Experten der einzelnen Länder wirksamer vernetzen und die transatlantische polizeiliche Zusammenarbeit mit den USA optimieren. Außerdem brauchen wir im Asyl- und Einwanderungsrecht auch auf europäischer Ebene Regelungen, die für mehr Schutz vor dem Terrorismus sorgen.

Die Bundesregierung wird noch in diesem Monat ein zweites umfassendes Anti-Terror-Paket beschließen. Vor allem müssen wir den Sicherheits- und Strafverfolgungsbehörden effizientere Möglichkeiten geben, um zusätzliche Informationen zu nutzen. Das kann heißen, Personalausweise, Pässe und Visa-Anträge zukünftig um Fingerabdrücke oder andere biometrische Merkmale zu ergänzen. Eine Regelung übrigens, die in den Vereinigten Staaten bei Aufenthaltsgenehmigungen schon seit Jahren praktiziert wird.

Eine Regelung, die sehr wohl Qualität und Effizienz in der Bekämpfung des Terrorismus verbessern wird, mit der aber keineswegs der Bestand der Grundrechte gefährdet oder gar der Rechtsstaat abgeschafft wird. Wir müssen und wir werden den Verfassungsschutz an die veränderte Bedrohungslage personell wie strukturell anpassen. Unsere Ermittlungen haben gezeigt, dass es Strukturen terroristischer Netzwerke auch bei uns in Deutschland gibt. Deren Gefährdungspotential müssen wir alle sehr ernst nehmen.

Handlungsbedarf sehe ich auch im Zivil- und Katastrophenschutz. Nach dem Ende des Kalten Krieges schienen die früheren Gefährdungslagen weggefallen. Wir werden unsere Bemühungen um den Schutz der Bevölkerung, die wir ja keineswegs aufgegeben hatten, nunmehr gezielt verstärken. Es geht jetzt in erster Line darum, die erforderlichen Informationen schnell länderübergreifend und bundesweit zu vernetzen, ihre Weiterleitung zu garantieren und effiziente Einsätze sicherzustellen. Dazu gehört auch ein entsprechendes Warnsystem für die Bevölkerung.

Was im Kampf gegen den Terrorismus aber überhaupt nicht weiterhilft, ist eine abstrakte und fruchtlose Diskussion über die Verschiebung von Grundfesten unseres Gemeinwesens. Damit es da gar keinen Zweifel gibt: An der Unterscheidung von äußerer und innerer Sicherheit werden wir festhalten. Die geltende Verfassungslage lässt den Einsatz der Bundeswehr von jeher in Situationen zu, in denen es sinnvoll und erforderlich ist.

In meiner Regierungserklärung vom 19. September habe ich darauf hingewiesen, dass wir unsere besondere Aufmerksamkeit auf die finanziellen Strukturen der terroristischen Netzwerke richten müssen. Dass es unsere Aufgabe ist, diese Finanzströme zu erfassen und zu unterbinden. Dazu bedarf es Maßnahmen auf nationaler und auf internationaler Ebene. Wir werden eine Zentralstelle zur Bekämpfung der Geldwäsche einrichten sowie Strukturen und Instrumente schaffen, um unerlaubt betriebene Bankgeschäfte und das Schattenbankwesen leichter zu verfolgen.

Am vergangenen Wochenende haben sich die Finanzminister der G 7-Staaten und Russlands auf einen umfassenden Aktionsplan zur Bekämpfung von Terrorismus und Geldwäsche verständigt. Die vom Bundesfinanzminister entwickelten Maßnahmen und der in internationaler Kooperation verabredete Aktionsplan sind geeignet, die Finanzquellen des internationalen Terrorismus auszutrocknen und damit den terroristischen Netzwerken eine wichtige Voraussetzung ihrer Existenz und ihrer Aktionen wirksam zu entziehen.

Die Bundesbürger können sicher sein, dass ihre Sicherheit ein zentrales Anliegen der Bundesregierung ist.

Aber, und auch das sage ich ganz unzweideutig: Genau so wenig, wie wir uns von den Terroristen in einen "Kampf der Kulturen" treiben lassen, werden wir im Kampf gegen den Terrorismus die Werte, die unsere Welt im Innersten zusammenhalten - die Werte von Freiheit, Solidarität, Rechtssicherheit und Gerechtigkeit - auch nur einen Millimeter preisgeben.

Zusätzlich zu den ständigen, intensiven Kontakten, die wir in dieser Zeit zu unseren amerikanischen und europäischen Freunden, aber auch zu den maßgebenden Politikern in Osteuropa, in der islamischen Welt und in Asien unterhalten, habe ich vor zwei Tagen die Vereinigten Staaten von Amerika besucht. Dort habe ich ausführlich mit Präsident Bush gesprochen und bin mit New Yorks Bürgermeister Giuliani zusammengetroffen. In New York hatte ich auch einen ausführlichen Gedankenaustausch mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, Kofi Annan.

Dieser Besuch war wichtig und notwendig, weil Freundschaft sich eben gerade in schwierigen Zeiten zu beweisen hat. Es gibt aber noch einen anderen Grund, warum Deutschland in der aktuellen Situation seine Präsenz und seine aktive Solidarität in der internationalen Allianz gegen den Terrorismus zeigen muss.

Nach dem Ende des Kalten Krieges, der Wiederherstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und der Wiedererlangung unserer vollen Souveränität haben wir uns in einer neuen Weise der internationalen Verantwortung zu stellen. Einer Verantwortung, die unserer Rolle als wichtiger europäischer und transatlantischer Partner, aber auch als starke Demokratie und starke Volkswirtschaft im Herzen Europas entspricht.

Noch vor zehn Jahren hätte niemand von uns erwartet, dass Deutschland sich anders als durch so etwas wie "sekundäre Hilfsleistungen" - also Infrastruktur zur Verfügung stellen oder Finanzmittel gewähren - an internationalen Bemühungen zur Sicherung von Freiheit, Gerechtigkeit und Stabilität beteiligt. Diese Etappe deutscher Nachkriegspolitik - und darauf habe ich bereits unmittelbar nach dem 11. September hingewiesen - ist unwiederbringlich vorbei.

Gerade wir Deutschen, die wir durch die Hilfe und Solidarität unserer amerikanischen und europäischen Freunde die Folgen zweier Weltkriege überwinden konnten, um zu Freiheit und Selbstbestimmung zu finden - gerade wir haben nun auch eine Verpflichtung, unserer neuen Verantwortung umfassend gerecht zu werden. Das schließt - und das sage ich ganz unmissverständlich - auch die Beteiligung an militärischen Operationen zur Verteidigung von Freiheit und Menschenrechten, zur Herstellung von Stabilität und Sicherheit ausdrücklich ein. Bei den gezielten Militärschlägen, die im Augenblick von den Vereinigten Staaten und Großbritannien durchgeführt werden, haben unsere amerikanischen und britischen Freunde deshalb nicht nur unsere uneingeschränkte Solidarität.

Diese Militärschläge stehen, das kann gar nicht oft genug betont werden, völlig im Einklang mit der Beschlussfassung des Weltsicherheitsrates über die Anwendung legitimer Selbstverteidigung. In seiner wegweisenden Resolution Nr. 1373 hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in beeindruckender Weise das Völkerrecht im Hinblick auf die neu entstandenen Bedrohungen angepasst.

Diese Bedrohungen und Angriffe überschreiten das Maß dessen, was in der internationalen Politik, aber vor allem im Zusammenleben der Menschen, in der Geschichte menschlicher Zivilisationen bisher als Angriff von einzelnen Terroristen und terroristischen Gruppen denkbar gewesen ist.

Bürgermeister Giuliani hat mich vorgestern an den Ort dieser Katastrophe geführt - an den Ort, an dem noch vor wenigen Wochen Tausende von Menschen ihrer Arbeit im World Trade Center nachgingen. Die Erschütterung, die jeden denkenden und fühlenden Menschen im Anblick dieses "Ground Zero" erfasst, ist mit Worten kaum zu beschreiben. Aber aus dieser Erschütterung wächst die Entschlossenheit und die Kraft, alles zu tun, dass sich solches nie wiederholt.

Unsere Verbündeten haben uns bisher nicht um direkten militärischen Beistand im Kampf gegen den Terrorismus gebeten. Präsident Bush hat mir versichert, wie hoch er, wie hoch die amerikanische Regierung und das amerikanische Volk den Beitrag schätzen, den wir in der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit, bei der Austrocknung der Finanzquellen und vor allem bei der Herstellung der internationalen Allianz gegen den Terrorismus geleistet haben und weiter leisten.

Ich habe dem amerikanischen Präsidenten deutlich gemacht, dass Deutschland seiner Verantwortung auf allen Gebieten nachkommen wird. Das schließt militärische Zusammenarbeit und Beteiligung ausdrücklich ein. Eine solche Verpflichtung ergibt sich aus Artikel 5 des NATO-Vertrages, dessen Anwendung auf die aktuelle Situation vom NATO-Rat festgestellt worden ist. Die Bereitschaft, auch militärisch für Sicherheit zu sorgen, ist ein wichtiges Bekenntnis zu Deutschlands Allianzen und Partnerschaften. Aber nicht nur das. Die Bereitschaft unserer größer gewordenen Verantwortung für die internationale Sicherheit gerecht zu werden, bedeutet auch ein neues Selbstverständnis deutscher Außenpolitik.

International Verantwortung zu übernehmen und dabei jedes unmittelbare Risiko zu vermeiden, kann und darf nicht Leitlinie deutscher Außen- und Sicherheitspolitik sein. Die Bundesregierung ist dabei völlig einig mit Generalsekretär Annan und dem amerikanischen Präsidenten, die beide die militärische Bereitschaft für notwendig - aber militärische Lösungen nicht für hinreichend halten.

Wir Deutschen stehen, auch das hat der Generalsekretär der Vereinten Nationen sehr deutlich gemacht, in vorderster Reihe bei der konsequenten Sicherung des Friedens in der Welt - aber auch bei der ebenso konsequenten Herstellung und Sicherung von Stabilität, die auf Menschenrechten und Menschenwürde basiert. Die Bundesregierung hat immer gesagt, dass unser Hauptaugenmerk auf der Krisenprävention und Krisenregelung liegen muss. Ich sage dazu: Dies war nie eine Ausflucht, nicht auch militärisch handeln zu wollen, wenn wir es müssen.

Die vergangenen Wochen haben uns nicht nur schockiert. Sie haben uns auch klar gemacht, dass wir etwas sehr, sehr Wertvolles zu verteidigen haben: Das "Streben nach Glück", wie es die Amerikaner sagen. Die "Würde des Menschen", die bei uns Maßgabe jeder Politik sein muss. Rechtssicherheit, Gerechtigkeit und Teilhabe, die wir nicht nur national, sondern auch international durchsetzen müssen. Die Bundesregierung begegnet jener namenlosen Barbarei, der in New York und Washington Tausende zum Opfer gefallen sind, mit Entschlossenheit und Besonnenheit.

Durch intensive Bemühungen und vielfältige Aktivitäten ist es gelungen, eine breite internationale Koalition gegen den Terrorismus herzustellen. Die internationale Gemeinschaft ist so entschlossen wie nie, mit vereinten Anstrengungen den Durchbruch zum Frieden im Nahen Osten zu erreichen. Auch damit machen wir klar, dass der Terrorismus keine wie auch immer geartete Legitimation hat und haben kann. Die Bundesregierung arbeitet schon seit langem für umfassende Konzepte von Stabilität und Sicherheit. Wir wissen, dass Frieden und Sicherheit nicht allein mit Militär und Polizei herzustellen sind.

Unser Konzept war immer das einer umfassenden Sicherheit: materielle Sicherheit, soziale Sicherheit, aber auch Rechtssicherheit und natürlich, aber auch nur in dem Zusammenhang: Wehrhaftigkeit. Diese Konzeption, die wir bereits in den Balkan-Konflikten vorgeschlagen und, so weit das möglich ist, umgesetzt haben, ist eine genuin europäische Konzeption. Wir sagen heute stolz: Das Projekt der europäischen Integration ist die größte Erfolgsgeschichte des 20. - und ich denke, auch des 21. - Jahrhunderts. Diese Erfahrung wollen wir gern allen Völkern dieser Welt zur Verfügung stellen.

Ich will aber, meine Damen und Herren, auch noch einen anderen Stolz zum Ausdruck bringen: Die Solidarität der deutschen Bevölkerung mit den Opfern des Terrorismus und die Bereitschaft der Menschen bei uns, gegen jeden Extremismus und Terrorismus zu kämpfen, sind beispielhaft. Die Menschen wissen sehr genau, was auf dem Spiel steht. Sie rufen nicht nach Rache und Vergeltung. Aber sie sind bereit, unsere Gesellschaft und die Zukunftsfähigkeit unserer einen Welt zu verteidigen.

Dafür danke ich Ihnen.

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