WDR 5 - Politikum
15. April 2014


Der Moskauer Spiegel - Gefährliche Schutzverantwortung

von Otfried Nassauer

Vor 20 Jahren, im April 1994, begann der Völkermord in Ruanda. Die örtliche UNO-Friedensmission sah tatenlos zu. Vor 15 Jahren intervenierte die NATO in Serbien, vorgeblich um einen drohenden Völkermord an den Albanern im Kosovo zu verhindern. Sie ermächtigte sich selbst, da der Sicherheitsrat der UNO den Einsatz nicht mandatieren wollte.

Beide Ereignisse waren Auslöser für die westliche Welt, das Konzept von der Schutzverantwortung zu entwickeln, die Idee der Responsibility to Protect. Sie besagt, dass jede Regierung die Pflicht hat, die Bevölkerung auf ihrem Staatsgebiet zu schützen und deren grundlegende Menschenrechte zu gewährleisten. Zerfällt ein Staat, wird er zu schwach oder geht die Regierung gar mit Gewalt gegen ihre Bevölkerung vor, so sollte die Internationale Gemeinschaft die Verantwortung für den Schutz der Menschen und ihrer Rechte übernehmen. Im Extremfall darf sie dazu militärisch intervenieren.

Das Konzept war von Anfang an umstritten. Es widerspricht einer zentralen Grundlage des Völkerrechtes: Dem Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen und des alleinigen Gewaltmonopols jedes Staates innerhalb dieser Grenzen. Befürchtet wurde zudem, dass starke Staaten auf dieser Basis gegen schwächere und unliebsame Regierungen vorgehen würden.

Die Schutzverantwortung fand positive Erwähnung in Resolutionen der UNO. Befürworter leiten daraus die These ab, es gehe um ein Völkerrecht im Werden. Und das Konzept wurde auch schon benutzt, um die Notwendigkeit eines militärischen Eingreifens zu begründen – gegen Libyen, in Syrien, in Ländern Afrikas.

Derzeit spielt Russland als erstes nicht-westliches Land mit der Möglichkeit, sich unter Berufung auf die Schutzverantwortung militärisch einzumischen. Außenminister Lawrow drohte wiederholt damit, zum Schutz der russischen Bevölkerungsteile in der Ost- und Südukraine einzugreifen.

Was ein weiteres Problem der Idee von der Schutzverantwortung aufzeigt: Ein Staat, der eine militärische Intervention erwägt, kann selbst dazu beitragen, die Voraussetzungen für ein Eingreifen zu schaffen. Russland muss nur vorhandene Oppositionskräfte in der Ukraine verstärken. Durch Personal, Geld, Geheimdienstler, ungekennzeichnete Bewaffnete oder Propaganda. Reagiert die ukrainische Regierung mit Gewalt, so liefert sie Russland den Vorwand dafür, sich auf die Schutzverantwortung berufen zu können.

Natürlich ist das nicht im Sinne des Erfinders. Es zeigt aber, wie leicht dieses Konzept instrumentalisiert werden kann. Russland hat dem Westen wiederholt vorgeworfen, die Schutzverantwortung zu instrumentalisieren: In Libyen und Syrien zum Beispiel. Auch die westliche Unterstützung für die Revolutionen in Serbien, Georgien oder der Ukraine hat Moskau ähnlich interpretiert. In der aktuellen Krise schlüpft Russland in die Rolle, in der es bisher immer den Westen sah. Der steht vor einem Spiegel. Darin kann er sehen, was sein Konzept der Schutzverantwortung alles möglich macht. 


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS