Tagesspiegel
18. November 2002

 

Strategie der Offensive

  Otfried Nassauer

Für die Nato brechen neue Zeiten an politisch und militärisch. Die Osterweiterung des Bündnisses ist darüber fast zur Nebensache geworden. Entscheidend wird in Prag vielmehr die Frage sein, wie sich die transatlantische Organisation für neue Herausforderungen organisiert.

Die Nato steckt in der Krise. Lord Robertson, der Generalsekretär sah sie gar vor der Wahl zwischen Modernisierung und Marginalisierung. Robertson glaubt, der Grund sei vor allem in der wachsenden Ausrüstung-, Bewaffnungs- und Technologielücke zwischen den USA und Europa zu suchen. Andere meinen, die Krise sei grundsätzlicher. Sie sehen deren Ursprung entweder in mangelndem europäischen Willen zu harter militärischer Machtpolitik oder in der amerikanischen Neigung, zu einem primär militärisch abgestützten Handeln, dass auf die Bündnispartner nur Rücksicht nimmt, wenn diese der amerikanischen Führung folgen. Alle gemeinsam sehen einen dritten Aspekt: Die Nato ist ein regionales, kollektives Verteidigungsbündnis, dem es schwer fällt, in Kategorien globalen militärischen Handelns zu denken.


Welche Strategie entwickelt die Nato?

Obwohl die Nato schon einen Tag nach den Anschlägen vom 11. September den Bündnisfall erklärte, riefen die USA nur wenig Hilfe ab und vermieden es, die Allianz in militärische Entscheidungen einzubeziehen. Robertson versucht seither, diesem Relevanzverlust entgegenzusteuern. Das Bündnis müsse die Terrorismusbekämpfung mit ins Zentrum ihrer Aktivitäten holen. Der Bekämpfung der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen komme wachsende Bedeutung zu. Manches sei schon erreicht. So sei die Debatte über Out-of-area-Einsätze zu den Akten gelegt und die Nato könne Einsätze jetzt nach Erfordernis und wo nötig durchführen – das heißt: weltweit. Ein vom Militärausschuss erarbeitetes „Militärisches Konzept zur Verteidigung gegen den Terrorismus“ soll jetzt verabschiedet werden.

Einfach wird das nicht. Die USA haben ihre nationale Strategie verändert. Sie schließen nicht mehr aus, selbst anzugreifen, bevor sie angegriffen werden können. Dafür stehen die Begriffe „präemptive Schläge“ und „defensive Intervention“. Selbst der Einsatz nuklearer Waffen wird nicht ausgeschlossen. Damit gerät die Nato in ein Dilemma. Passt sie ihre Strategie an, so bekäme sie Probleme mit der völkerrechtlichen Legitimität ihrer Planungen. Weder präemptive Angriffe noch der Einsatz nuklearer Waffen wären völkerrechtlich gedeckt. Die Nato liefe Gefahr, aktiv das Gewaltmonopol der Vereinten Nationen zu schwächen und an der Deregulierung der internationalen Beziehungen mitzuwirken.


Welche militärischen Mittel will die Nato zukünftig einsetzen?

Mit den Waffen des Kalten Krieges lassen sich die Zukunftsaufgaben kaum bewältigen. Zwei Vorschläge sollen Abhilfe schaffen. US-Verteidigungsminister Rumsfeld will, dass das Bündnis eine schnelle Eingreiftruppe für weltweite Interventionen aufbaut – die Nato Response Force (NRF). Der Truppe, 21 000 Mann stark, sollen Heeresverbände in Brigadegröße, Kampfflugzeuge für bis zu 200 Einsätze am Tag und Marinekräfte zugeordnet werden. Ab Oktober 2006 soll sie binnen fünf bis 30 Tagen global einsetzbar sein, spezialisiert auf intensive Kampfhandlungen, um an Interventionen wie in Afghanistan mitzuwirken.

Die zweite Initiative heißt „Prague Capabilities Commitment“ (PCC). Vor allem die europäischen Nato-Staaten sollen sich verpflichten, zu festen Terminen bestimmte militärische Fähigkeiten in Kernbereichen wie dem Luft- und Seetransport, der ABC-Abwehr oder im Bereich Führung bereitzustellen. Die Bundesrepublik, so die Londoner „Times“, soll beispielsweise Großraumtransportflugzeuge leasen. Die PCC sind vor allem auf den Bedarf für ein globales Agieren ausgerichtet.


Wie sieht die Kommandostruktur aus?

Der Gipfel soll Vorgaben für eine schlankere, flexiblere Kommandostruktur beschließen. Eine heikle Aufgabe, geht es doch für jeden Nato-Staat um Einfluss, den Anteil an gut dotierten Posten und um die Hauptquartiere auf seinem Boden. Bis Sommer 2003 will man fertig sein. Die Reform der US-Kommando-Struktur hat Besorgnis ausgelöst. Die Nato soll ihren wichtigsten Stab in den USA, Saclant, aufgeben. Ein operatives strategisches Oberkommando sei genug. Doch Saclant ist auch Symbol für die Nato-Aufgabe, zur Verteidigung der USA beizutragen. Ein Signal, dass das Bündnis zur Verteidigung der USA nicht gebraucht wird? Washington hat angeboten, Saclant in ein strategisches Transformationskommando umzuwandeln und dort künftige Einsatzkonzepte und Operationsformen zu planen. Das, fürchtet mancher Europäer, sei ein Danaergeschenk.


Sind die europäischen Nato-Staaten und die USA einer Meinung?

Obwohl die US-Initiativen begrüßt werden, gibt es in Europa Bedenken. Außenminister Joschka Fischer nennt drei Punkte: Erstens müsse die Entscheidung über den Einsatz der NRF beim Nato-Rat liegen, also einstimmig fallen. Zweitens sei eine deutsche Einsatz-Beteiligung nur nach einem Bundestagsbeschluss möglich. Der deutsche Parlamentsvorbehalt soll nicht ausgehebelt werden. Damit erhöht sich der Druck, die nationale Entscheidungsfindung – zum Beispiel durch ein Entsendegesetz – zu beschleunigen. Drittens müsse die NRF mit dem Aufbau europäischer Krisenreaktionskräfte vereinbar sein. Da liegt das Kernproblem: Die NRF benötigt – wegen der Rotation – mindestens 60 000 Soldaten. Soldaten, die zugleich als EU-Krisenkräfte vorgemerkt sind. Wäre die NRF häufig im Einsatz, so hätte die EU sie kaum zur Verfügung. Um die Zusammenarbeit mit US-Truppen zu gewährleisten, müsste die NRF – wie alle anderen EU-Kräfte auch – nach US-Vorbild modernisiert werden. Die PCC-Initiative und das Nato-Oberkommando für Transformation würden in die gleiche Richtung wirken. Der Aufbau autonomer EU-Fähigkeiten würde sich verteuern und stärker an den USA ausrichten. Eine Garantie, dass Washington Europa dafür strategische Mitsprache beim Umgang mit Krisen gewährt, ergäbe sich aber nicht.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).