SPW
Nr. 203 / 2014


Russland und die NATO – Zu den Auswirkungen der Ukraine-Krise

von Otfried Nassauer


„The political crisis that erupted in Ukraine in early 2014 has ended the period in Russian-Western relations that began with the fall of the Berlin Wall in 1989. The crisis marks the end of a generally cooperative phase in those relations (…). Instead, the Ukraine crisis has opened a new period of heightened rivalry, even confrontation, between former Cold War adversaries.“

Eine klare Ansage. Sie stammt von Dmitri Trenin, dem Direktor des Moskauer Carnegie-Zentrums. Trenin ist weder Pessimist noch Fatalist, er ist Realist. Er gehört zu jenen russischen Sicherheitsexperten, die eine strategische Zusammenarbeit Russlands mit dem Westen nach dem Ende des Kalten Krieges befürwortet haben – vorausgesetzt, berechtigte russische Interessen werden gewahrt. Seine Prognose für die kommenden Jahre: „Essentially, the Kremlin sees Russia’s future as separate from the rest of Europe’s. Vladimir Putin’s proposal for a greater Europe stretching from Lisbon to Vladivostok, cold-shouldered by many in the EU, has now been finally withdrawn by its author. Instead, Russia will largely rely on its own resources as it seeks to develop its economy, consolidate its political system, and build a strong military.”

Trenin wird im Kern wohl Recht behalten, zumindest für die nächsten Jahre. Denn seine Vorhersage trifft sich zu gut mit den Wünschen eines Großteils konservativer Sicherheitspolitiker und werteorientierter Linksliberaler im Westen, denen Zusammenarbeit mit Russland suspekt ist.

Für NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und viele andere im Westen ist Wladimir Putin der allein Verantwortliche für diese Entwicklung. Der russische Präsident, der als Autokrat regiert, die Menschenrechte nicht achtet, sich rechtswidrig die Krim einverleibt und in der östlichen Ukraine zündeln lässt, während seine Truppen an deren Grenze auf- und abmarschieren, habe jegliches Vertrauen verspielt.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Rasmussens Sichtweise hält Moskau geschichtslos gespiegelt viele Argumente vor Augen, die Wladimir Putin seit 2001 mit wachsender Dringlichkeit als seine Sorge vorgetragen hat – als Manko westlichen Verhaltens, an dem eine fruchtbare sicherheitspolitische Kooperation mit Moskau zu scheitern drohe.


Eine lange Geschichte russischer Enttäuschungen


Die Krise in der Ukraine und das Verhalten Moskaus haben eine lange Vorgeschichte enttäuschter Hoffnungen Moskaus auf eine gleichberechtigte Mitsprache bei der Ausgestaltung der Sicherheitsarchitektur Europas. Es ist eine Geschichte gebrochener Zusagen des Westens.

Schon während der Verhandlungen über die deutsche Einheit fürchtete Moskau, die NATO werde sich in Zukunft nach Osten ausdehnen. Die USA, Frankreich und die Bundesregierung bemühten sich, diese Befürchtung politisch auszuräumen. Das geeinte Deutschland solle der NATO angehören. Auf dem Territorium der ehemaligen DDR werde es aber keine ausländischen Truppen geben. Weiter im Osten schon gar nicht. Der Koordinator der Bundesregierung für die deutsch-russischen Beziehungen, Gernot Erler, bestätigte dies kürzlich noch einmal im MDR: „Da kann ich nur dazu sagen, dass das richtig ist, dass es solche Verabredungen, auch wenn sie nicht schriftlich festgehalten worden sind, gibt.“

Schon drei Jahre später jedoch die Wende im Westen: Bei einem Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Travemünde plädierte Volker Rühe, damals deutscher Verteidigungsminister, im Oktober 1993 für eine Öffnung der NATO für ehemalige Mitglieder des Warschauer Paktes. Gernot Erler erläutert das deutsche Motiv: „Also, Deutschland war übrigens auch der Meinung, dass die Länder östlich von Deutschland, die mittelosteuropäischen Länder, Mitglied der NATO und auch der EU werden sollten, weil das für uns geostrategisch natürlich von Vorteil war.“ Besser von Freunden umzingelt als Frontstaat eines Militärbündnisses – so die Logik.

Vier Jahre später stand in Madrid die Aufnahme der ersten neuen Mitglieder an: Polen, Tschechien und Ungarn. Wenige Jahre danach folgten mit den baltischen Staaten erstmals drei ehemalige Sowjetrepubliken sowie Slowenien und die Slowakei, danach Staaten des Balkans. Bis heute verfolgt die NATO eine Politik der offenen Tür, die weiteren Staaten, auch ehemaligen Sowjetrepubliken wie Georgien oder der Ukraine die Aussicht auf einen künftigen NATO-Beitritt ermöglicht. Kontinuierlich rückte die NATO den Grenzen Russlands näher.

Um die Osterweiterung für Russland akzeptabler zu machen, wurde wenige Tage vor dem Beschluss über die erste Osterweiterung 1997 in Paris die NATO-Russland-Grundlagenakte unterzeichnet. Das Dokument offerierte Moskau eine ständige Vertretung in Brüssel und institutionalisierte Konsultationen mit der NATO, den NATO-Russland-Rat. Hinzu kam die Zusage, die Nuklearwaffen der NATO und deren Trägersysteme nicht näher an die Grenzen Russlands heran zu verlegen.

Doch kaum war der erste Erweiterungsschritt vollzogen, machte die NATO auf expliziten Wunsch ihrer neuen Mitglieder einen Rückzieher: Sie beschloss, mit Moskau im NATO-Russland-Rat nur über Themen zu reden, über die in der NATO bereits inhaltlicher Konsens herrschte. Aus Moskauer Sicht wurde der NATO-Russland-Rat damit zu einer Institution, die eher der Ausgrenzung, denn der Einbeziehung Russlands diente.

Ganz ähnlich bei der zweiten Osterweiterung um das Baltikum und weitere Staaten: Die NATO versprach Russland, den NATO-Russland Rat aufzuwerten. Künftig sollten dort gemeinsame Entscheidungen zu Fragen der europäischen Sicherheit vorbereitet und getroffen werden können. Das weckte die Hoffnung, Russland werde gleichberechtigt mitarbeiten. Wieder folgte die Enttäuschung auf dem Fuß: Die neuen NATO-Mitglieder bestanden darauf, weiterhin mit Moskau nur über Themen zu diskutieren, über die im Westen bereits Konsens erzielt wurde.

Begleitet wurde diese Entwicklung von der westlichen Weigerung, eine bereits ausgehandelte Anpassung der Rüstungskontrollabkommen über die konventionellen Kräfteverhältnisse in Europa (KSE/AKSE) an die durch die Osterweiterung entstandenen neuen geographischen Realitäten auch gültiges Vertragsrecht werden zu lassen. Bevor das Militärpotential der neuen NATO-Mitglieder auf die erlaubten Obergrenzen für die NATO und nicht mehr auf jene Russlands angerechnet werden könne, müsse Russland zunächst seine militärische Präsenz in Georgien und Moldawien aufgegeben haben, schob die NATO nach.

Wladimir Putin nutzte nach seiner Wahl zum Präsidenten Russlands eine Rede vor dem Deutschen Bundestag 2001 für ein erstes politisches Signal gegen diese Vorgehensweise. Zwei Wochen nach den Terroranschlägen in den USA bot er dem Westen einerseits eine weitreichende Zusammenarbeit an, zeigte sich aber gleichzeitig auch besorgt: „Trotz allem Positiven, das in den vergangenen Jahrzehnten erreicht wurde, haben wir es bisher nicht geschafft, einen effektiven Mechanismus der Zusammenarbeit auszuarbeiten. Die bisher ausgebauten Koordinationsorgane geben Russland keine realen Möglichkeiten, bei der Vorbereitung der Beschlussfassung mitzuwirken. Heutzutage werden Entscheidungen manchmal überhaupt ohne uns getroffen. Wir werden dann nachdrücklich gebeten, sie zu bestätigen.“ Putins Mahnung zu mehr Mitsprache und Gleichberechtigung wurde überhört. Der NATO-Russland-Rat blieb, was er war. Die USA kündigten trotz scharfer Proteste den ABM-Vertrag. Im Streit um die geplante US-Raketenabwehr in Europa gab es keine westlichen Angebote, die Moskaus wichtigste Befürchtung, eine solches System könne sich letztlich auch gegen Russland richten und dessen gesicherte nukleare Zweitschlagfähigkeit gefährden, ernsthaft entkräften konnten. Der Westen zeigte auch kein Interesse, die OSZE zu stärken oder eine System kooperativer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok aufzubauen.

Während der Münchener Sicherheitskonferenz 2007 kritisierte Putin dies deutlich schärfer und verwies erstmals darauf, dass Moskau auch national dafür sorgen könne, dass seine Sicherheitsinteressen gewahrt bleiben. Er kam wachsender innenpolitischer Kritik von Militärs und aus nationalkonservativen Kreisen nach, die bereits seit geraumer Zeit kritisierten, Moskau sei dem Westen gegenüber zu nachgiebig.

Nur ein Jahr später demonstrierte Putin im Georgien-Konflikt erstmals seine Entschlossenheit, in Russlands nationalem Interesse notfalls auch militärisch zu agieren. Westliche Kritik wies er weitgehend mit jenen Argumenten zurück, mit denen die NATO die Kritik Russlands an ihrem Krieg gegen Serbien um das Kosovo zurückgewiesen hatte. Moskau machte zudem eine weitere Ankündigung wahr: Es scherte teilweise aus seinen Verpflichtungen zur konventionellen Rüstungskontrolle aus. Die NATO reagierte, in dem sie die Arbeit des NATO-Russland-Rates zeitweilig aussetzte und damit demonstrierte, wie gering der Stellenwert dieses Gremiums aus ihrer Sicht war.

Trotzdem folgte kurz darauf ein erneutes Kooperationsangebot aus Moskau. Putin entwarf mit Blick auf die EU die Idee einer einer Sicherheitsstruktur von Lissabon bis Wladiwostok und schlug im NATO-Russland-Rat ein Abkommens vor, das für den Fall einer Krise in Europa völkerrechtlich verbindlich Konsultationen vorsah. Von Wikileaks veröffentlichte diplomatische Depeschen der USA belegen eindrucksvoll, wie die NATO diesen Vorschlag ignorierte und intern als durchsichtiges taktisches Störmanöver diskreditierte. Manche NATO-Staaten fürchteten, der Vorschlag ziele vor allem darauf, die beabsichtigte Einbeziehung der baltischen Staaten in die Eventualfallplanung für eine Verteidigung Polens, „Eagle Guardian“, zu blockieren.

Vier Jahre später zeigen sich in der Ukraine-Krise die Folgen der enttäuschten Hoffnungen und Erwartungen Moskaus. Russland demonstriert erneut seinen Willen, seine Interessen auch gegen westliche Proteste und auf Kosten der Zukunftsperspektiven zur Kooperation mit der NATO zu wahren. Es erwartet sich nichts mehr von dieser Zusammenarbeit. Die Eingliederung der Krim in die Russische Föderation verhindert unilateral, dass eine prowestliche, teils rechtsnationale Regierung in Kiew die Stationierungsrechte der Schwarzmeerflotte erneut zu einem Zankapfel machen kann. Eine vollständige Integration der Ukraine in die westlichen Institutionen NATO und EU ist aus Moskauer Sicht nicht tolerabel, weil man selbst ohne Chance auf solche Integration ist.


Die NATO


„This is where the dragons play (...) where dreams are made”. Mit diesen Sätzen wirbt das noble Celtic Manor Ressort, ein Hotelkomplex in Wales. Hier – inmitten einer wunderschönen, sanft-hügeligen und sattgrünen Landschaft – treffen sich Anfang September die Staats- und Regierungschefs der NATO zu ihrem nächsten Gipfel. Sie wollen Visionen für die Zukunft des Bündnisses entwickeln. Welche Aufgaben hat die NATO nach dem langen Einsatz in Afghanistan?

NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen und einige der Mitgliedsstaaten haben bereits eine klare Vorstellung. Seit Russland sich die Krim einverleibt hat, variiert Rasmussen immer wieder einen Gedanken: „Russlands Angriff auf die Ukraine ist die schwerste Bedrohung für die Sicherheit Europas seit einer Generation. (...) Die größte Verantwortlichkeit der NATO besteht darin, unser Territorium und unsere Bevölkerungen zu schützen und zu verteidigen. Und täuschen Sie sich nicht: Genau das werden wir tun.“

Diese Reaktion kommt nicht von ungefähr. Für den NATO-Generalsekretär ist diese Krise ein Geschenk. Russlands Vorgehen soll ihm helfen, eine NATO wiederzubeleben, die in den letzten zwei Jahrzehnten häufig höchst umstrittene Aufgaben übernahm und kaum mehr als zweifelhafte Erfolge aufzuweisen hat. Ein Militärbündnis, das immer mehr einem Kriegerdenkmal glich: Nach außen schimmernde Wehr, innen aber hohl und rostend. Die Chance, die NATO erneut an einem starken, einenden Gegner wie Russland auszurichten will sich Rasmussen nicht entgehen lassen. Um dies zu erreichen, sind ihm offenbar viele Mittel recht.

Der NATO Generalsekretär scheute sich bislang nicht, immer wieder Öl ins Feuer der Ukraine-Krise zu gießen. Seine Stellungnahmen zu den Ereignissen in der Ukraine waren – zurückhaltend formuliert – oft einseitig und mehr als einmal kaum durch Fakten gedeckt. Manchmal agierte er gar wie ein Flammenwerfer. In der Nacht vom 22./23. August 2014 verlautete Rasmussen beispielsweise, russische Truppen hätten nach Erkenntnissen der NATO die Grenze der Ukraine überschritten und kämpften nun auf ukrainischem Territorium. Belege für seine Behauptung blieb er schuldig. Am nächsten Morgen war von Rasmussens casus belli nichts mehr zu hören. Rasmussen lässt kaum eine Gelegenheit aus, Russland Propaganda vorzuwerfen und Putin persönlich für das Verhalten prorussischer Separatisten in der Ostukraine verantwortlich zu machen, als sei jener deren Oberbefehlshaber. Seine Forderungen an Putin werden dagegen gelegentlich zum offenen Widerspruch in sich. So zum Beispiel als Rasmussen Putin aufforderte, die russischen Truppen von der ukrainischen Grenze abzuziehen, zugleich aber verlangte, Putin solle den Nachschub schwerer Waffen an Separatisten unterbinden. Propagandameldungen der ukrainischen Zentralregierung werden von Rasmussen dagegen meist unkommentiert stehen gelassen oder sogar übernommen.

Russland wolle nicht mehr Partner sein, es erkläre sich selbst zum Gegner, argumentiert Rasmussen. Das trifft sich gut mit der Haltung jener NATO-Mitglieder, die Moskau schon lange lieber als Bedrohung betrachtet haben, denn als potentiellen Kooperationspartner. Der NATO-Generalsekretär will dies nutzen: „Mit seiner Handlungsweise hat Russland ein Vorgehen gewählt, das die Grundlagen unterminiert, auf die unsere Kooperation aufgebaut ist. Das militärische Vorgehen gegen die Ukraine und die illegale Annexion von Teilen des Territoriums der souveränen Ukraine stellen einen flagranten Bruch der internationalen Verpflichtungen Russlands dar. In Anbetracht dessen kann es kein ‚business as usual‘ geben.“

Liebhaber klarer Fronten und Feindbilder dürfen also hoffen. Im Baltikum, in Polen oder Rumänien wünscht man sich, die NATO werde endlich keine Rücksicht mehr auf russische Befindlichkeiten nehmen und an vorderster Front dauerhaft militärische Präsenz zeigen. Manche spekulieren bereits darauf, die NATO werde künftig weitere politisch verbindliche Zusagen an Moskau aufbrechen und zum Beispiel eine Stationierung größerer Kampfverbände oder gar atomarer Waffen in Ländern wie Polen erwägen. Ausgeschlossen ist das nicht, zum Beispiel dann, wenn Moskau – wie mancher es fordert – den INF-Vertrag über ein Verbot landgestützter Mittelstreckenraketen aus dem Jahr 1987 kündigen würde oder wenn dies im Kontext der geplanten Modernisierung der US-Nuklearwaffen in Europa opportun erschiene.

Auch aus amerikanischer Sicht bietet die Perspektive einer längeren konfrontativen Phase im Verhältnis zu Russland Chancen. In Washington darf man hoffen, den Primat der NATO in der Sicherheitspolitik gegenüber der Europäischen Union auf längere Zeit absichern zu können. Umstrittene Projekte wie der Aufbau einer Raketenabwehr in Europa könnten unter solchen Rahmenbedingungen leichter durchsetzbar sein, Geschäftsoptionen für die wehrtechnische Industrie der USA entstehen. Im EU-kritischen Großbritannien findet eine solche Entwicklung ebenfalls Befürworter. Weniger Kooperation zwischen den großen Akteuren auf dem europäischen Kontinent stärkt die Einflussmöglichkeiten und die Bedeutung jener Staaten, die nicht zu Kontinentaleuropa gehören.

Die Krim-Krise und die Krise im Osten der Ukraine schwächen in Europa jene, die wie Deutschland für eine langfristige, strategische wirtschaftliche und politische Kooperation mit Russland eintreten. Der Konflikt verspricht, gleich mehrere wichtige wirtschaftliche Konkurrenten der USA in Europa zu schädigen. Schließlich bleiben, solange er währt, innereuropäischen Streitigkeiten erhalten, ob man Sicherheit vor Russland oder mit Russland anstreben soll. Washington kann auch künftig darauf zählen, jeweils mit den europäischen Ländern eng zu kooperieren, deren Positionen die Interessen der USA am stärksten widerspiegeln. Die Vereinigten Staaten behalten die Option, mit ihrer Hilfe ein einheitliches Handeln Europas zu blockieren. Washington kann hoffen, dass die Frage einer erneuten Erweiterung der NATO - und in deren Folge auch der EU – schon bald auf die Tagesordnung zu setzen. Es kann die Westeuropäer besser drängen, auch die letzten Länder des Balkans sowie weitere ehemals sowjetische Republiken wie Georgien, Moldawien und die Ukraine an die NATO heranzuführen und – in der Folge - die ökonomischen Lasten für deren Integration über die Europäische Union zu schultern. Erweiterung statt Vertiefung – diese Strategie hat bereits in der Vergangenheit wiederholt Washingtons Führungsrolle in Europa zementiert. Das Verhältnis zu Russland, die Krise in der Ukraine und die Reaktion der Allianz auf beides sollen schon deshalb im Vordergrund des NATO-Gipfels im September stehen.


Eine russische Fehlkalkulation


Seit dem Ende des Kalten Krieges durchzieht eine gravierende Fehlperzeption und eine damit einhergehende Selbstüberschätzung das Denken Moskaus. Um dem Selbstbild der meisten Russen auf ihr riesiges Land zu entsprechen, pflegte Moskau trotz des Zerfalls der Sowjetunion kontinuierlich das Image, auch die Russische Föderation sei trotz aller wirtschaftlichen Krisen noch immer eine Weltmacht, auf deren Interessen Washington im Zweifelsfall Rücksicht nehmen müsse. Das strategische Nuklearpotential sichere Moskau diese Rolle und Washington akzeptiere mit dem Bezeichnung Moskaus als strategischer Partner auch künftig Russlands Rolle als global einflussreiche Macht.

Der Begriff „strategischer Partner“ hat in Washington jedoch eine ganz andere Bedeutung als in Moskau. Während er westlich des Atlantiks durchaus eine eher taktische Funktion als Beruhigungspille erfüllen kann, wird er in Moskau als feste Zusage und Versprechen auf ein bilaterales Verhältnis auf Augenhöhe interpretiert. In Washington wiederum kann er durchaus mit einer Selbstsicht als „sole superpower“ zusammengehen, die den Kalten Krieg gewonnen und deshalb das primäre Recht zur Gestaltung von Weltordnung auch gegen den Willen „strategischer Partner“ hat. Zum Beispiel, wenn es darum geht, die NATO nach Osten zu erweitern.

In Moskau folgte aus dieser Fehlwahrnehmung dreierlei. Zum einen glaubten viele dem Versprechen strategischer Partnerschaft und haben deshalb erwartet, dass der Westen auf strategische Interessen Russlands letztlich Rücksicht nehmen werde. Dies erwies sich wiederholt als Irrglaube und verdichtete sich mit der Zeit zu der geschilderten ‚Geschichte der Enttäuschungen‘. Zum zweiten verführte das Versprechen einer strategischen Partnerschaft Moskau zur einer einseitigen Fokussierung auf das bilaterale Verhältnis zu Washington. Dies reduzierte Moskau immer wieder auf reaktive Handlungsmuster und verführte es zu pawlowschen Reflexen, wenn Washington mit dem Gedanken an einem Ende der strategischen Partnerschaft spielte. Barack Obamas Bezeichnung Russlands als „Regionalmacht“ während der Ukraine-Krise traf diesen Nerv Russlands mit besonderer Härte.

Schließlich verführte die Fehlperzeption Moskau lange zu einer Geringschätzung und zu einer gewissen Überheblichkeit im Umgang mit Europa, dem zweiten potentiellen Partner Russlands im Westen. Als „strategischer Partner“ der globalen Führungsmacht USA hielt Moskau es lange für unnötig, Europa als Partner auf Augenhöhe zu betrachten. Strategische Beziehungen zur Europäischen Union kamen für Russland erst Ende der 1990er Jahre in den Blick. Russland betrachtete sich damals politisch als den im Vergleich zur EU stärkeren Partner; die EU sah es aus wirtschaftlichen Gründen genau umgekehrt. Als Putin nach der Georgien-Krise 2008 begann, ernsthaft an eine europäische Sicherheitsarchitektur von Lissabon bis Wladiwostok zu denken, war es zu spät. Das 1999 begonnene Projekt einer auch sicherheitspolitischen Integration der Europäischen Union hatte sich an den inneren Widersprüchen in Europa und dem Widerstand der NATO gegen eine eigenständigere sicherheitspolitische Rolle Europas festgefahren. Gleichwohl gilt: Für Moskau ist Europa auf den meisten Feldern internationaler Kooperation jenseits der Sicherheitspolitik der wichtigste Partner im Westen.


Über den Gipfel von Wales hinaus


Der NATO-Gipfel in Wales wird zweifellos eine Trendwende markieren. Die NATO wird Beschlüsse fassen, die -– ohne Russland als potentiellen Gegner explizit zu nennen – die Aufgabe der Bündnisverteidigung wieder stärker betonen. Sie wird eine Initiative zur Stärkung ihrer militärischen Reaktionsfähigkeit im Krisenfall ergreifen, den östlichen Bündnispartnern eine vorläufig kontinuierliche Stationierung kleiner Truppenkontingente als Signal der Solidarität und Rückversicherung zusagen und erneut betonen, dass ihre Tür für neue Mitglieder offen bleibt ohne aber einen konkreten Zeitpunkt für den Beitritt in Aussicht zu stellen. Ähnlich wie die bisher schon erfolgten militärischen Reaktionen auf die Krise in der Ukraine werden diese Maßnahmen von eher begrenzter Natur sein. Weitergehende Wünsche – zum Beispiel eine permanente Stationierung größerer Kampfverbände, eine Neuausrichtung der geplanten Raketenabwehr auf potentielle Bedrohungen aus Russland oder eine Stationierung nuklearer Waffen auf dem Territorium neuer Mitgliedstaaten – werden nicht erfüllt. Vorläufig wird sich die NATO weiter an ihre Zusagen aus der NATO-Russland-Grundlagenakte halten.

Hintergrund dieser Zurückhaltung ist das Fortbestehen der internen Widersprüche in der Allianz. Die Befürworter einer eher konfrontativen Politik gegenüber Russland sind zwar aktuell in der Vorhand, können aber nur durchsetzen, was auch jene Bündnismitglieder mittragen, die die Tür für eine künftige Kooperation mit Russland nicht gänzlich zuschlagen wollen. So wie es in der Vergangenheit oft die Befürworter einer konfrontativeren Linie waren, die eine weitergehende Kooperation mit Russland als Minderheit blockieren konnten, so können die Befürworter eines kooperativen Ansatzes nun allzu scharfe Reaktionen seitens der NATO blockieren. Wie dieser Kampf letztlich ausgeht, hängt unter anderem von der künftigen Entwicklung und der Dauer der Ukraine-Krise ab. Die Übernahme der Krim dürfte ein fait accompli sein, der irreversibel bleibt. Moskau kann jedoch kaum ein Interesse haben, sich weitere Teile der Ukraine einzuverleiben. Ein solcher Schritt, aus der Not geboren und doch unternommen, hätte zu viele untragbare Konsequenzen. Die wirtschaftliche Belastung wäre einfach zu groß.

Auch in westlichen Staaten gibt es wirksame Interessen, den Konflikt mit Russland möglichst schnell zu begrenzen und möglichst zu beenden. Dazu bedarf es politischer Lösungen, die keine Konfliktpartei zu einem innenpolitischen Gesichtsverlust zwingen, auch Putin nicht. Die rasche und kaum Grenzen kennende bisherigen Eskalation des Konfliktes erschwert es, solche Kompromisse zu finden. Nichtsdestotrotz enthebt dies niemanden der Notwendigkeit, sie zu suchen.

Auch wenn Russland derzeit auf Autonomie und Autarkie setzt, kann es auf diesem Wege seine strukturellen und Modernisierungsprobleme nicht lösen. Allein eine Neuausrichtung seiner Energieexporte auf asiatische Kunden würde zunächst Infrastrukturinvestitionen in mehrstelliger Milliardenhöhe erfordern, die unter den Bedingungen einer verschärften Konfrontation noch schwerer aufgebracht werden können als unter normalen Bedingungen. Ähnlich gilt für Europa: Die Volkswirtschaften in Europa würden unter den wirtschaftlichen Auswirkungen einer anhaltenden Konfrontation mit Russland leiden. Die Energie- und Rohstoffversorgung würden bei einer Umstrukturierung nicht nur teurer, sondern auch von neuen politischen Risiken und Abhängigkeiten begleitet sein. Mit der Lieferung von Technologie und landwirtschaftlichen Produkten nach Russland ließe sich weniger Geld verdienen. Darüber hinaus müssten beide, Europa und Russland, mehr Geld für ihr Militär ausgeben, obwohl ihnen insgesamt weniger Mittel zur Verfügung stehen. Das derzeitige, nicht erreichte Ziel, jedes NATO-Land solle mindestens zwei Prozent seiner Wirtschaftsleistung für die Verteidigung aufwenden, ist deshalb ebenso unrealistisch wie die Zielmarke von drei Prozent während des Kalten Krieges.

Was würde eine solche Neuausrichtung für die NATO selbst bedeuten? Das Bündnis würde von den USA noch abhängiger und noch stärker dominiert als es derzeit ist. Das kann auf Dauer nicht gut gehen, denn eine solche Entwicklung trägt dazu bei, dass der Weg zu mehr sicherheitspolitischer Zusammenarbeit und Integration im westlichen Europa blockiert bleibt. Der Westen bliebe also hinter seinen Möglichkeiten zurück. Mehr noch: Dies träfe indirekt auch die NATO. Sie würde weiter an Handlungsfähigkeit verlieren. Das angeblich erfolgreichste Militärbündnis der Geschichte droht dann wenige Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges an seiner vorgeblich wichtigsten Aufgabe zu scheitern: Den Frieden zu erhalten.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS