Junge Welt
15. September 2001


"Ein Präzendenzfall mit völlig unklaren Grenzen"

Otfried Nassauer, Friedensforscher und Leiter des »Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit«, über die Konsequenzen aus den Terroranschlägen in den USA

Am Mittwoch Abend hat NATO-Generalsekretär George Robertson nach Artikel 5 des Nordatlantik-Vertrages den Bündnisfall erklärt. Was bedeutet das?

Der Bündnisfall wird eintreten, wenn sich erweisen sollte, daß es sich bei den scheußlichen Anschlägen in den USA um einen Akt des Terrorismus handelt, der aus dem Ausland gesteuert wurde. Dann folgen Entscheidungen sowohl auf der NATO-Ebene als auch auf der deutschen Ebene.

Der NATO-Rat wird, sollten die Vereinigten Staaten eine begründete Analyse der Urheberschaft dieser Anschläge vorlegen, entscheiden, ob diese hinlänglich ist und die Bündnisverpflichtung zu kollektiver Verteidigung umgesetzt werden soll. Er wird  von den USA und der NATO vorgeschlagene militärische Maßnahmen gegen die terroristischen Akteure und deren Unterstützer beschließen. Diese können nach den bisherigen Bekundungen uneingeschränkt die Terroristen selbst und deren Hintermänner treffen, aber auch Staaten, die diese beherbergen oder mit ihnen sympathisieren.

Damit ist eine grundsätzliche Entscheidung der NATO für eine neuartige Argumentations- und Legitimationslogik für künftige Militäraktionen gefallen. Wird ein NATO-Staat durch Terror von außen angegriffen, so löst dies den Bündnisfall aus, so wie es bislang ein militärischer Angriff eines Staates oder einer Staatengruppe getan hätte. Ob der terroristische Angreifer ein Staat oder eine nichtstaatliche Organisation ist, ist unerheblich. Die Bekämpfung des internationaler Terrorismus wird somit militärische Aufgabe, Bündnisaufgabe, und ist nicht länger den innerstaatlichen Sicherheitskräften vorbehalten. Dies impliziert eine erneute Änderung und Erweiterung der NATO-Strategie und würde eigentlich eine Neufassung des NATO-Vertrages erfordern.

Wie geht es in Deutschland weiter?

Die Bundesregierung hat ihre Zustimmung zu dieser weitreichenden Veränderung gegeben, trägt sie mit und hat zugesagt, zu deren Implementierung beizutragen. Der konkrete deutsche Beitrag hängt davon ab, welche militärischen Optionen die NATO beschließt und welchen Beitrag Bundesregierung und Bundestag beisteuern werden.   Der Bundestag muß bei Inkrafttreten des Bündnisfalles zunächst eine Entscheidung treffen, ob der Spannungsfall ausgerufen wird und damit der Exekutive die Möglichkeit gegeben wird, von den Notstandsgesetzen Gebrauch zu machen. Zudem muß vor einer konkreten militärischen Aktion entscheiden, ob der Verteidigungsfalls ausgerufen werden soll. Dazu ist eine Zweidrittelmehrheit nötig. Dies wäre der formal korrekte und im Grundgesetz als Normalfall beschriebene Weg. Politisch gibt es allerdings auch die Option, einen Bundestagsbeschluß analog zu Entscheidungen über eine deutsche militärische Beteiligung an bisherigen Kriseneinsätzen gefaßt werden könnte und so eine Entscheidung über Spannungsfall, Verteidigungsfall und die Option der Nutzung der Notstandsgesetze mit ihren potentiell weitreichenden einschränkenden Folgen für die Rechte von Parlament, Bürgern und demokratischen Freiheiten zunächst zu vermeiden. Diese Variante schließt das Grundgesetz m. W. nicht explizit aus.

Es gibt andere Aktionsmöglichkeiten als die Ausrufung des Bündnisfalles?

Eindeutig. Die NATO hätte innerhalb ihrer Logik auch anders agieren können als sie es in der vergangenen Woche getan hat. Politisches Ziel war es, den USA nach diesen schrecklichen Anschlägen größtmögliche Unterstützung zuzusichern. Solche Unterstützung hätte auch auf dem Weg zugesagt werden können, auf dem heute über militärische Einsätze mit Kampfauftrag bei Krisen beschlossen werden – jeder NATO-Staat sagt zu, dass er mitmacht. Das Ergebnis wäre dasselbe gewesen. Die negativen Nebenwirkungen einer Anwendung des Artikels 5 wären ausgeblieben.

Die da wären?

Ähnlich, aber gravierender als mit den Kosovo-Beschlüssen der NATO aus dem Oktober 1998 wird  ein Präzidenzfall im Blick auf die künftigen militärischen Aufgaben der NATO geschaffen und zugleich ein Vorratsbeschluß gefasst, der das weitere Vorgehen der NATO präjudiziert und fast zwangsläufig in einer oder mehreren militärischen Interventionen enden wird. Die Entscheidung für Artikel 5, also die kollektive Verteidigung als Handlungsgrundlage ist äußerst problematisch. Zudem ist es das erste Mal, daß die NATO terroristische Angriffe nicht-staatlicher Akteure einem militärischen Angriff von Staaten gleichstellt und damit sich selbst die Möglichkeit schafft, auch gegen Staaten militärisch vorzugehen, deren Territorium Terroristen nutzen, sei es weil sie geduldet werden oder weil dieser Staat Teile seines Territoriums nicht ausreichend kontrollieren kann. Internationale Terrorgruppen haben kein Staatsgebiet und agieren meist aus einem oder mehreren Staaten heraus. Etliche Staaten werden so zu potentiellen Zielen. Aus ihrer Sicht wäre das Vorgehen, dass die NATO sich eröffnet, ein völkerrechtswidriger Angriff. Das existierende Völkerrecht wurde im Blick auf bewaffnete Angriffe und legitime Selbstverteidigung zwischen Staaten verfasst und deckt ein solches Vorgehen nicht.

Hinzu kommt: Für die Zukunft haben sich die NATO-Staaten einen Präzedenzfall mit völlig unklaren Grenzen geschaffen.  Künftig könnte theoretisch auch bei viel kleineren Anschlägen auf den gleichen Mechanismus zurückgegriffen werden. Wir befinden uns auf einer abschüssigen Bahn, die eine ganze Reihe von zusätzlichen militärischen Interventionsoptionen kreiert, für die es eine weltweit akzeptierte Logik ebensowenig gibt wie eine international akzeptierte Rechtsgrundlage.

Die USA müssen der NATO gegenüber die Hintergründe belegen und greifen dabei auf Informationen zurück, die nur ihnen zur Verfügung stehen. Wird das in Europa nicht problematisiert?

Es zeichnet sich ab, daß die Vereinigten Staaten in diesem Prozeß eine große Entscheidungsdominanz haben, weil ihnen der Großteil der Erkenntnisse über Hintergründe zur Verfügung steht. Sie werden die NATO-Staaten sicher nicht mit den geheimdienstlichen Rohdaten ihrer Erkenntnisse beliefern, da diese Auskunft über Quellen geben. Sie werden die NATO-Partner mit dem Auswertungsergebnis konfrontieren. Dieses Auswertungsergebnis werden die anderen NATO-Staaten aufgrund ihrer begrenzten Aufklärungskapazitäten nur partiell überprüfen können. Das damit verbundenen Risiko, möglicherweise auch eine fehlerhafte amerikanische Analyse zur Entscheidungsgrundlage zu machen, wird in Kauf genommen – einschließlich der möglicherweise weitreichenden Folgen.

Sind wir in der vergangenen Woche Zeugen von kopflosen Entscheidungen geworden oder ist ein strategisches Ziel zu erkennen?

Es ist schwer zu beurteilen, ob die gegenwärtigen Reaktionen, sowohl in den USA als auch in der internationalen Gemeinschaft, aus der verständlichen situativen Aufgeregtheit und Wut über solche Anschläge primär psychologisch zu begründen sind, oder ob es auch Leute gibt, die mit relativ kühlem Kopf eine einmalige Gelegenheit sehen, bestimmte – bisher nicht mehrheitsfähige – militärische Optionen (völker)rechtlich zu legitimieren. Es ist bekannt, daß es seit vielen Jahren einen Disput in der NATO gibt, ob das Bündnis gegen nicht-staatliche Akteure wie Terroristen auch militärisch vorgehen können sollte. Zuletzt gab es darum Streit bei der Abfassung des strategischen Konzeptes der NATO 1999. Damals wurde diese Option nicht explizit aufgenommen, obwohl die USA es forderten.

Das scheint sich nun zu ändern, denn US-Präsident George W. Bush hat von einer Kriegserklärung gesprochen und auch in Deutschland war die Einschätzung zu hören, daß klassische Kriege zwischen Staaten überholt seien. Was bedeutet das für die staatliche Souveränität als ein Pfeiler des bisherigen Völkerrechtes?

In der Tat bedeuten diese Anschläge eine heute noch nicht in ihrer Gesamtheit und Komplexität erkennbare Veränderung der sicherheitspolitischen Diskussion. Wann reden wir z.B. von Krieg? Ich halte es für fatal und für hoch riskant, daß der Begriff Krieg, der Begriff Bündnisfall und ähnliche Termini in dieser Diskussion von Anbeginn an verwendet wurden. Damit wurden Begriffe gewählt, die ihren Kontext im zwischenstaatlichen Verhältnis haben. Terroristische Akteure sind keine Staaten. Wenn diese Begriffe auf sie übertragen werden, dann ist das zwar angesichts der grausamen Folgen der Anschläge in den USA emotional nachzuvollziehen. Mit einer solchen Übertragung wird aber zugleich eine Situation geschaffen, in der auch die Logik des Kriegsdenkens, der Aktions-Reaktionsmechanismus, das Denken in Schlag und Gegenschlag, implizit und automatisch mitübertragen werden. Auch bestimmte islamische terroristische Gruppen bezeichnen ihre Auseinandersetzung mit den USA als Heiligen Krieg. Das ruft die Gefahr hervor, daß die Auseinandersetzung nach der Logik von Eskalation und Eskalationsdominanz geführt wird.

Das bedeutet eine sichere Reaktion der USA. Wie könnte sich diese Eskalationslogik entwickeln?

Eine der vorstellbaren Entwicklungen wäre, daß diese Terrorgruppierungen sich entscheiden, ihrerseits wieder zuzuschlagen. Sie haben ja alle Zeit der Welt zu entscheiden, in welcher Form und wie sie dies tun wollen. Ob bei der wohl bald folgenden US-Reaktion die "richtigen" oder "falschen" Terroristen getroffen werden, ist unerheblich, solange die "Richtigen" nicht alle ausgeschaltet werden, bevor sie erneut zuschlagen können. Die Terroristen können sich für eine horizontale, also geographische Eskalation und/oder für eine vertikale, also qualitative Eskalationsform entscheiden. Die relativ hohe "Qualität" der in den USA durchgeführten Anschläge läßt vermuten, daß sich die Verantwortlichen weitere Möglichkeiten in der Reserve gehalten haben. Dann müssten die USA und ihre Partner erneut militärisch zuschlagen – im vollen Bewusstsein der Tatsache, dass die wechselseitige Eskalation unkontrollierbar werden und in einen weltweiten Krieg führen könnte.

Der Großteil der westlichen Medien hat sehr schnell islamische Gruppen hinter diesen Anschlägen ausgemacht. Was spricht dafür?

Zunächst, daß die westliche Welt in extremistischen islamischen Gruppierungen ihren Lieblingsfeind entdeckt hat. Zugleich: Es gibt offensichtlich aber auch faktische Hinweise in diese Richtung. Nichtsdestotrotz kann man nur warnen, sich voreilig auf diesen Täterkreis als einzig potentiellen zu konzentrieren. Auch der große Terroranschlag in Oklahoma wurde lange der falschen Tätergruppe zugeordnet.

Ist mit einer Kooperation Rußlands in diesem Fall zu rechnen?

Die Russische Föderation wird sich den westlichen Reaktionen gerade wegen ihres Krieges in Tschetschenien und falls Gruppierungen aus dem Bereich des islamischen Extremismus beteiligt sind, weitgehend anschließen. In Tschetschenien hat Russland es u.a. auch mit diesen Gruppen zu tun.

In den USA sind prompt Forderungen laut geworden, den Militäretat drastisch zu erhöhen, beispielsweise von der konservativen Heritage Foundation; es ist wohl davon auszugehen, daß diese Forderungen jetzt erfüllt werden ...

Natürlich fordern Administration und Konservative im Kongreß jetzt mehr Geld zum Ausbau der Weltraumrüstung, einer Raketenverteidigung, der Streitkräfte insgesamt und für den Counter-Terrorismus. Für sie sind diese furchtbaren Anschläge Menetekel und Chance. Sie folgen der Denkweise: "Wenn uns einer angreifen kann, dann müssen wir eben demonstrieren, daß wir viel stärker sind". Es werden noch mehr Ressourcen in den militärischen Sektor gesteckt werden. Gleichzeitig, und das wird meistens übersehen, besteht aber in keiner Weise eine höhere Garantie, Sicherheit gegen solche terroristischen Aktionen schaffen zu können. Egal, wie stark man innenpolitisch Demokratie zurückfährt und außenpolitisch aufrüstet: Absolute Sicherheit gegen Terroranschläge gibt es genauso wenig, wie absolute Sicherheit vor Raketenangriffen.

Deshalb wäre auch zu überlegen, ob es nicht alternative Optionen gibt. Dies setzt voraus, dass eine wichtige Lehre aus diesen schrecklichen Ereignissen gezogen wird: Auch eine Supermacht wie die Vereinigten Staaten ist - als hochentwickelte Industriegesellschaft - nicht unverletzlich. Und man kann sie nicht völlig unverletzlich machen. Der Traum von der Unverwundbarkeit mag für viele Republikaner Teil des amerikanischen Traums sein – aber Unverwundbarkeit ist und bleibt ein Traum. Wer diese Erkenntnis zuläßt, wird entdecken, daß dem Westen unter anderem, weil er von einer Überlegenheit des westlichen Wirtschafts- und Zivilisationsmodells gegenüber  anderen Kulturen auf diesem Erdball ausgeht, oft das Verständnis für diese anderen Kulturen und ihre Kommunikationsformen abhanden kommt. So zum Beispiel gegenüber Klan-Strukturen oder gesellschaftlichen Strukturen, in denen der Islam die Grundlage des staatlichen Rechtssystems darstellt.

Was heißt das konkret im Blick auf z. B. islamische Terroristen ...

...daß zum Beispiel Ankündigungen und Begründungslogiken terroristischer Aktionen im Westen oft nicht wahrgenommen oder mißverstanden werden. Daß Symbole und Symbolik, die in solchen Kulturen in der Kommunikation eine hohe Bedeutung haben, falsch interpretiert oder gleich ganz übersehen werden. Und das heißt de facto, daß sowohl die Frühwarnung  vor Anschlägen als auch die Reaktion auf diese möglicherweise auf Basis schwerwiegender kultureller Fehlinterpretationen erfolgen. Was, wenn solche Terrorgruppen auch durch militärische Gewalt nicht abgeschreckt werden können? Ich plädiere dafür, daß wir unsere finanziellen Ressourcen insbesondere auch darauf verwenden, unsere Analysefähigkeit und unsere Verstehensfähigkeit für andere Kulturen, andere  Religionen, andere Gesellschaftsstrukturen deutlich zu verbessern. Damit könnten in Zukunft Signale, die aus diesen gesellschaftlichen Strukturen, ja sogar solche, die aus terroristischen Kreisen kommen, wieder besser verstanden und interpretiert werden. 

Das Gespräch führte Harald Neuber.