FRiZ/Schweizer Friedenszeitung
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Abrüstung in der Sackgasse?
Das atomare Erbe der Sowjetunion und die Umwelt

von Oliver Meier

Die ökologischen Kosten des Ost-West-Konflikts werden erst allmählich deutlich. Mehr als vier Jahrzehnte konnten die Militärkomplexe beider Seiten relativ ungestört die Umwelt zerstören. Mit dem Ende der direkten militärischen Konfrontation änderte sich dies. Zum einen werden viele militärische Liegenschaften stillgelegt sowie Waffen außer Dienst gestellt oder ganz abgerüstet (d.h. zunächst delaboriert - in ihre Bestandteile zerlegt - und dann zerstört). Zum anderen wird in vielen Bereichen die militärische Geheimhaltung aufgehoben oder zumindest zurückgeschraubt. "Perestroika" in der ehemaligen Sowjetunion und die "openness"-Initiative des für die US-Atomwaffenforschung und -produktion verantwortlichen amerikanischen Energieministeriums sind zwei Beispiele für diesen Trend, der die katastrophale Lage im Umweltbereich erst ans Tageslicht gebracht hat.

Während in den USA eine erste Bestandsaufnahme der durch den US-Atomwaffenkomplex verursachten Umweltschäden begonnen wurde und bereits über Strategien zur "Lösung" der Probleme nachgedacht wird, ist die Situation in Rußland schwieriger. Die nukleare Abrüstung führt hier momentan nicht zu einer Verbesserung der ökologischen Lage sondern eher zu einer Verschlechterung. Die sichere und umweltgerechte Entsorgung von Nuklearwaffen und deren Trägersystemen stellt die russische Regierung vor eine derzeit kaum lösbare Aufgabe. Der Rüstungskomplex hat sich damit praktisch den Rückweg abgeschnitten, denn die Kosten für die Beseitigung der Folgen der bisherigen Hochrüstung blockieren mittlerweile sogar die Fortführung des nuklearen Abrüstungsprozesses.

 

Die nukleare Abrüstung in Rußland

Schon der Umfang der zu bewältigenden Aufgabe ist beeindruckend. 1986, zu Hochzeiten des Ost-West-Konflikts, besaß die Sowjetunion ungefähr 45.000 nukleare Sprengköpfe. Davon waren ca. 33.000 aktive Waffen. 12.000 Waffen älteren Typs wurden in Reserve gehalten. Bis zum Jahr 1992 wurde die Gesamtzahl der russischen Atomwaffen auf 33.000 reduziert.1

Wie viele der noch vorhandenen Waffen abgerüstet werden sollen, ist gegenwärtig völlig unklar. Lediglich bei den aktiven (d.h. stationierten) strategischen Waffen gibt es vertragliche Obergrenzen, bei allen anderen Atomwaffenkategorien existieren lediglich politische Absichtserklärungen, diese Waffen zu reduzieren (z.B. bei bestimmten Kategorien taktischer Atomwaffen) oder überhaupt keine vertraglichen Begrenzungen. Es wird geschätzt, daß die USA und Rußland technisch in der Lage wären jährlich ungefähr jeweils 2.000 Sprengköpfe zu delaborieren. Ungefähr 15.000 bis 18.000 Sprengköpfe werden möglicherweise in Rußland in nächster Zeit zur Abrüstung anstehen, die Kosten für die Verschrottung eines einzelnen Sprengkopfes werden gegenwärtig auf etwa 10.000-15.000 US-$ geschätzt. Die Abrüstungskapazitäten in beiden Staaten sind schon heute voll ausgelastet. Wie die dabei anfallenden radioaktiven Materialien letztendlich entsorgt werden sollen, ist dabei noch völlig offen. Problematisch ist aber nicht nur die Abrüstung der eigentlichen Kernsprengköpfe sondern auch die der nuklearen Trägersysteme, d.h. der Raketen, U-Boote, Bomber, usw.

Daß die Umweltprobleme des russischen Atomwaffenkomplexes durch die Abrüstung momentan eher zu- denn abnehmen liegt unter anderem daran, daß die geregelte Abrüstung der "ungeregelten" Abrüstung nicht mehr hinterherkommt: Die vorhandenen Waffen zerfallen schneller als sie entsorgt werden können. Besonders deutlich wird dies bei der Lage der atomaren U-Boote Rußlands. Diese sollten einst den globalen Gegenspieler bedrohen, mittlerweile stellen sie vor allem eine Bedrohung für die eigene Bevölkerung dar. Die nukleare Verseuchung der Umwelt und die Gefahr eines Unfalls sind die größten Risiken.

 

Nukleargetriebene U-Boote

 Von 1950 bis 1994 hatte die Sowjetunion, bzw. Rußland insgesamt 245 nukleargetriebene U-Boote mit 445 nuklearen Reaktoren gebaut. Davon waren 1989 196, 1995 noch 115 Atom-U-Boote einsatzbereit2. Besondere Sorgen bereiten dabei die mit strategischen Raketen bestückten U-Boote von denen 1997 noch 24 einsatzbereit waren3. Rußland kann seit längerem weder die sichere Abrüstung außer Dienst gestellter U-Boote noch die umweltgerechte Lagerung ausgedienter Kernreaktoren oder der dazugehörigen Brennstoffe gewährleisten.

Schon der "normale" Betrieb dieser U-Boote stellt ein erhebliches Risiko für die Umwelt dar. Bei der Beladung der Kernreaktoren dieser U-Boote mit Brennstoff ist es mehrmals zu Unfällen gekommen, Boote sind gesunken oder bei Havarien schwer beschädigt worden4. Durch die gegenwärtig stattfindende geplante und "ungeplante" Abrüstung verstärken sich diese Gefahren noch. Probleme bereiten aber vor allem die in der Folge der Abrüstung anfallenden spaltbaren Materialien. Mindestens 18 Kernreaktoren, davon waren sechs noch mit Brennstäben beladen, sind bisher im Meer versenkt worden5. Auch nuklearer Müll wurde bis vor kurzem von der russischen Marine oft einfach im Meer verklappt. Solange die technische Infrastruktur zur Entsorgung der nuklearen Altlasten hoffnungslos überfordert ist, steht die Drohung im Raum, daß diese "Lösung" des Problems weiter praktiziert wird.

 Dabei sind die Lagermöglichkeiten für abgebrannte Brennstäbe bereits seit langem überlastet. In der auf der Kola Halbinsel gelegenen russischen Marinebasis Zapadnaya Litsa befindet sich die größte Lagerstätte der Nordmeerflotte für nuklearen Abfall und abgebrannte Brennstäbe aus Antriebsreaktoren von Atom-U-Booten. Seit Anfang der sechziger Jahre wurden hier in der Andreeva Bucht bis zu 17.000 abgebrannte Brennstäbe in Wasserbecken gelagert. Schon 1982 war es zu mehreren schweren Zwischenfällen gekommen, in deren Verlauf mehrere Hundert Tonnen verseuchtes Wasser austraten. Die Kernbrennstäbe mußten darauf in drei, ursprünglich für flüssigen Nuklearabfall vorgesehene Tanks umgelagert werden.

Mittlerweile werden etwa 21.000 Brennelemente, in Zement eingegossen, in diesen Tanks gelagert. Normalerweise ist diese Methode nur 3-4 Jahre sicher, da sich der Zement durch die Strahlung und chemische Reaktionen zu zersetzen beginnt. Es besteht nicht nur die Gefahr des Austritts von radioaktiven Stoffen, sondern auch die Möglichkeit einer unkontrollierten Kettenreaktion kann nicht ausgeschlossen werden. Trotzdem ist bis heute nicht einmal Geld zum Schutz vorhanden, um die Lagerstätten durch Plastikplanen vor Witterungseinflüssen zu schützen. Pläne zum Bau einer neuen Lagerstätte existieren bisher nur auf dem Papier6. Neben den abgebrannten Brennelementen warten in Zapadnaya Litsa noch 2.000 m3 flüssiger und 6.000 m3 fester Nuklearabfall darauf, entsorgt zu werden7.

 Ein Teil der abzurüstenden U-Boote ist noch nicht demontiert worden, sondern liegt in den Häfen. Besonders große Sorgen bereiten die über 50 außer Dienst gestellten U-Boote, deren Reaktoren noch mit Brennstoff beladen sind. Unter den gegenwärtigen Bedingungen stellen diese Schiffe eine Gefahr für die Umwelt dar, egal ob sie abgerüstet werden oder nicht. Die umweltgerechte Demontage dieser Schiffe ist teuer und erfordert eine intakte technische Infrastruktur. Die noch nicht demontierten U-Boote werden nicht mehr ordnungsgemäß in Stand gehalten, so daß sowohl die Gefahr eines Unfalls oder sogar des Sinkens besteht. Gefahren gehen aber auch von der Demontage der Schiffe aus. So ist es in Rußland üblich, die Antriebsreaktoren aus dem U-Boot herauszuschneiden und - bis zu zehn Jahre - schwimmend im Hafen zwischenzulagern8. Eine Endlagerungsstätte für ausgediente Kernreaktoren aus U-Booten existiert noch nicht. Es ist unwahrscheinlich, daß sich an dieser Situation schnell etwas ändert: Im letzten Jahr wurde weniger als ein Viertel des für die Abrüstung von U-Booten vorgesehenen Geldes auch tatsächlich für diesen Zweck ausgegeben9.

 

Die atomaren Hinterlassenschaften - kein Silberstreif am Horizont

 Zuverlässige Schätzungen über die Kosten einer Beseitigung der Umweltschäden des russischen Atomwaffenkomplexes sind nicht vorhanden. Klar ist, daß die gegenwärtig rund 400 Millionen US-$ pro Jahr, die im Rahmen des amerikanischen "Cooperative Threat Reduction"-Programms für die Abrüstung von Massenvernichtungswaffen bereitgestellt werden nicht mehr sind als ein Tropfen auf dem heißen Stein10. Im Vergleich dazu erfordert nach Schätzungen des amerikanischen Energieministeriums aus dem Jahr 1995 die Beseitigung der Hinterlassenschaften des US-Atomwaffenkomplexes ungefähr 500 Milliarden US-$ verteilt über 75 Jahre. Nur die "Stabilisierung" der ökologischen Situation in den am schlimmsten verseuchten Anlagen würde ungefähr 230 Milliarden US-$ über 75 Jahre kosten11. Damit würde die Beseitigung der Umweltschäden mehr kosten als die Produktion aller Atomsprengköpfe der USA12.

Selbst wenn politisch entschieden würde, einen Großteil der benötigten Ressourcen zur Beseitigung der Umweltfolgen der atomaren Hochrüstung aufzubringen, würden trotzdem mehrere Generationen mit dieser Aufgabe leben müssen. Für viele der Probleme existieren technische Lösungen noch nicht einmal am Reißbrett. Zur Dekontaminierung verseuchter Böden beispielsweise werden erst jetzt Technologien entwickelt. Bei vielen atomaren Altlasten würde schon der Versuch der Entsorgung ein nicht zu verantwortendes Risiko darstellen. Die Stabilisierung der Situation und die Verhinderung von Unfällen und Lecks sind die dringlichsten Aufgaben. Auch hier ist der Blick in die USA hilfreich. Obwohl die amerikanische Regierung jährlich rund 1,6 Milliarden US-$ für die stillgelegte Hanford Site ausgibt, auf der früher einmal das Plutonium für die US-Atomwaffen produziert wurde, ist keine nennenswerte Besserung der Lage in Sicht. Mehr als 1,6 Milliarden Liter radioaktiv oder chemisch verseuchte Flüssigkeiten wurden dort während des Ost-West-Konflikts in die Umwelt verbracht, immer noch sind rund 100.000 Brennstäbe dort deponiert. Über den radioaktiven Inhalt von 177 unterirdischen Tanks ist nichts genaues bekannt, so daß noch nicht einmal mit der Entwicklung von Entsorgungskonzepten begonnen werden kann13.

Klar ist, daß Rußland ohne die konzertierte und massive Hilfe des Westens nicht in der Lage sein wird, seine nuklearen Altlasten zu entsorgen. Eine solche Hilfe liegt auch im wohlverstandenen Eigeninteresse des Westens. Zum einen bedrohen die Auswirkungen eines Atomunfalls natürlich auch den Westen. Zum anderen blockiert die ungesicherte Entsorgung der atomaren Altlasten schon jetzt den atomaren Abrüstungsprozeß. Auch mit dem Hinweis auf die Kosten der Verschrottung von Nuklearwaffen und deren Trägersystemen verweigert die russische Duma bisher die Unterschrift unter den START II-Vertrag über eine Reduzierung strategischer Waffen. Daß die weitere Abrüstung durch die Folgen der bisherigen Hochrüstung blockiert wird, muß verhindert werden. Da eine Fortführung des Rüstungswettlaufs weitere Schäden für die Umwelt zur Folge hat, ist eine Politik, die darauf angelegt ist, die militärischen Ursachen der Umweltkatastrophe zu bekämpfen ohne Alternative.

 

Dipl.-Pol. Oliver Meier hat an der Freien Universität Berlin zur amerikanischen Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts promoviert und ist am Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS) als Wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie am Fachbereich Politische Wisssenschaften der FU Berlin als Lehrbeauftragter tätig. Der Autor dankt der W. Alton Jones Foundation und der Ford Foundation für ihre Unterstützung.

 

1 Owen R. Coté, Jr.: "The Russian Nuclear Archipelago", in: Graham T. Allison/ Owen R. Coté, Jr./ Richard A. Falkenrath/ Steven E. Miller: Avoiding Nuclear Anarchy. Containing the Threat of Loose Russian Nuclear Weapons and Fissile Material. Cambridge/ London: MIT Press 1996, pp. 177-202.
2 Oleg Bukharin/ Joshua Handler: "Russian Nuclear Powered Submarine Decommissioning", in: Science and Global Security, Vol. 5, 1995, pp.245-271.
3 Joshua Handler: "The Nuclear Arms Race at Sea - 1997", Presentation for the Kyoto International Conference of World Conference Against A-Bombs and H-Bombs, Kyoto, 1-2 August 1997.
4 Mindestens je drei sowjetische und amerikanische Atom-U-Boote sind bisher gesunken. Mindestens vier russische nukleargetriebene U-Boote die durch Reaktorunfälle schwer beschädigt wurden, müssen noch abgerüstet werden. Vgl. Joshua Handler: "The Russian Naval Nuclear Complex", Paper presented at the Workshop "The Nuclear Legacy of the Former Soviet Union: Implications for Security and Ecology", Berlin, October 17th and 18th, 1997; Thomas Nilsen/ Igor Kudrik/ Alexandr Nikitin: "The Russian Northern Fleet: Sources of Radioactive contamination", Oslo (Bellona Foundation Working Paper 2) 1996.
5 Joshua Handler: "Nuclear Weapons and Naval Nuclear Reactors in the Russian Far East", Presentation for the Kyoto International Conference of World Conference Against A-Bombs and H-Bombs, Kyoto, 1-2 August 1997.
6 Thomas Nilsen/ Igor Kudrik/ Alexandr Nikitin: "The Russian Northern Fleet: Sources of Radioactive contamination", Oslo (Bellona Foundation Working Paper 2) 1996.
7 Ebda.
8 Ebda., p. 134.
9 Joshua Handler: "Russia seeks to refloat a decaying fleet", Jane's International Defense Review, 1/1997, pp. 43-47.
10  Selbst hier beginnen die USA weitere Einschränkungen zu machen. So werden Konversionsprogramme neuerdings nicht mehr unterstützt. Von den bewilligten Geldern wurde außerdem nur ein Bruchteil freigegeben, weil die Administration verpflichtet ist, amerikanischen Unternehmen bei der Umsetzung den Vorzug zu geben. Vgl. Jo L. Husbands: The U.S. Response to the Russian Nuclear Legacy", Paper presented at the Workshop "The Nuclear Legacy of the Former Soviet Union: Implications for Security and Ecology", Berlin, October 17th and 18th, 1997.
11 Vgl. Linda Rothstein: "Nothing Clean about 'Cleanup'", in: Bulletin of Atomic Scientists, May/ June 1995, pp. 34-41, p. 34.
12 Vgl. Nuclear Weapons Cost Study Project Committee (Stephen I. Schwartz, Hrsg.): "Four Trillion Dollars and Counting", in: Bulletin of Atomic Scientists, November/ December 1995, pp. 32-52, p. 44.
13 Vgl. Ulrich Schiller: "Die strahlende Last der Bombe", in: Die Zeit, Nr. 22, 26. Mai 1995..