Friedensforum
Ausgabe 2 / März 2010


Atomwaffen in Europa – Abrüstung oder Umrüstung?

von Otfried Nassauer

CDU/CSU und FDP haben es in ihrem Koalitionsvertrag festgeschrieben: Die letzten Atomwaffen sollen aus der Bundesrepublik abgezogen werden. Nach Konsultationen im Bündnis und im Rahmen der Diskussion über eine neue NATO-Strategie. Was wird aus dieser Vereinbarung? Und unter welchen Vorzeichen? Die US-Regierung hat die Diskussion über die Zukunft der Atomwaffen in europäischen Ländern in einen neuen Zusammenhang gestellt. Sie zielt auf eine neues, problematisches Abschreckungskonzept für die NATO. Substantielle Antworten soll der Nuclear Posture Review geben, den die USA im März 2010 veröffentlichen wollen.

Fünf NATO-Staaten, darunter Deutschland, haben NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen in einem Brief gebeten, „die Nuklearpolitik der NATO“ auf die Tagesordnung des nächsten Treffens der Außenminister in Tallin zu setzen. Das soll am 22./23. April stattfinden, kurz vor Beginn der Überprüfungskonferenz für den Atomwaffensperrvertrag. In ihrem Schreiben erinnern die Außenminister daran, dass US-Präsident Obama die Vision einer atomwaffenfreien Welt befürworte und versprochen habe, sich um „eine substantielle Reduzierung strategischer Nuklearwaffen“ und „eine verringerte Rolle atomarer Waffen“ zu bemühen. Guido Westerwelle und seine Amtskollegen aus Belgien, Luxemburgs den Niederlanden und Norwegen wollen das NATO-Treffen zu „einer umfassenden Diskussion“ nutzen: „Wir glauben, dass wir auch in der NATO diskutieren sollten, was wir tun können, um uns diesem übergeordneten politischen Ziel anzunähern.“ Zudem regen sie an, politische „Vorgaben für den Prozess“ der Erarbeitung eines Neuen Strategischen Konzeptes der NATO zu entwickeln.

Mit diesem butterweichen Aufschlag wollten die europäischen Minister am 26. Februar das vielleicht entscheidende Match um die Zukunft der in Europa verbliebenen 150-200 Atombomben eröffnen. Natürlich geht es dabei auch um die Zukunft des deutschen Atomwaffenstandortes Büchel und – politisch wichtiger - der technischen nuklearen Teilhabe. In dem Eifelörtchen lagern weiterhin 10-20 nukleare Bomben der USA, die im Kriegsfall durch Tornado-Kampfflugzeuge der Bundeswehr zum Einsatz gebracht werden können. Im März 2009 fand dort die bislang letzte Nukleare Sicherheitsinspektion statt. Die Einheit ist also noch aktiv. Neben Deutschland sind auch Belgien und die Niederlande sowohl Stationierungsland als auch Unterzeichner des Briefs der Außenminister. Die Forderung nach dem Abzug der letzten Nuklearwaffen aus Deutschland hatte auf Initiative der FDP im Oktober 2009 überraschend Eingang in den schwarz-gelben Koalitionsvertrag gefunden. Die Liberalen halten diese Waffen, ähnlich wie die Oppositionsparteien und die meisten Experten für „Relikte des Kalten Krieges“, die heute keine militärische Funktion mehr erfüllen, deren Beibehaltung aber viel Geld kostet. Ab 2013 beginnt zudem in Büchel die Umrüstung des Geschwaders auf nicht-nuklearfähige Kampfflugzeuge vom Typ Eurofighter. Dies erfordert unabhängig von den ausstehenden politischen Entscheidungen substantielle Veränderungen.

Die taktischen oder substrategischen Nuklearwaffen der USA in Europa sind nur ein Teil des regionalen Abschreckungspotentials im Rahmen der NATO. Zusammen mit einigen Hundert strategischen und substrategischen Atomwaffen auf britischen und US-amerikanischen U-Booten, die der NATO in Krise und Krieg unterstellt werden können, sind sie die Instrumente der nuklearen Abschreckung und Kriegführung für Krise und Krieg. Den Abzug der substrategischen Atombomben aus Europa zu fordern, bedeutet also nicht das Ende der nuklearen Abschreckung für das Bündnis.


Die Nuklearwaffenlager der NATO 2010

Flugplatz

Land

Unterflur-
magazine

Waffen gelagert
(geschätzt)

Waffen lagerbar
(max.)

Einheiten und Status

Buechel

D

11

10-20

44

Jabo-Geschwader 33 mit Tornado, 702 MUNSS, letzte Sicherheitsinspektion März 2009

Kleine Brogel

BE

11

10-20

44

10. Taktisches Geschwader mit F-16; 701 MUNSS, Inspektion 2008

Volkel

NL

11

10-20

44

1. Jagdbombergeschwader mit F-16; 703. MUNSS; letzte Inspektion 2009

Aviano

IT

18

50

72

31. Jagdbombergeschwader der US-Luftwaffe mit F-16; letzte Inspektion 2009

Ghedi-Torre*

IT

11

20-40

(künftig 0?)

44

6. Geschwader mit Tornado, 704. MUNSS, letzte bekannte Inspektion 2004

Incirlik

TR

25

50

100

Rotierende Einheiten der US-Luftwaffe, Nuklearwaffenlager aktiv, letzte Inspektion 2008

Gesamt:

NATO

87

150-200

392

 


* Seit Jahren kursieren Gerüchte, die Lagerung nuklearer Waffen solle in Ghedi reduziert oder aufgegeben werden. Der Waffenbestand könne teilweise auch ins nahe Aviano verlegt werden. Die letzte nachweisbare nukleare Sicherheitsinspektion fand 2004 statt. Eine weitere war für 2007 geplant. Ob sie durchgeführt wurde, ist nicht bekannt.


Neue regionale Abschreckungsarchitekturen der USA

Massive Verärgerung über den Vorstoß zum Abzug der US-Atombomben aus Europa berichten konservative Kommentatoren aus Washington. Hillary Clinton, Obamas Außenministerin, habe auf einer Konferenz zur Zukunft der NATO noch wenige Tage vor dem Brief betont, Washington wolle die „nukleare Abschreckung aufrechterhalten“ erhalten und habe vor „voreiligen Schritten“ gewarnt, „die unsere Abschreckungsfähigkeit unterminieren“ könnten. Die fünf Außenminister – so der Eindruck, der erweckt wurde – haben genau das gefordert und stellen die atomare Abschreckung infrage. Ihr Vorstoß sei deshalb zum Scheitern verurteilt, ein Rohrkrepierer.

Diese Sicht ist verkürzt und kurzsichtig. Sie übersieht, dass vor allem die US-Regierung die nukleare Abschreckung in ihrer bisherigen Form längst infragestellt. Die konservativen Kommentatoren „überhörten“ den unmittelbar folgenden Satz Clintons. Der machte deutlich, dass es um weit mehr geht: „In der Tat, wir wollen unsere Abschreckung durch Raketenabwehr ausbauen.“ Es geht nicht also nur um die Zukunft der atomaren Waffen in Europa, sondern auch darum, die Raketenabwehrvorhaben der USA in das regionale Abschreckungskonzept der NATO zu integrieren. Das wirft zugleich die Frage auf, wie sich die Rolle des Nuklearpotentials der NATO künftig innerhalb des Abschreckungskonzeptes der NATO und der USA weiterentwickelt und wie weit die Strategie der NATO an veränderte nationale Strategievorstellungen ihrer Vormacht USA angepasst wird.

Zwei bedeutende Planungspapiere des Pentagons aus dem Februar 2010 verstärken diese Sicht. Der Quadrennial Defense Review hält fest: “Diese regionalen Abschreckungsstrukturen und neuen Fähigkeiten (...) ermöglichen eine verringerte Rolle nuklearer Waffen in unserer nationalen Sicherheitsstrategie.“ Der Ballistic Missile Defense Review ergänzt: „Gegen nuklear bewaffnete Staaten wird die regionale Abschreckung notwendigerweise auch [künftig] eine nukleare Komponente erfordern. Aber die Rolle der US-Atomwaffen in diesen regionalen Abschreckungsstrukturen kann reduziert werden durch eine Stärkung der Rolle der Raketenabwehr und anderer Fähigkeiten.“

Die Regierung Obama entwickelt unter Federführung von Verteidigungsminister Gates, der schon unter George W. Bush im Amt war, die nationale „Abschreckungsstrategie“ der USA weiter. Sie überträgt deren Grundgedanken auf die regionalen US-Abschreckungssysteme in Europa, im Nahen Osten und in Fernost. Unter George W. Bush wurde die Nuklearabschreckung in einen neuen übergeordneten Kontext gestellt. Die nukleare Komponente ist nur noch ein Bestandteil der gesamten Abschreckungsfähigkeit, die den USA militärische Überlegenheit und militärische wie politische Durchsetzungsfähigkeit für die kommenden Jahrzehnte sichern soll. Weitere Bestandteile sind die Raketenabwehr und die Fähigkeit zu raschen konventionellen und/oder nuklearen strategischen Angriffen auf Ziele rund um den Globus – also die Konzepte der Global Strikes und der Prompt Global Strikes.

Lässt sich die NATO darauf ein, Abschreckung künftig im amerikanischen Sinne zu verstehen - also erweiterte Raketenabwehrfähigkeiten und „andere Fähigkeiten“, wie sie zum Beispiel für die Global Strike-Konzepte benötigt werden, in ihre Strategie aufzunehmen - dann kann eine Reduzierung oder ein Verzicht auf die in Europa gelagerten US-Atomwaffen möglich und die Rolle nuklearer Waffen deutlich reduziert werden. Selbst das Pentagon kann sich offenbar vorstellen, dass die „nukleare Komponente“ der NATO künftig ohne Nuklearwaffen auf europäischem Boden auskommt, wenn es im Ballistic Missile Defense Review schreibt:. „Sei diese vorne – (also in Europa) stationiert oder nicht.“


Good News may be Bad-News

Mit Speck fängt man Mäuse. Mehr Raketenabwehr und bessere konventionelle Fähigkeiten erlauben künftig mehr nukleare Abrüstung – vielleicht nicht schon morgen, aber übermorgen womöglich. Die Atombomben in Europa könnten verzichtbar werden. Die Entwicklung neuer Atomwaffen, zum Beispiel zur Zerstörung tief verbunkerter Ziele oder von Mini-Nukes könnte unterbleiben. Zudem kann die Rolle nuklearer Waffen deutlich reduziert werden. Zum Beispiel auf die Abschreckung eines Nuklearangriffs auf die USA und deren Bündnispartner. Das alles sind mögliche Schlussfolgerungen des Nuclear Posture Reviews, die bereits öffentlich gehandelt werden. Mit diesem Dokument will die Regierung Obama ihre künftige Nuklear- und Abreckungspolitik dem Kongress vorstellen. Zusammen mit der amerikanisch-russischen Ankündigung eines substantiellen Abrüstungsschrittes bei den strategischen Atomwaffen wären es wichtige, begrüßenswerte Signale im Blick auf die Überprüfung und Stärkung des Atomwaffensperrvertrages. Es wäre gut, wenn die Regierung Barack Obamas sich auf solche Schritte festlegen würde. Die Erfolgsaussichten für eine Stärkung des Atomwaffensperrvertrages könnten steigen.

Doch es könnte auch eine Seite derselben Medaille geben. Wie diese aussieht, hängt davon ab, ob und welche Bedingungen und Voraussetzungen an die positiven Schritte geknüpft würden. Werden sie z.B. davon abhängig gemacht, dass die NATO zügig auf die umstrittenen, unter Obama nachgebesserten Raketenabwehrpläne der USA für Europa einsteigt? Gilt das auch für neue Raketenabwehrtechnologien wie das von der Regierung Obama befürwortete politisch sehr problematische Konzept des „Early Intercept“? Dieses sieht vor, ballistische Raketen während der ersten Phase ihres Fluges oder sogar noch vor deren Start zu bekämpfen. Sollen die NATO-Länder sich an offensiven und völkerrechtlich problematischen Konzepten wie Gobal Strike und Prompt Global Strike beteiligen? Entstehen hier völkerrechtlich zweifelhafte Möglichkeiten zu einer veränderten europäischen „Teilhabe“ an der Abschreckung? Soll die nukleare Teilhabe durch eine erweiterte Teilhabe an der „neuen Abschreckung“ ersetzt oder ergänzt werden? Werden die USA nukleare Langstreckenraketen abrüsten, nur um sie zu konventionellen Langstreckenraketen umzurüsten, die zum Beispiel auch die Silos gegnerischer Atomraketen zerstören könnten? Auch diese Schritte werden als mögliche Bestandteile der künftigen Abschreckungspolitik der USA bereits öffentlich diskutiert. Ihre Wirkung auf das Bedrohungsgefühl in vielen Teilen Welt wäre kaum positiv.

Noch gibt es auf viele Fragen keine konkreten belastbaren Antworten, obwohl sie erhebliche Konsequenzen für die Sicherheit Europas haben. Unabhängig davon wie sie mit durch den Nuclear Posture Review beantwortet oder offengehalten werden, bleibt ein weiteres faktisches Problem bestehen: Wie gut und verlässlich wird der Politikwechsel, mit dem sich die Obama-Administration vorgeblich von der Regierung George W. Bush absetzen will, gegen einen Rückfall in das Denken der Bush-Administration faktisch abgesichert? Kann ein künftiger republikanischer US-Präsident mit Dank für Obamas Wegbereiterfunktion bei den Bündnispartnern auf die neuen regionalen Abschreckungsarchitekturen zurückgreifen und sie ganz im Sinne einer unilateralen Machtpolitik a la George W. Bush und Dick Cheney als glänzende Ausgangsbasis nutzen? Oder handelt es sich sogar nur um eine Fortschreibung der Politik Bushs mit anderen besser klingenden Worten? Noch ist keine definitive Antwort möglich. Von dieser Antwort aber hängt die Glaubwürdigkeit Obamas ab.


Abrüstung oder Umrüstung – Das ist hier die Frage

Auffällig ist, dass die fünf europäischen Außenminister ihre Initiative in einen deutlich anderen stellen. Sie wollen über einen möglichen Beitrag der NATO zu den atomaren Abrüstungsversprechen Obamas und über mögliche Schritte der NATO zur Stärkung von Abrüstung und Nichtverbreitung diskutieren. Zudem sollen daraus Konsequenzen für die künftige Strategie der NATO gezogen werden. Ganz anders das bislang erkennbare Vorgehen Washingtons: Dort will man scheinbar zunächst über die künftige Abschreckungsstrategie des Bündnisses und die dafür nötigen militärischen Fähigkeiten und erst in der Konsequenz über möglich werdende nukleare Abrüstungsschritte reden. Diesen Eindruck erwecken jedenfalls die bisher zugänglichen Regierungsdokumente.

Der Zeitplan der europäischen Außenminister erlaubt ein „Last-Minute-Signal“ an die Überprüfungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages – vorausgesetzt die NATO würde in Tallin Nägel mit Köpfen machen und nukleare Abrüstungszusagen machen. Der Zeitplan hinter den Überlegungen Washington erfordert dagegen mehr Zeit, da sich die europäischen NATO-Staaten zunächst mit den Konsequenzen der neuen Abschreckungslogik für ihre eigene Politik befassen müssten. Auch liegt der Nuclear Posture Review noch nicht vor, sodass zu viele Fragen noch ohne Antwort sind. Unklar ist deshalb auch, wie konkret oder interpretierbar die Abrüstungszusagen der USA in diesem Dokument sein werden. Je stärker die Abrüstungsbereitschaft Washingtons an die Umrüstungsvorhaben und die Bereitschaft der europäischen NATO-Staaten gekoppelt wird, sich dem neuen Abschreckungsdenken Washingtons anzuschließen, desto unwahrscheinlicher wird es, dass in Tallin ein Abrüstungssignal der NATO zustande kommt, das hilft, den Atomwaffensperrvertrag zu stärken.

Bleiben nach Tallin zu viele Interpretationsmöglichkeiten offen, so laufen die NATO-Staaten Gefahr, der Überprüfungskonferenz des NVV einen Bärendienst zu erweisen: Kein klares Signal des Westens ist aus Sicht vieler anderer Vertragsstaaten auch ein Signal – das auf leere Versprechungen.

Die fünf europäischen Außenminister könnten dazu auch einen Beitrag geleistet haben. In dem Bemühen, einen butterweichen Aufschlag für eine Debatte über die nuklearen Abrüstungsmöglichkeiten zu servieren, der niemandem den Vorwurf erlaubt, er sei ihm um die Ohren gehauen worden, könnten die Minister zu vorsichtig zu Werke gegangen sein: „Unsere künftige Politik erfordert die volle Unterstützung aller Bündnismitglieder“, heißt es in ihrem Schreiben. Der Return könnte hart ausfallen: Ein oder mehrere NATO-Staaten könnten aus dieser Zusage das Recht auf ein nationales Veto jedes einzelnen NATO-Landes gegen einen Abzug der letzten Atombomben aus Europa ableiten und selbst diese begrenzte Initiative blockieren. Im Blick auf den Atomwaffensperrvertrag würde das bedeuten: „Gut gemeint ist nicht immer gut gemacht.“


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS.