Freitag
23 April 1999


Eine Strategie der Flexiblen Intervention?

von Otfried Nassauer

Die NATO gibt sich eine neue Strategie. Während des NATO-Gipfels soll sie an diesem Wochenende gebilligt werden. Erstmals nach Ende des Kalten Krieges - dieser endete aus amerikanischer Sicht mit dem Zerfall der Sowjetunion 1991/92 - sollen die Aufgaben des Bündnisses neu bestimmt und strategische Leitlinien für die Politik der Zukunft festgelegt werden. "Erweiterte Aufgaben für eine Erweiterte Allianz" - so könnte das Dokument überschrieben werden. Auf die Strategie der "Flexiblen Reaktion" des Kalten Krieges soll eine Strategie der "Flexiblen Intervention" folgen. Der Einsatz der NATO im Kosovo ist somit zugleich Präjudiz und Beispiel für die neue Ausrichtung der NATO, die in der neuen Strategie ihren Ausdruck finden soll.

Die "Strategischen Konzepte" der NATO sind - historisch betrachtet - immer in Anlehnung an veränderte nationale strategische Konzepte der Führungsmacht USA entwickelt worden. Dies gilt auch im Blick auf das nun zur Verabschiedung anstehende Dokument.

Konsequent haben die Vereinigten Staaten ihre nationale Militärstrategie und ihre Streitkräfte seit Ende des Kalten Krieges und des Golfkrieges an die veränderte geopolitische Situation angepaßt. Erheblich kleinere, flexiblere und technisch moderner ausgestattete US-Streitkräfte stehen heute bereit, global Überlegenheit und militärische Dominanz der USA zu demonstrieren. Staaten und nichtstaatliche Akteure, die die Interessen der USA gefährden können, geraten dabei gleichermaßen ins Visier. Zwei große Konflikte - wie jener am Golf - sollen gleichzeitig geführt werden können, so die politisch-militärische Zielsetzung der Clinton-Administration. Ob friedenserhaltende Missionen im Auftrag der UNO, ob friedenserzwingende Einsätze mit oder ohne UN-Mandat oder ob Intervention - für alle dies Einsätze gilt als Voraussetzung: Sie müssen den nationalen Interessen der USA dienlich sein. Eine Beteiligung an internationalen Friedensmissionen erfolgt nur, wenn die Involvierung internationaler Organisationen - wie der UNO - die Interessen der USA befördert.

Die NATO soll nun in diese Veränderungen eingebunden werden. Das Bündnis soll künftig nach Streitkräftestruktur und militärischer Ausstattung in der Lage sein, zeitgleich mehrere geographisch getrennte militärische Operationen durchzuführen. Die Allianz soll gleichzeitig einen geographisch begrenzten Angriff auf das NATO-Gebiet abwehren und zugleich eine größere Krisenmanagement-Operation durchführen können. Alternativ soll sie zwei größere regionale Krisenmanagement-Einsätze bewältigen können, bei denen ein Kampfeinsatz in Größenordnung eines Korps und ergänzender Luftwaffen- und Marineeinheiten für die Dauer von bis zu zwei Jahren erforderlich ist, ohne daß die Fähigkeit zur Verteidigung des NATO-Gebietes gefährdet wird. Diese Forderung soll in den Streitkräftezielen der Allianz für den Zeitraum bis 2006 verankert werden, die im Mai 1999 zur Verabschiedung anstehen.

Die Rolle eines militärischen Weltpolizisten weisen die USA der NATO nicht zu. Zwar fordern einige Senatoren immer wieder, die NATO müsse westliche Interessen auch in der Straße von Taiwan oder am persischen Golf durchsetzen können, doch die Clinton-Administration hält von solchen Forderungen wenig. Sie verweist darauf, daß die europäischen Staaten zu solchen Einsätzen weder Willens noch in der Lage seien. Zugleich verschweigt sie, daß es auch im nationalen Interesse der USA liegt, die Staaten der Europäischen Union bei Einsätzen in Regionen, in denen es um die Kontrolle strategischer Rohstoffe geht, zwar fragen zu können, aber nicht fragen zu müssen. Das potentielle Einsatz- und Interessengebiet der NATO hat Washington bereits beschrieben: Das Gebiet des US-Oberkommandos Europa wurde erweitert. Es umfaßt heute den ganzen Balkan, alle europäischen und Transkaukasischen Nachfolge-Staaten der UdSSR, nicht aber Zentralasien und den Persischen Golf mit ihren enormen Rohstoffvorräten.

Für die USA ergibt sich - liegt eine militärische Intervention in ihrem nationalen Interesse - eine machtpolitisch komfortable Situation. Washington kann entscheiden, ob es allein und ohne Bündnispartner, in Form einer Koalition der Willigen, als Führungsmacht mit der NATO oder aber als Führungsmacht einer von den Vereinten Nationen oder der OSZE gebilligten Intervention auftritt. Diese Möglichkeiten kann es gegeneinander ausspielen und wählen, welche dieser Optionen den nationalen Interessen am besten dient.

Ähnlich verhält es sich in der Frage, ob die internationale Staatengemeinschaft einen Militäreinsatz zwingend billigen sollte oder ob ein Eingreifen auch ohne ein Mandat der UNO oder der OSZE erfolgen kann. Die USA halten schon lange UNO-Mandate bei nationalen Interventionen für nicht erforderlich. "Mit der UNO, wann immer möglich - ohne sie, wann immer notwendig", so lautete bereits 1993 die Überschrift einer internen Diskussionsvorlage der US-Botschaft in Brüssel für die NATO. Sie argumentierte gegen das "Credo", den Glaubenssatz, nur ein UN-mandatierter Militäreinsatz der Allianz sei ein völkerrechtlich legitimer Einsatz. Die NATO dürfe sich - vor allem im Blick auf innerstaatliche Konflikte, Menschenrechtsverletzungen und Völkermord - nicht von einer Zustimmung des UN-Sicherheitsrates abhängig machen.

Washington fordert nicht, daß die Brüsseler Militärallianz bei künftigen Einsätzen grundsätzlich oder weitgehend auf die Mandatierung durch die internationale Staatengemeinschaft verzichtet. Aus Sicht der USA ist es hinlänglich, wenn die NATO ein UN-Mandat nicht zur zwingenden Voraussetzung eines militärischen Eingreifens macht. Im neuen Strategischen Konzept der NATO wird diese Möglichkeit denn auch nicht explizit erwähnt, sondern lediglich offengehalten. Die NATO werde "in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen" handeln, so der Vorschlag aus Brüssel. Der Teufel sitzt im Detail: In Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen heißt nicht in Übereinstimmung mit der Charta der Vereinten Nationen. Im Geiste der Charta heißt etwas anderes als in Übereinstimmung mit dem Wortlaut der Charta. Interpretationsfähigkeit wird geschaffen und damit Handlungsspielraum. Künftig kann argumentiert werden, die NATO handele bei einer Intervention in Übereinstimmung mit den Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen - diese würden lediglich im Sicherheitsrat der UNO unterschiedlich ausgelegt. Wenn aber 19 demokratische Staaten, die zudem mehr als drei Viertel den Budgets der Vereinten Nationen bereitstellen, ein militärisches Handeln im Sinne der Charta für legitim halten, dann könne dies doch keinen Verstoß gegen die Charta darstellen, nur weil ein oder zwei Mitglieder des Sicherheitsrates - Rußland oder China - dies anders sehen.

Das Ziel Washingtons wird erreicht: "Die NATO sollte die Tagesordnung der Vereinten Nationen bestimmen und nicht umgekehrt", postulierte schon 1993 das interne Non-Paper der amerikanischen NATO-Mission in Brüssel.

 Es bleibt eine entscheidende Frage: Wenn die NATO Einsatz im Kosovo bereits Elemente der oder gar die künftige NATO-Strategie implementiert, so kann nur davon abgeraten werden, diese Strategie jetzt zu verabschieden. Zu offensichtlich stehen die erklärten politisch-militärische Ziele des Kosovo-Einsatzes der NATO im Widerspruch zu den angewandten militärischen Mitteln. Zu deutlich wird die Dominanz des Militärischen im Handeln der Allianz. Zunächst gälte es, die Erfahrungen und Lehren aus den im Kosovo gemachten Fehlern und das Verhältnis von politischen und militärischen Funktionen der Allianz noch einmal zu diskutieren.

 

 Otfried Nassauer ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).