Blätter für deutsche und internationale Politik
Ausgabe 06/2007


Das Ende der Abrüstung

von Otfried Nassauer

Wladimir Putin irritiert die NATO. Immer deutlicher kritisiert der russische Präsident die Sicherheitspolitik des Westens. Mit Kritik an Washingtons Vorhaben, in Tschechien und Polen Teile des amerikanischen Raketenabwehrsystems aufzubauen, machte Putin während der Münchener Sicherheitskonferenz den Anfang. Die NATO-Pläne, dem Kosovo eine überwachte Souveränität zu gewähren, treffen im UN-Sicherheitsrat auf den Widerspruch der Vetomacht Russland. Die Kooperation im NATO-Russland-Rat hält Russland seit geraumer Zeit für unbefriedigend. In seiner Rede zur Lage der Nation drohte Putin nun mit einem möglichen Ausstieg Russlands aus dem Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE). So mancher im Westen fürchtet deshalb eine neue Eiszeit oder - wie Außenminister Steinmeier - eine "Spirale des Misstrauens" zwischen Russland und dem Westen. Die Auseinandersetzung um den KSE-Vertrag ist ein gutes Beispiel, um mehr Klarheit über die Beweggründe der Moskauer Führung zu gewinnen.

In seiner Rede verkündete Putin verkündete "ein Moratorium der russischen Umsetzung des KSE-Vertrages bis alle NATO-Staaten ihn ratifizieren und beginnen, sich strikt daran zu halten – so wie es Russland bereits heute tut." Er schlug vor das Thema im NATO-Russland-Rat zu diskutieren. Binnen eines Jahres soll eine Lösung gefunden werden. Sollten Verhandlungen keine Lösung bringen, will Putin Moskaus "Möglichkeit prüfen, seine Verpflichtungen aus dem KSE-Vertrag zu beenden."

Die NATO reagierte prompt. Sie verlangte von Moskau eine Erklärung, was Putin genau gemeint habe und forderte Moskau zur umfassenden Einhaltung seiner vertraglichen Verpflichtungen auf. Allzu überraschend kann der russische Vorstoß für die NATO allerdings kaum gewesen sein. Denn seit Jahren ist bekannt, dass Russland das westliche Verhalten in Sachen KSE nicht akzeptiert.


Ein Blick zurück

Der KSE-Vertrag stammt aus dem Jahre 1990. Er legte für die Hauptwaffensysteme der NATO und des Warschauer Paktes je gleiche Obergrenzen fest. Als Hauptwaffensysteme galten Panzer, gepanzerte Kampffahrzeuge, Artilleriegeschütze, Kampfhubschrauber und Kampfflugzeuge. Was über die vereinbarten Obergrenzen hinausging, musste überprüfbar zerstört oder abgezogen werden. Über 60.000 Großwaffensysteme wurden in der Folge verschrottet. Im KSE-1a-Vertrag wurden 1992 zusätzlich nationale Obergrenzen für die Personalstärken der Streitkräfte der Länder des inzwischen aufgelösten Warschauer Paktes und der NATO vereinbart. Beide Abmachungen wurden von allen Staaten ratifiziert und zügig umgesetzt, die den Bündnissen angehörten.

Anlässlich der NATO-Osterweiterung 1997 musste einem Problem Beachtung geschenkt werden, dass die Vertragspartner bislang vernachlässigt hatten. Die "Blockstruktur" des Vertrages - hier der Warschauer Pakt und dort die NATO - war nicht mehr vorhanden. Zudem wollten mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik drei Mitglieder des ehemaligen Warschauer Paktes der NATO beitreten. Um das Problem zu lösen und Russlands Bedenken gegen die NATO-Erweiterung politisch abzufedern, wurde beschlossen, den NATO-Russland-Rat als Konsultationsgremium zu gründen und das Mandat für Verhandlungen über einen neuen KSE-Vertrag zu erteilen. Anlässlich des OSZE-Gipfels 1999 in Istanbul war der Adaptierte KSE-Vertrag (AKSE) unterschriftsreif. Er enthielt jetzt nationale Obergrenzen für die Hauptwaffensysteme der Vertragsmitglieder. Diese waren in der Summe etwas niedriger als im KSE-Vertrag. Zudem erlaubte der AKSE-Vertrag den Beitritt neuer Mitglieder aus dem Kreis der OSZE-Mitglieder. Und schließlich enthielt er besondere Flankenregeln für den Nord- und Südosten Russlands, sowie Obergrenzen und Regeln für die Stationierung zusätzlicher NATO-Truppen in den neuen Mitgliedstaaten der NATO. Mit den Flankenregeln sollte sichergestellt werden, dass Moskau seine durch den Zerfall der Sowjetunion entstandenen kleinen Nachbarn wie die baltischen Staaten oder Georgien nicht unter Druck setzte. Mit den Verstärkungsregeln wurde auf russische Befürchtungen eingegangen, dass die NATO ihre Truppen einfach nach Osten verlegen könnte. Alle KSE-Mitglieder unterzeichneten 1999 auch den AKSE-Vertrag.

Doch der AKSE-Vertrag ist bis heute nicht in Kraft getreten. Kein NATO-Staat hat ihn bisher ratifiziert. Slowenien und die baltischen Staaten sind bislang nicht einmal Mitglieder des KSE-Regimes geworden. Sie unterliegen somit keinerlei Begrenzungen für Personal, Hauptwaffensysteme oder Verstärkungen. Für Moskau wurde dies zum Problem, als auch diese Länder 2004 Mitglied der NATO werden sollten.

Während der Münchener Sicherheitskonferenz 2004 griff der russische Verteidigungsminister, Sergei Iwanow, das Thema auf: "Ist der KSE-Vertrag wirklich weiterhin ein Eckpfeiler der Europäischen Sicherheit?...Oder wird er zu einem weiteren Relikt des Kalten Krieges, wie der ABM-Vertrag einmal genannt wurde?", fragte er in Anspielung auf den Vertrag über Raketenabwehrsysteme, den die USA zuvor einseitig gekündigt hatten. Iwanow, heute ein aussichtsreicher Kandidat für die Nachfolge Putins, warnte wörtlich: "Im Ernst – eine Schwächung der Kontrollregime für konventionelle Waffen in Europa stimmt nicht mit den Interessen der russischen nationalen Sicherheit überein, aber sie ist auch kein irreparabler Verlust für Russlands Sicherheit, wie einige meinen könnten." Schon damals regte Iwanow an, zügig im NATO-Russland-Rat das Mandat für erneute Verhandlungen zu erarbeiten, mit denen das KSE-Regime an die zweite Erweiterung der NATO angepasst werden sollte. Er forderte zudem, alle NATO-Staaten sollten dem KSE-Vertrag beitreten.

Doch bis Anfang 2007 passierte nichts. Die NATO-Staaten reagierten nicht. Obwohl Russland, Kasachstan, Belarus und der Ukraine das AKSE-Abkommen mittlerweile ratifiziert und implementiert haben, argumentiert die NATO: Zusammen mit dem AKSE-Abkommen seien 1999 die Istanbuler Verpflichtungen eingegangen worden. Damit habe sich Russland zum Rückzug seiner verbliebenen Truppen aus Moldawien und Georgien verpflicht. Dieser sei bislang noch immer nicht vollständig abgeschlossen.

Tatsächlich hatten sich die NATO-Außenminister ein halbes Jahr nach dem Istanbuler Gipfel aus Protest gegen den Tschetschenienkrieg in Florenz einseitig darauf fest, das AKSE-Abkommen erst zu ratifizieren, wenn der Abzug Russlands aus Georgien und Moldawien umgesetzt sei. Damit verzögerten sie zugleich den Beitritt neuer Mitglieder zum KSE-Regime, denn der alte KSE-Vertrag kennt keine Klausel für den Beitritt neuer Mitglieder.


NATO im Zugzwang

Russland akzeptiert diese Argumentation nicht. Die Ratifizierung des AKSE-Vertrages sei von der NATO in Florenz einseitig an den vollständigen Truppenabzug Russlands gebunden worden. Russland habe den Abzug politisch, aber nicht rechtlich verbindlich zu einem bestimmten Termin zugesagt und zudem seine Abzugsverpflichtungen mittlerweile zum größten Teil erfüllt. Mit Georgien habe man sich auf einen Stationierungsvertrag und einen Abzug bis 2008 geeinigt und diesen auch bereits teilweise umgesetzt. In Moldawien seien nur noch 500 Soldaten zur Bewachung eines riesigen Depots, das keinesfalls unbeaufsichtigt bleiben könne bis es endgültig geräumt sei.

In der NATO gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, ob Russland genug getan habe, um mit der Ratifizierung des AKSE-Vertrages zu beginnen. Deutschland würde akzeptieren, dass eine zeitlich begrenzte per Vertrag geregelte Anwesenheit russischer Truppen in Georgien und Moldawien kein Hindernis darstellt, um den AKSE-Vertrag heute zu ratifizieren. Allerdings ist dies Berlin keinen Streit in der NATO wert. Die USA dagegen haben einen vollständigen Abzug aller russischen Soldaten zur Voraussetzung für westliche Ratifizierungsschritte gemacht. Sie zeigen auch hier wenig Interesse an vertraglicher Rüstungskontrolle. Die baltischen Staaten verzichten gerne noch länger auf einen Beitritt zu KSE-Regime, da sie bis damit weiterhin keinerlei Beschränkungen unterliegen – vor allem im Blick auf Verstärkungen aus anderen NATO-Staaten.

Mit der Ankündigung, das KSE-Vertragssystem notfalls gänzlich in Frage zu stellen, bringt Wladimir Putin die NATO in Zugzwang. Sie muss diskutieren, was ihr der "Eckpfeiler europäischer Sicherheit" und die vertraglich vereinbarte Rüstungskontrolle wert sind. Russland hat seiner Forderung inzwischen Nachdruck verliehen, indem es seine Informationspflichten über Truppenverlegungen aus dem AKSE-Vertrag nicht mehr umsetzt. Unterstützt von dem Bekenntnis, Moskau könne auch ohne den Vertrag leben, verstärkt sich der Druck auf die europäischen NATO-Mitglieder. Vor allem sie haben ein Interesse daran, Russland weiterhin in das KSE-System eingebunden zu wissen. Das macht russische Verhandlungsangebote für viele Europäer in der NATO interessant. Aber auch für Washington und die Garde derer, die Rüstungskontrollverträge vor allem als Beschränkung der eigenen Handlungsfreiheit betrachten? Intensive Diskussionen sind vorprogrammiert.

Die westliche Entscheidung über die Zukunft des KSE-Regimes kann aus russischer Sicht pars pro toto betrachtet werden. Wie kooperativ oder konfrontativ, mit oder gegen Russland wird die NATO künftig europäische Sicherheit ausgestalten? Wird eine Koalition der Willigen aus den USA und einigen NATO-Mitgliedern Russland die Mitsprache verweigern oder gar russische Interessen ignorieren? Wird das Raketenabwehrsystem der USA gegen den Willen Moskaus gebaut? Versucht der Westen, die Unabhängigkeit des Kosovos gegen Moskau durchzudrücken – in der Hoffnung, Russland werde letztlich die Macht des Faktischen akzeptieren? Hält die politische Zusage der NATO, keine Nuklearwaffen oder nuklearen Trägersysteme in den neuen Mitgliedstaaten zu stationieren? Wird der NATO-Russland-Rat wie einst versprochen zu einem Gremium ausgebaut, in dem Russland und die NATO-Mitglieder auch gemeinsam bedeutsame Entscheidungen treffen können? Oder bleibt es dabei, dass Moskau nur informiert, aber nicht wirklich konsultiert wird?

Aus der Sicht Wladimir Putins dürfte die NATO-Debatte über die Zukunft des KSE-Systems ein guter Indikator dafür sein, in welche Richtung die Entwicklung geht. Zudem offeriert dieser Streitpunkt ihm eine persönliche Chance: In die Geschichtsbücher Russlands wird Wladimir Putin ziemlich sicher als jener Präsident eingehen, der den politischen und wirtschaftlichen Niedergang gestoppt und dem Land seine Würde wiedergegeben hat. Mit einer strategischen Debatte, in der die NATO entscheiden muss, ob sie die Sicherheit Europas mit oder gegen Russland gestalten will, kann es Putin gelingen, Gleiches auch in der Außen- und Sicherheitspolitik zu erreichen. Ein Risiko geht er dabei nicht. Die Entscheidung, ob Russland wirklich aus dem KSE-Regime ausscheidet, fällt bereits sein Nachfolger.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS