Das Blättchen
Nr. 15/2016


Im Westen nichts Neues
Russische Stimmen zum Warschauer NATO-Gipfel

von Siegfried Fischer


Es war irgendwie eigenartig. Vor dem Gipfel häuften sich russische offizielle Aussagen zum Verhältnis Russland und NATO und nach dem Gipfel war relative Ruhe. Sicher wollte die russische Regierung erst noch die Tagung des NATO-Russland-Rates am 13. Juli abwarten. Wohl auch um sicher zu gehen, dass die Warschauer Beschlüsse der NATO tatsächlich in erster Linie deren innerer Konsolidierung geschuldet sind und weniger einer neuerlichen aggressiven Ost-Orientierung. 

Dmitri Peskov, der russische Regierungssprecher, hatte bereits vor dem Gipfel verkündet, dass der Kreml den rationalen Kern in den Äußerungen sucht und damit rechnet, dass der gesunde Menschenverstand siege. Wie gesund der Menschenverstand bei einigen Politikern von NATO-Mitgliedern (geschweige denn bei einigen NATO-Militärs) tatsächlich ist, zeigte dann insbesondere der in den russischen Medien vielzitierte polnische Außenminister, in dem er erklärte, dass Russland kein konstruktiver Spieler und von Moskau nichts Gutes zu erwarten sei. 

Nach dem Gipfel gab die Sprecherin des russischen Außenministeriums Maria Sacharova keine Einschätzung, sondern erklärte lediglich, dass es beim Treffen am 13.07. im NATO-Russland-Rat nun darum ginge, die Folgen der beschlossenen Truppenverstärkung der NATO im Osten für die europäische Sicherheit zu diskutieren, die Luftraumsicherheit über der Ostsee gemäß des finnischen Vorschlages zu erhöhen, die Rolle der Luftabwehrsysteme in der Region zu definieren und die Zusammenarbeit im Ukraine-Konflikt und in Afghanistan zu erörtern. 

Neben diesen eher bescheidenen offiziellen Auftritten gab es natürlich eine ganze Reihe von Einschätzungen und Äußerungen anerkannter russischer Experten. So wurde konstatiert, dass die Balance zwischen Abschreckung und Zusammenarbeit zerbrochen ist, Russland zur zentralen Herausforderung der NATO definiert wurde und folglich Russland und der Westen in den Paradigmen der gegenseitigen Abschreckung langfristig gefangen sind (Dmitri Danilov, Europainstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften). Interessant ist auch die Aussage, dass beide Seiten nicht reif für einen konstruktiven Dialog seien und folglich nur der Propagandakrieg und die Vorbereitung zukünftiger Beziehungen zwischen Russland und der NATO übrig blieben (Viktor Kremenyuk, USA-Kanada Institut). Vielleicht bringe ja die Sitzung des NATO-Russland-Rates ein paar interne Absprachen zu den Spielregeln (Aleksey Makarkin, Zentrum Politischer Technologien), denn immerhin wolle Russland keine Verschärfung und die NATO betone ja immer noch den Dialog (Dmitri Danilov). 

Im Gegensatz zu den damaligen geistigen Schlammschlachten des Kalten Krieges gibt es auf russischer Seite neben hämischen auch nahezu verständnisvolle Analysen der Probleme der westlichen Allianzen (ausgenommen natürlich die klassischen russischen Propagandakrieger). So habe der Generationswechsel im politischen Establishment der USA dazu geführt, letztlich die Länder der GUS als freies Jagdgebiet zu erklären und damit die härtere Gangart Moskaus provoziert (Viktor Kremenyuk). Hinzu käme natürlich, dass die USA auf zwei Stühlen säßen, weil sie einerseits Sicherheitsprobleme hätten, die ohne Russland nicht gelöst werden können, und andererseits einen Feind – also Russland – brauchen, um die Partner zu vereinen und die Militärausgaben zu erhalten (Fedor Voytolovskiy, Institut der Internationalen Wirtschaft und der Internationalen Beziehungen). Folglich verstärken die USA und die NATO ihre militärischen Aktivitäten an der russischen Grenze, setzen aber gleichzeitig den Dialog zu Syrien und der Ukraine fort (Andrey Kokoshin, Sekretär des russischen Sicherheitsrates). 

Es fällt auf, dass mehrfach darauf hingewiesen wird, dass es eine Neuverteilung der Rollen der NATO und der EU gäbe, wobei die NATO sich stärker als bisher der Ökonomie und die EU der Sicherheitspolitik widme (Nikolay Mezhevich, Universität St. Petersburg). Sehr einprägsam schreibt Dmitri Danilov, dass eine politische Plattform der Zusammenarbeit von NATO und EU formiert wurde, in der die EU ihre Selbständigkeit an allen Fronten, insbesondere aber ihre Elastizität bei den Russlandsanktionen verliert. Die Zeiten, wo man die Beziehungen Russland – NATO und Russland – EG variieren konnte, seien vorbei. Das sei eine langfristige Herausforderung für Russland, zumal die NATO-Philosophie offensiv auf die Abschreckung Moskaus gerichtet sei. Achtung: Er unterscheidet sehr wohl zwischen offensiv und aggressiv! 

Was nun die militärischen Aktivitäten der NATO im Osten betrifft, gibt es natürlich eine ganze Bandbreite von Bewertungen. Seriöse militärpolitische Experten sehen darin keine unmittelbare Angriffs- oder Kriegsvorbereitung der NATO. Sie warnen aber vor der Zunahme der Kriegsgefahr, falls militärische Aktionen außer politische Kontrolle geraten. Es gibt Stimmen, wonach die USA und die NATO beschlossen haben, das Baltikum zum Übungsplatz potentieller Aggressionen gegen Russland zu machen (Nikolai Mezhevich). Dass in diesem Zusammenhang immer wieder die Rolle des ukrainischen Präsidenten und seiner „gens provocateurs“ zur Sprache kommt, der die Balten offenbar um diese offene Unterstützung gegen Russland beneidet, darf niemanden verwundern. 

Parallel zum NATO-Gipfel fand auch ein hochkarätiges Treffen westlicher (inklusive natürlich osteuropäischer) Experten statt. Nach Aussagen eines russischen Teilnehmers waren die dort geäußerten Meinungen wesentlich schärfer, als die der Gipfelteilnehmer, was sich vor allem in offener oder verdeckter Kritik an den unzureichenden Maßnahmen der NATO gegen die russische Gefahr niederschlug (Andrei Kortunov, Russischer Rat für Internationale Angelegenheiten). Die Diskussion habe gezeigt, dass die NATO politisch und psychologisch zu einem Konflikt im Baltikum bereit sei. Obwohl diese NATO-Experten mehrheitlich die Aussage Stoltenbergs bestätigten, dass es noch keinen „Kalten Krieg 2.0“ gäbe, fühlte sich Dmitri Trenin (Carnegie Center Moskau) dennoch in alte Zeiten zurückversetzt, weil auf diesem Forum völlig technokratisch über die militärpolitischen Aspekte der Auseinandersetzung mit Russland diskutiert worden sei. Seiner Meinung nach hatte der Westen im Kalten Krieg die UdSSR allerdings zumindest geachtet. Heute gäbe es weder Vertrauen noch Achtung. 

In Übereinstimmung mit anderen russischen Analytikern bewertet Trenin die NATO-Gipfel-Beschlüsse als vor allem nach Innen auf die Festigung des Bündnisses gerichtet. Da die NATO ein Schlüsselelement des amerikanischen globalen Führungsanspruchs ist, werde diese Konsolidierung die amerikanische Führungsrolle stärken. Die USA fühlen sich selber von Russland nicht bedroht, nutzen aber den militärpolitischen Druck auf Russland als Element ihrer Abschreckungsstrategie. Insofern, sei es für Russland äußerst wichtig, sich nicht in einen Rüstungswettlauf hineinziehen zu lassen. 

Fazit: Im Moment sieht es so aus, als ob Russland konsequenter als die NATO auf Dialog setzt und sich nicht zu dem tumben Schema „Si vis pacem para bellum“ verführen lässt, was bei der eindeutigen militärischen Übermacht der NATO völlig irreal wäre. Es bleibt zu hoffen, dass die russische Führung dem Druck eigener kurzsichtiger Politiker, Militärs und Rüstungskapitäne ebenso widerstehen kann, wie dem Druck von deren Zwillingsbrüdern in den USA, der NATO und der EU. 

Wie nicht anders zu erwarten, hat auch der Nato-Russland-Rat am 13. Juli nichts an dieser Situation verändert. Stoltenberg konstatierte, dass man zwar miteinander gesprochen habe, jedoch verschiedener Meinung bleibe. Maria Sacharova konstatierte für das russische Außenministerium, dass die NATO weiter in einem militärpolitischen Wunderland existiere und sich darauf konzentriere, eine nicht existente Bedrohung aus dem Osten abzuschrecken. Natürlich kann man nicht im entferntesten annehmen, dass die Maximalforderungen des russischen NATO-Botschafters Aleksander Grushko nach Einstellung militärischer Dislozierungen von NATO-Truppen an der russischen Grenze und letztendlicher Rückkehr der Truppen an ihre angestammten Standorte konstruktiv, geschweige denn durchsetzbar sind. 

Bei derartiger Hartleibigkeit auf beiden Seiten ist es aber kein Wunder, dass es keinen Durchbruch bei den Verhandlungen gab (Aleksey Malashenko) und selbst die russischen Vorschläge über die Erhöhung der Sicherheit im Luftraum über der Ostsee, einem wirklichen hot spot für militärische Konflikte, zwar angehört aber nicht wirklich verhandelt wurden. Es ist noch ein langer Weg zu einer schon einmal nahe geglaubten gemeinsamen Sicherheit in Europa.