Im Westen nichts Neues
Russische Stimmen zum Warschauer NATO-Gipfel
von Siegfried Fischer
Es war irgendwie eigenartig. Vor dem Gipfel häuften sich
russische offizielle Aussagen zum Verhältnis Russland und NATO und
nach dem Gipfel war relative Ruhe. Sicher wollte die russische
Regierung erst noch die Tagung des NATO-Russland-Rates am 13. Juli
abwarten. Wohl auch um sicher zu gehen, dass die Warschauer
Beschlüsse der NATO tatsächlich in erster Linie deren innerer
Konsolidierung geschuldet sind und weniger einer neuerlichen
aggressiven Ost-Orientierung.
Dmitri Peskov, der russische Regierungssprecher, hatte bereits
vor dem Gipfel verkündet, dass der Kreml den rationalen Kern in
den Äußerungen sucht und damit rechnet, dass der gesunde
Menschenverstand siege. Wie gesund der Menschenverstand bei einigen
Politikern von NATO-Mitgliedern (geschweige denn bei einigen
NATO-Militärs) tatsächlich ist, zeigte dann insbesondere der
in den russischen Medien vielzitierte polnische Außenminister, in
dem er erklärte, dass Russland kein konstruktiver Spieler und von
Moskau nichts Gutes zu erwarten sei.
Nach dem Gipfel gab die Sprecherin des russischen
Außenministeriums Maria Sacharova keine Einschätzung,
sondern erklärte lediglich, dass es beim Treffen am 13.07. im
NATO-Russland-Rat nun darum ginge, die Folgen der beschlossenen
Truppenverstärkung der NATO im Osten für die europäische
Sicherheit zu diskutieren, die Luftraumsicherheit über der Ostsee
gemäß des finnischen Vorschlages zu erhöhen, die Rolle
der Luftabwehrsysteme in der Region zu definieren und die
Zusammenarbeit im Ukraine-Konflikt und in Afghanistan zu
erörtern.
Neben diesen eher bescheidenen offiziellen Auftritten gab es
natürlich eine ganze Reihe von Einschätzungen und
Äußerungen anerkannter russischer Experten. So wurde
konstatiert, dass die Balance zwischen Abschreckung und Zusammenarbeit
zerbrochen ist, Russland zur zentralen Herausforderung der NATO
definiert wurde und folglich Russland und der Westen in den Paradigmen
der gegenseitigen Abschreckung langfristig gefangen sind (Dmitri
Danilov, Europainstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften).
Interessant ist auch die Aussage, dass beide Seiten nicht reif für
einen konstruktiven Dialog seien und folglich nur der Propagandakrieg
und die Vorbereitung zukünftiger Beziehungen zwischen Russland und
der NATO übrig blieben (Viktor Kremenyuk, USA-Kanada Institut).
Vielleicht bringe ja die Sitzung des NATO-Russland-Rates ein paar
interne Absprachen zu den Spielregeln (Aleksey Makarkin, Zentrum
Politischer Technologien), denn immerhin wolle Russland keine
Verschärfung und die NATO betone ja immer noch den Dialog (Dmitri
Danilov).
Im Gegensatz zu den damaligen geistigen Schlammschlachten des
Kalten Krieges gibt es auf russischer Seite neben hämischen auch
nahezu verständnisvolle Analysen der Probleme der westlichen
Allianzen (ausgenommen natürlich die klassischen russischen
Propagandakrieger). So habe der Generationswechsel im politischen
Establishment der USA dazu geführt, letztlich die Länder der
GUS als freies Jagdgebiet zu erklären und damit die härtere
Gangart Moskaus provoziert (Viktor Kremenyuk). Hinzu käme
natürlich, dass die USA auf zwei Stühlen säßen,
weil sie einerseits Sicherheitsprobleme hätten, die ohne Russland
nicht gelöst werden können, und andererseits einen Feind
– also Russland – brauchen, um die Partner zu vereinen und
die Militärausgaben zu erhalten (Fedor Voytolovskiy, Institut der
Internationalen Wirtschaft und der Internationalen Beziehungen).
Folglich verstärken die USA und die NATO ihre militärischen
Aktivitäten an der russischen Grenze, setzen aber gleichzeitig den
Dialog zu Syrien und der Ukraine fort (Andrey Kokoshin, Sekretär
des russischen Sicherheitsrates).
Es fällt auf, dass mehrfach darauf hingewiesen wird, dass
es eine Neuverteilung der Rollen der NATO und der EU gäbe, wobei
die NATO sich stärker als bisher der Ökonomie und die EU der
Sicherheitspolitik widme (Nikolay Mezhevich, Universität St.
Petersburg). Sehr einprägsam schreibt Dmitri Danilov, dass eine
politische Plattform der Zusammenarbeit von NATO und EU formiert wurde,
in der die EU ihre Selbständigkeit an allen Fronten, insbesondere
aber ihre Elastizität bei den Russlandsanktionen verliert. Die
Zeiten, wo man die Beziehungen Russland – NATO und Russland
– EG variieren konnte, seien vorbei. Das sei eine langfristige
Herausforderung für Russland, zumal die NATO-Philosophie offensiv
auf die Abschreckung Moskaus gerichtet sei. Achtung: Er unterscheidet
sehr wohl zwischen offensiv und aggressiv!
Was nun die militärischen Aktivitäten der NATO im
Osten betrifft, gibt es natürlich eine ganze Bandbreite von
Bewertungen. Seriöse militärpolitische Experten sehen darin
keine unmittelbare Angriffs- oder Kriegsvorbereitung der NATO. Sie
warnen aber vor der Zunahme der Kriegsgefahr, falls militärische
Aktionen außer politische Kontrolle geraten. Es gibt Stimmen,
wonach die USA und die NATO beschlossen haben, das Baltikum zum
Übungsplatz potentieller Aggressionen gegen Russland zu machen
(Nikolai Mezhevich). Dass in diesem Zusammenhang immer wieder die Rolle
des ukrainischen Präsidenten und seiner „gens
provocateurs“ zur Sprache kommt, der die Balten offenbar um diese
offene Unterstützung gegen Russland beneidet, darf niemanden
verwundern.
Parallel zum NATO-Gipfel fand auch ein hochkarätiges
Treffen westlicher (inklusive natürlich osteuropäischer)
Experten statt. Nach Aussagen eines russischen Teilnehmers waren die
dort geäußerten Meinungen wesentlich schärfer, als die
der Gipfelteilnehmer, was sich vor allem in offener oder verdeckter
Kritik an den unzureichenden Maßnahmen der NATO gegen die
russische Gefahr niederschlug (Andrei Kortunov, Russischer Rat für
Internationale Angelegenheiten). Die Diskussion habe gezeigt, dass die
NATO politisch und psychologisch zu einem Konflikt im Baltikum bereit
sei. Obwohl diese NATO-Experten mehrheitlich die Aussage Stoltenbergs
bestätigten, dass es noch keinen „Kalten Krieg 2.0“
gäbe, fühlte sich Dmitri Trenin (Carnegie Center Moskau)
dennoch in alte Zeiten zurückversetzt, weil auf diesem Forum
völlig technokratisch über die militärpolitischen
Aspekte der Auseinandersetzung mit Russland diskutiert worden sei.
Seiner Meinung nach hatte der Westen im Kalten Krieg die UdSSR
allerdings zumindest geachtet. Heute gäbe es weder Vertrauen noch
Achtung.
In Übereinstimmung mit anderen russischen Analytikern
bewertet Trenin die NATO-Gipfel-Beschlüsse als vor allem nach
Innen auf die Festigung des Bündnisses gerichtet. Da die NATO ein
Schlüsselelement des amerikanischen globalen
Führungsanspruchs ist, werde diese Konsolidierung die
amerikanische Führungsrolle stärken. Die USA fühlen sich
selber von Russland nicht bedroht, nutzen aber den
militärpolitischen Druck auf Russland als Element ihrer
Abschreckungsstrategie. Insofern, sei es für Russland
äußerst wichtig, sich nicht in einen Rüstungswettlauf
hineinziehen zu lassen.
Fazit: Im Moment sieht es so aus, als ob Russland konsequenter
als die NATO auf Dialog setzt und sich nicht zu dem tumben Schema
„Si vis pacem para bellum“ verführen lässt, was
bei der eindeutigen militärischen Übermacht der NATO
völlig irreal wäre. Es bleibt zu hoffen, dass die russische
Führung dem Druck eigener kurzsichtiger Politiker, Militärs
und Rüstungskapitäne ebenso widerstehen kann, wie dem Druck
von deren Zwillingsbrüdern in den USA, der NATO und der EU.
Wie nicht anders zu erwarten, hat auch der Nato-Russland-Rat
am 13. Juli nichts an dieser Situation verändert. Stoltenberg
konstatierte, dass man zwar miteinander gesprochen habe, jedoch
verschiedener Meinung bleibe. Maria Sacharova konstatierte für das
russische Außenministerium, dass die NATO weiter in einem
militärpolitischen Wunderland existiere und sich darauf
konzentriere, eine nicht existente Bedrohung aus dem Osten
abzuschrecken. Natürlich kann man nicht im entferntesten annehmen,
dass die Maximalforderungen des russischen NATO-Botschafters Aleksander
Grushko nach Einstellung militärischer Dislozierungen von
NATO-Truppen an der russischen Grenze und letztendlicher Rückkehr
der Truppen an ihre angestammten Standorte konstruktiv, geschweige denn
durchsetzbar sind.
Bei derartiger Hartleibigkeit auf beiden Seiten ist es aber
kein Wunder, dass es keinen Durchbruch bei den Verhandlungen gab
(Aleksey Malashenko) und selbst die russischen Vorschläge
über die Erhöhung der Sicherheit im Luftraum über der
Ostsee, einem wirklichen hot spot für militärische Konflikte,
zwar angehört aber nicht wirklich verhandelt wurden. Es ist noch
ein langer Weg zu einer schon einmal nahe geglaubten gemeinsamen
Sicherheit in Europa.
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