Blätter für deutsche und internationale Politik
November 2002

 

Machtpolitik auf europäisch
  Otfried Nassauer


Robert Kagans Darstellung des transatlantischen Verhältnisses dient vor allem dem Ziel, die Politik der Bush-Administration in jenen Punkten zu legitimeren, die am umstrittensten, weil unvereinbar mit dem gültigen Völkerrecht sind. Er wirbt indirekt darum, Europa mittels der Alternative "Mitmachen, um Mitentscheiden zu können" oder "amerikanischer Alleingang" für eine Politik zu gewinnen, die das Recht des Stärkeren in "The Coming Anarchy" - so der Titel eines Buchs von Kagan - forciert.

Doch halt! Waren es nicht vor allem die Vereinigten Staaten, die die europäischen Mächte in Folge des Zweiten Weltkrieges sukzessive lehrten, sich nicht länger als globale militärische Akteure zu verstehen und damit exakt jenes Problem schufen, welches das politische Washington heute beklagt? War es nicht Washington, das darauf bestand, dass der NATO-Vertrag geographisch begrenzt sein sollte, weil es nicht in Kolonialabenteuer hineingezogen werden wollte? Waren es nicht die USA, die Großbritannien und Frankreich in der Suezkrise 1956 unmissverständlich deutlich machten, dass Europa seine Rolle "out of area" ausgespielt habe? Waren es nicht die Vereinigten Staaten, die Europa - und insbesondere die Bundesrepublik - das Denken in den Kategorien des Multilateralismus und der "Rule of Law" lehrten und mit den Vereinten Nationen und der UN-Charta jene Instrumente - einschließlich der heute so oft beklagten Begrenzungen - schufen?

Europas Unbehagen gegenüber der derzeitigen Politik der Bush-Administration hat tiefer liegende Ursachen. Beklagt Kagan, "dass Amerika und Europa keine gemeinsame strategische Kultur mehr haben", so befürchten viele Europäer, dass Amerika und Europa unter einem Verlust an "gemeinsamen Werten" leiden. Washington vollzieht derzeit einen radikalen Wertewandel, der in eine Deregulierung der internationalen Beziehungen mündet: Rüstungskontrollverträge, die auch die Vereinigten Staaten einhegen, werden wie der ABM-Vertrag gekündigt oder wie das Überprüfungsabkommen für das B-Waffen-Verbot gar nicht erst weiter verhandelt. Das Recht, über legitime militärische Gewaltanwendung zu entscheiden, zieht schrittweise von New York nach Washington um. Gleiches gilt für die Definition von Angriffs- und Verteidigungskrieg. Militärische Bündnisse sowie die NATO sind nicht länger Instrumente der kooperativen Entwicklung von Sicherheitspolitik, sondern entweder Vollzugsgehilfen bei der Umsetzung nationaler amerikanischer Politikziele oder bestenfalls irrelevant. "The mission defines the coalition; not the coalition the mission." Richard N. Haass hat die neue Politik Washingtons zutreffend als "Multilateralismus à la carte" bezeichnet. Das provoziert in Europa zu Recht drei große Fragezeichen: Ist diese Politik hinlänglich kalkulierbar und vorhersehbar? Ist sie ausreichend im internationalen Recht verankern? Und: Hat sie einen ausreichend langen Atem bzw. ein klares, strategisches Ziel?

Washington kann nicht ernsthaft erwarten, daß Europa den Satz "Amerikanisches Interesse gleich europäisches Interesse" unterschreibt. Die Interessen der europäischen Staaten stimmen bislang noch überwiegend mit denen der USA überein, teils divergieren sie natürlicherweise. Europa muss am Multilateralismus und an der Verrechtlichung internationaler Beziehungen festhalten, will es der europäischen Integration nicht das Fundament entziehen. Europa - und in diesem Punkt zeigt sich, dass der alte Kontinent durchaus "Machtpolitik" betreibt - erhebt den Anspruch auf strategische Mitsprache, wenn es um die künftige Weltordnung und um den Umgang mit Krisen geht, die Kriege werden könnten. Wer die Fähigkeit zur "Machtpolitik" dagegen - wie Kagan - (fast) ausschließlich auf den Faktor Militär reduziert, der muss das übersehen. Von der Nachkriegsentwicklung der deutsch- französischen Beziehungen über die deutsche Ostpolitik bis hin zu der Politik der parallelen Erweiterung und Vertiefung der europäischen Integration zeigt sich jedoch, dass sich europäische Machtpolitik anderer, bis heute primär nicht-militärischer Mittel bedient. Europäische Machtpolitik, für die - sicher etwas überspitzt - das Motto der deutschen Ostpolitik "Wandel durch Annäherung" stehen könnte, setzt angesichts der im Vergleich zu den militärischen Möglichkeiten Washingtons beschränkteren eigenen Optionen auf asymmetrische Mittel der Machtausübung.

Fast unfreiwillig scheint dies auch bei Kagan auf – als klassische Catch 22-Situation: Er beklagt die Schwäche Europas und dessen mangelnden Willen zur (militärischen) Machtpolitik und reflektiert zugleich jenes amerikanische Europabild, dass von Europas machtpolitischem Willen zum Entstehen einer "Supermacht Europa" ausgeht, die in Konkurrenz zu den USA stehen könnte.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).