Blätter für deutsche und internationale Politik
August 2003


Aktive Asymmetrie
Neubestimmung der Sicherheitspolitik im euro-atlantischen Kontext

Otfried Nassauer

Für die Bundeswehr gelten seit dem 21.Mai neue Verteidigungspolitische Richtlinien. Der Europäische Rat in Thessaloniki billigte am 20.Juni erstmals Grundzüge einer sicherheitspolitischen Strategie für die Staaten der Europäischen Union. Beide Dokumente sind nach Anspruch und Aussage Ausdruck der Tatsache, dass die sicherheitspolitische Diskussion in Europa wieder in Bewegung geraten ist. Die Bewegungsrichtung machen zwei Zitate deutlich. In dem von Javier Solana verantworteten Dokument mit dem Titel "Ein sicheres Europa in einer besseren Welt "1 heißt es:"Als Zusammenschluss von 25 Staaten mit mehr als 450 Millionen Menschen, die ein Viertel des Bruttosozialprodukt (BSP)der Erde erwirtschaften, ist die Europäische Union – ob es einem gefällt oder nicht – ein globaler Akteur. Sie sollte bereit sein, ihren Teil der Verantwortung für die globale Sicherheit zu tragen." In den Verteidigungspolitischen Richtlinien findet sich die Aussage:"Künftige [Bundeswehr-]Einsätze lassen sich wegen des umfassenden Ansatzes zeitgemäßer Sicherheits- und Verteidigungspolitik weder hinsichtlich ihrer Intensität noch geographisch eingrenzen. Der politische Zweck bestimmt Ziel, Ort, Dauer und Art des Einsatzes."

Nichts Geringeres als eine Neubestimmung der sicherheitspolitischen Rolle Deutschlands und Europas steht zur Debatte. Europa als global wirkender sicherheitspolitischer Akteur – das ist der Kern der Diskussion. Zudem wird deutlich, dass sich die Kernfunktion des sicherheitspolitischen Instrumentes Militär weiter zu Auslandseinsätzen und Interventionen ohne geographische Eingrenzung verlagert. Ausgelöst wurde die Debatte zum einen durch die Nachwirkungen der Terroranschläge vom 11.September 2001.Andererseits aber und viel nachhaltiger wirkt die Neuformulierung der US-Außen- und Sicherheitspolitik unter George W. Bush. Nach acht Jahren demokratischer Präsidentschaft setzt Bush wieder dort an, wo sein Vater, George Bush,1992 gezwungenermaßen aufhören musste: Bei der Ausgestaltung einer Weltordnung für die Zeit nach der Bipolarität des Kalten Krieges, einer Weltordnung unter Führung Washingtons – als einziger Supermacht.

Militärische Einsätze zur Verteidigung nationaler Territorien gegen einen klassischen, staatlich geführten Angriff von außen sind auf absehbare Zeit unwahrscheinlich. Die Bundesrepublik ist von Bündnispartnern umzingelt. Weder den NATO- noch den EU-Staaten droht angesichts ihrer weit überlegenen militärischen Fähigkeiten ein solcher Angriff durch einen Staat oder eine Staatenkoalition, der Erfolg versprechend sein könnte. Frühere potentielle, potente Gegner wie Russland haben heute ein wohlverstandenes Eigeninteresse an sicherheitspolitischer Zusammenarbeit, da sie von Kooperation profitieren, unter Konkurrenzbedingungen aber nur verlieren können. Mithin konzentriert sich die Debatte über die Zukunftsaufgaben der Sicherheitspolitik in Deutschland, Europa und der NATO zunehmend auf sicherheitspolitische Restrisiken.

Drei Risikokategorien und möglichen Kombinationen aus ihnen wird besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Dies sind erstens Risiken, die im weitesten Sinne aus Staatszerfall und der teilweisen bzw. vollständigen Aneignung von Funktionen des staatlichen Gewaltmonopols durch nichtstaatliche Akteure resultieren. Es sind zweitens Risiken, die sich aus dem Handeln nichtstaatlicher, transnational tätiger, bewaffneter Akteure, wie zum Beispiel Terroristen, religiöser Extremisten oder auch transnationaler Konzerne ergeben können. Und es sind Risiken, die aus der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche oder nichtstaatliche Akteure erwachsen könnten, da diesen Waffen ein extraordinäres Schadenspotential inhärent ist. Hinsichtlich aller drei Risikokategorien wird von asymmetrischen Risiken gesprochen, da sie keine klassische Kriegsherausforderung, wohl aber Formen der gewaltförmigen Auseinandersetzung zwischen höchst ungleich gerüsteten Gegnern darstellen können. David sucht seine Chance gegen Goliath.

Für diese Risiken gilt – und das machen sowohl die Verteidigungspolitischen Richtlinien als auch die Grundsätze einer sicherheitspolitischen Strategie der Europäischen Union (EU)deutlich – kein Staat kann alleine, auf nationalem Wege, Sicherheit gegen diese Risiken gewährleisten; militärische Mittel sind nicht und schon gar nicht alleine in der Lage, diese Risiken auszuschalten; die bestmögliche Sicherheit kann in multilateraler Kooperation und mittels eines ressortübergreifenden Ansatzes, einer Sicherheitspolitik aus einem Guss, erzielt werden; hundertprozentige Sicherheit ist weder möglich noch – wegen der innenpolitisch--autoritären Nebeneffekte – erstrebenswert und diesen Risiken kann nicht ausschließlich mit Maßnahmen innerhalb eines einzelnen nationalen Territoriums begegnet werden.

Die sicherheitspolitischen Restrisiken werden in den USA und in Europa hinsichtlich ihres Potentials als akute Bedrohung unterschiedlich bewertet. Jenseits des Atlantiks geschieht dies unter dem Vorzeichen der Abwehr gegen den Verlust des Traumes von der Unverwundbarkeit in Form einer Worst-Case-Analyse. In Europa dagegen steht die Reminiszenz an die Debatte über die Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften Pate und deswegen wird das Bedrohungspotential vorrangig unter dem Vorzeichen nicht völlig ausschaltbarer Restrisiken betrachtet.

Hinsichtlich der Eintrittswahrscheinlichkeit dürften – abgesehen von kleinen Einsätzen wie zu humanitären oder Evakuierungszwecken – drei Szenarien die kurz- und mittelfristige Zukunft europäischer Streitkräfteeinsätze bestimmen. Dies sind zum einen friedenserhaltende und friedenserzwingende Maßnahmen, also Einsätze, die im Wesentlichen von einem niedrigen oder mittleren Gewaltniveau gekennzeichnet sind und die der Befriedung aus humanitären Gründen bzw. dem Wiederaufbau in Kriegsregionen dienen. An solchen Einsätzen werden europäische Streitkräfte gleichberechtigt oder auch führend teilnehmen. Zweitens dürften europäische Streitkräfte realistischerweise gelegentlich bei harten Interventionen zum Einsatz kommen, wenn eine Unterstützung der USA aufgrund übereinstimmender Interessen oder eines drohenden, inakzeptabel großen Schadens im transatlantischen Verhältnis politisch geraten erscheint. Hier ist zumeist von einer unterstützenden, nicht- gleichberechtigten Rolle und von einem hohen Gewaltniveau auszugehen. Drittens dürften sie – ebenfalls aus eher politisch- opportunistischen Gründen – dann zum Einsatz kommen, wenn nach US-geführten Interventionen das in Washington ungeliebte Nation-Building ansteht. Dabei ist – je nach Konfliktlage – von einem zunächst eher niedrigen oder mittleren Gewaltniveau auszugehen, wobei sich aber erst im Laufe der Zeit zeigt,ob sich die Lage im Einsatzgebiet stabilisiert oder der Konflikt erneut eskaliert.

Kennzeichnend für dieses Spektrum wahrscheinlicher, militärischer Einsätze ist es, dass zielbedingt sehr unterschiedliche Fähigkeiten gefordert und gefragt sein werden: zum einen zur Deeskalation beitragende, die Lage stabilisierende militärische Fähigkeiten (quasi polizeilicher Natur),zum anderen unter allen Bedingungen durchsetzungsstarke, überlegene, Dominanz- und Eskalationspotential verkörpernde Fähigkeiten.

Mögliche militärische Einsätze dürften von äußerst unterschiedlichen politischen Rahmenbedingungen begleitet sein. Für militärische Stabilisierungsmaßnahmen im direkten Umfeld Europas und europäische Beteiligungen an Maßnahmen der UNO oder der OSZE, die der politischen Interessenslage Europas entsprechen, ist mit politischem Rückhalt zu rechnen. Die europäische Mitsprache und Entscheidungsbefugnis hinsichtlich der Frage, wie mit einer aufkommenden Krise umgegangen werden soll, darf als gesichert gelten. Anders bei der Unterstützung US-geführter Interventionen und bei Nation-Building-Aufgaben nach US-Interventionen: Von Fall zu Fall dürfte sich entscheiden, ob die USA Europa ein Mitspracherecht bei Entscheidungen über Interventionen gewähren oder nicht. Bei Nation-Building-Aufgaben nach US- Interventionen – wie beispielsweise im Irak – stünde gar nur die Frage, ob sich Europa beteiligt oder ob es sich einer Beteiligung entziehen kann.

Die Umstände, unter denen Europa über seine Beteiligung an militärischem Krisenmanagement wird entscheiden müssen, sind also voraussichtlich nicht nur durch die je aktuelle Krise selbst bestimmt, sondern auch durch Anforderungen der USA im Kontext der je aktuellen politischen und militärischen Interessenslage der USA.


Die amerikanische Antwort: Außen-und Sicherheitspolitik unter Bush jr.

Die Außen und Sicherheitspolitik der Bush-Administration wird bisher von Neokonservativen dominiert, die argumentieren, dass die USA sich ihrer Rolle als alleinige Supermacht erst noch bewusst werden und daraus die Konsequenzen ziehen müssen. Es gelte, die Weltordnung so neu zu gestalten, dass diese die Aufrechterhaltung der alleinigen amerikanischen Führung erleichtere und die Herausbildung regionaler Konkurrenten erschwere. Eine deutliche Flexibilisierung der amerikanischen machtpolitischen Handlungsmöglichkeiten sei vonnöten. Ein verstärkter Rückgriff auf das Recht des Stärkeren, das Naturrecht, sei angemessen, weil das Verhältnis der Staaten untereinander anarchisch sei. Nicht Legalität und Recht, sondern Legitimität und Rechtfertigbarkeit rücken in den Vordergrund. Flexiblere Optionen zur Ausübung von Macht werden durch eine aktive Deregulierung der internationalen Beziehungen erreicht. Diese hat verschiedene Formen:

Sie drückt sich in einer Entrechtlichung der internationalen Beziehungen aus. Rechtliche Regeln, die die eigene Handlungsfreiheit einschränken, werden beseitigt (ABM-Vertrag)oder gar nicht erst eingegangen (Internationaler Strafgerichtshof).Praktiziert wird ein Multilateralismus à la carte: Nur Vereinbarungen, die – wie der Nichtverbreitungsvertrag – dem nationalen Interesse dienlich sind, bleiben erhalten.

Mit der Entrechtlichung einher geht eine Politik der Renationalisierung von Entscheidungsbefugnissen und Rechtssetzungsansprüchen .Die Bush-Administration verlagert zentrale politische Entscheidungsbefugnisse von internationalen Institutionen zur nationalen Regierung. Die Entscheidung über den Irakkrieg wurde von New York nach Washington umgezogen.

Die Deregulierung zeigt sich damit auch in einer Devaluierung internationaler Organisationen ,die bisher die Aufgabe hatten, multilateral kollektive Entscheidungsprozesse zu organisieren. Sie werden vor die Wahl gestellt, "freiwillig " zu Erfüllungsgehilfen nationaler Entscheidungen der USA zu werden oder nur noch als potentielle Konsultationsgremien zu dienen bzw. ins Abseits geschoben zu werden. Sowohl die NATO als auch die Vereinten Nationen waren bereits betroffen.

In der Bündnispolitik wird ebenfalls Multilateralismus à la carte praktiziert: die "Coalition of the Willing". Nicht Strukturen, die wie die NATO als Orte gemeinsamer Entscheidungsfindung konzipiert sind, dienen als vorrangiges Instrument multilateraler Absicherung, sondern Ad-hoc-Koalitionen, die sich entlang der nationalen Zielsetzung ergeben bzw. als möglich erweisen. Siehe Donald Rumsfelds "Die Aufgabe definiert die Koalition. Die Koalition definiert nicht die Aufgabe".

Die Bush-Administration verfolgt eine Ausweitung der als legitim erachteten Interventionsgründe .Neben die "humanitäre Intervention " treten die Bekämpfung des Terrorismus und der Proliferation von Massenvernichtungswaffen an staatliche wie an nichtstaatliche Akteure. Das amerikanische Rechtsverständnis ist präzedenzfallorientiert. War Kosovo der Präzedenzfall für eine humanitäre Intervention, so ist Afghanistan jener für die Bekämpfung des Terrorismus und der Irak sollte es für die Bekämpfung der Proliferation sein. Auf Präzedenzfälle kann man sich berufen, wenn es gilt, künftige Interventionen als legitim darzustellen.

Schließlich werden die Umstände, unter denen legitimerweise Krieg geführt werden darf, erweitert: Prävention und Präemption mit militärischen Mitteln wurden in den Kanon politischer Handlungsmöglichkeiten aufgenommen. Dieser Schritt findet seine Analogie in einer Politik, die sich abzeichnende geopolitische Veränderungen oder Krisen nicht abwartet und darauf reagiert, sondern unter dem Vorzeichen, Weltordnung neu zu gestalten, selbst einleitet.

Die Deregulierung der internationalen Beziehungen ist kein Selbstzweck, sondern Schritt und Phase auf dem Weg zu einer den neuen Risiken und Gefährdungen angepassten Ordnung unter dauerhafter Führung der USA. Richard N. Haass, Planungsdirektor im US-Außenministerium, spricht davon, eine Doktrin der Grenzen nationaler Souveränität zu entwickeln, also ein Set von Werten, an das sich Regierungen halten müssen, wenn sie vor Interventionen der internationalen Staatengemeinschaft oder der USA sicher sein wollen. Regierungen müssen Werte wie Demokratie, Menschenrechte, freie Marktwirtschaft, Nichtunterstützung von Terrorismus oder Proliferation gewährleisten. Tun oder können sie das nicht, so darf und muss ein Regime Change erzwungen werden können. Die internationalen Organisationen müssen entweder Instrumente der Implementierung dieser neuen Weltordnung werden oder aber – wenn sie sich dazu unfähig bzw. unwillig zeigen – durch neue, unter Führung Washingtons zu gründende Institutionen abgelöst werden. Ähnliches gilt für das internationale Recht. Es muss angepasst werden oder es verliert seine Bindungskraft.

Ob auf die Phase der Deregulierung der internationalen Beziehungen auch wirklich eine solche Phase der Rekonstruktion folgen wird, lässt sich nicht abschließend beurteilen. Zweifel sind angebracht. Zum einen, weil Glaubwürdigkeit und Konsistenz für die Wertebasierung einer neuen Weltordnung unabdingbare Voraussetzung sind. Beide stehen in Frage, seit die parallele Eskalation der Konflikte um die Massenvernichtungswaffen Nordkoreas und des Iraks Washingtons Politik vor die Frage "Viele Kriege oder viele Standards?" stellte. Auch hinsichtlich der Terrorismusbekämpfung gilt Ähnliches. Zum anderen darf bezweifelt werden, dass die USA über die wirtschaftlichen und militärischen Ressourcen verfügen, um die angedachte neue Ordnung im Alleingang und wo immer nötig militärisch durchzusetzen – das Phänomen der Gefahr imperialer Überdehnung. Würde nur die Deregulierung der internationalen Beziehungen vollzogen, der Aufbau einer Weltordnung auf veränderter Wertebasis aber scheitern, so wäre ein deutliches Weniger an Stabilität und ein deutliches Mehr an zwischenstaatlicher Anarchie die wahrscheinliche Folge. Als Kollateralschaden könnte eintreten, was vorgeblich verhindert werden soll – ein Mehr an Terror und Proliferation. Dies hätte für die USA schwerwiegende Folgen – vor allem aber für Europa, das noch kein einheitlicher Akteur ist, der schnell genug agieren könnte. Es bleibt abzuwarten, ob Washington eine solche Entwicklungsoption als ein Ziel seiner Politik zu erkennen gibt bzw. sie als Mittel einsetzt, um dem Entstehen eines regionalen, europäischen Konkurrenten vorzubeugen.


Zwischen Anspruch und Wirklichkeit – Europäische Antwortversuche

Europa wendete sich der Debatte über eine Anpassung der Weltordnung und der Frage nach seiner eigenen sicherheitspolitischen und militärischen Rolle außerhalb Europas nur langsam zu. Zwar unternahm Frankreich mit der Reaktivierung der WEU und der Initiative zu den Petersberger Aufgaben 2 von 1992 einen Versuch, Europa mit friedensunterstützenden, militärischen Maßnahmen in Unterstützung der UNO und der OSZE ein eigenständiges Handlungsfeld und Profil zu erschließen, doch wurde dieser Versuch durch Öffnung der NATO für das gleiche Aufgabenfeld und durch technische Abkommen zur Anbindung der WEU an die NATO binnen weniger Jahre wieder eingehegt. Fortan galt, dass sich die Europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität innerhalb der NATO herausbilden solle.

Erst die Erweiterung der sicherheitspolitischen Befugnisse der EU durch den Amsterdamer Vertrag und die in diesem Kontext initiierte Idee einer gemeinsamen Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESVP), die letztlich in einer Europäischen Verteidigungspolitik münden soll, bot Ende 1998 erneut Anlass, über Europa als potentiell eigenständigen, sicherheitspolitischen Akteur nachzudenken. Parallel zur Eskalation der Kosovo-Krise zum Krieg entwickelte die EU auf intergouvernementaler Ebene das Konzept für ein autonomes europäisches Krisenmanagement im Rahmen der Petersberg-Aufgaben. Sechs Monate später fielen erste Beschlüsse, dieses Konzept durch entsprechende militärische und nicht-militärische Fähigkeiten zu unterfüttern. Washington versuchte zunächst primär, auch diese Initiative über technische Abkommen mit der NATO einzuhegen. Im Gefolge der Anschläge des 11.September 2001 drängen die USA verstärkt auf ein erweitertes, globales Engagement der NATO bei Interventionen zur Bekämpfung des Terrorismus und der Proliferation. Mit dem Vorschlag einer primär europäischen Eingreiftruppe zur Unterstützung solcher Interventionen (NATO-Response-Force), soll Europa veranlasst werden, die Modernisierung seiner Streitkräfte nach US-Vorbild zu beschleunigen und sich auf die US-Debatte über die Notwendigkeit und Legitimität solcher Interventionen einzulassen. Da solche Einsätze außerhalb der europäischen Konzeption für das Krisenmanagement angesiedelt sind, wurde so zugleich eine Refokussierung Europas auf die NATO eingeleitet. Dieser beschleunigte Prozess verstärkt für die europäischen Staaten die Notwendigkeit, sich auf nationaler und nicht auf europäischer Ebene zu den rechtlich und politisch problematischen Aspekten der veränderten Strategie der USA zu verhalten: Für entscheidende Fragen wie jene, ob ein Mandat der UNO Voraussetzung einer Intervention sein sollte oder ob präventives oder präemptives militärisches Handeln zulässig sein sollte, werden statt einer europäischen viele nationale Antworten gesucht; Antworten, die eine spätere europäische Antwort erschweren, aber auch präjudizieren könnten.

Der Prozess impliziert zudem eine Refokussierung der Diskussion auf die militärische Sicherheitspolitik. Das unterscheidet ihn von der bisherigen Herangehensweise in der EU – der parallelen Entwicklung eines zivilen und eines militärischen Instrumentariums für das Krisenmanagement. Javier Solanas Grundzüge einer europäischen sicherheitspolitischen Strategie halten richtigerweise fest, dass den Restrisiken der Zukunft kaum mit ausschließlich militärischen Mitteln begegnet werden kann und bemerken zu Recht, dass erfolgreichen militärischen Interventionen selten ein erfolgreicher Wiederaufbau folgte. Solana mahnt deshalb den konsequenten Ausbau des zivilen Krisenmanagement-Instrumentariums der EU an. Er fordert ein Zusammenwirken aller sicherheitspolitischen Wirkungsinstrumente:"Die diplomatischen Bemühungen sowie die Entwicklungs-, Handels- und Umweltpolitik sollten derselben Agenda folgen. In einer Krise ist eine einheitliche Führung durch nichts zu ersetzen."

Solanas Papier nennt drei vorrangige Ziele für die Außenpolitik der EU: Erstens müsse Brüssel an Stabilität und funktionsfähigen Regierungen in Europas Nachbarschaft einschließlich des Kaukasus, des Nahen und Mittleren Ostens und Nordafrikas interessiert sein. Zweitens sei Europa an einer Weltordnung interessiert, die auf einem funktionsfähigen, effektiven Multilateralismus beruhe, also auf einer Stärkung der multilateralen Institutionen. Und drittens müsse Europa sich mit den bestehenden alten wie neuen Risiken befassen.

Janusköpfig wird Solanas Papier, wenn es um die militärische Rolle der EU, insbesondere jene jenseits von friedensunterstützenden Maßnahmen geht. Es stellt fest, angesichts der neuen Risiken liege die erste Verteidigungslinie immer häufiger im Ausland. Gefordert wird eine strategische Kultur für frühzeitige, schnelle und wenn nötig robuste Interventionen. Damit steht es im Einklang mit den jüngst verabschiedeten "Grundprinzipien für eine EU-Strategie gegen die Proliferation von Massenvernichtungswaffen ",in denen ebenfalls militärische Interventionen als letztes Mittel offen gehalten werden, mithin eine Tür für präventive militärische Maßnahmen geöffnet wird. Aber eine erkennbare, klare Konzeption für Voraussetzungen, Ziel, Art und Charakter europäischer militärischer Interventionen fehlt. Es wird kein Versuch unternommen, zu klären, unter welchen Bedingungen Europa Streitkräfte einsetzen sollte und unter welchen nicht. Manch wichtige Frage ist ausgeblendet. Zum Beispiel jene nach der Finalität der ESVP oder jene nach dem künftigen Verhältnis von innerer und äußerer Sicherheit. Vor allem aber die Frage nach den Kriterien,die angelegt werden sollten, wenn über ein militärisches Engagement der EU entschieden werden muss. Soll dies entlang des kleinsten gemeinsamen Nenners nationaler Interessenslagen geschehen? Oder entwickelt die EU bindende Voraussetzungen,die gegeben sein müssen, wenn ein militärisches Eingreifen erwogen werden soll? Sind beispielsweise ein UN-Mandat oder klare militärische und politische Zielvorgaben zwingend? Bedarf es klarer Vorgaben für eine Exit-Strategie? Also einen Abbruch der Mission, wenn diese sich als undurchführbar erweist? Sollen präventive oder präemptive militärische Schläge zulässig oder unzulässig sein?

Damit bleiben für die Grundausrichtung der europäischen Sicherheitspolitik entscheidende Fragen vorläufig vertagt oder bewusst unbeantwortet, weil eine Einigung unter den Mitgliedern der EU derzeit nicht möglich ist. Es bleibt offen, ob Europa seine Sicherheitspolitik an die Washingtons anpassen oder auf Basis seiner eigenen Interessen eine eigenständige Politik formulieren will. Bis zum nächsten EU-Gipfel sollen Solanas Grundzüge zu einer sicherheitspolitischen Strategie weiterentwickelt werden. Es darf als so gut wie sicher gelten, dass dabei die Anpassung an Washingtons Vorstellungen – so die Frage präventiver und präemptiver Schläge – eine ganz wesentliche Rolle spielen wird.

Offen bleiben diese Grundfragen auch in den neuen Verteidigungspolitischen Richtlinien. Sie pendeln zwischen den Anforderungen an die deutsche Integration in NATO und EU. Sie geben keine Antwort auf die Frage, ob die Bundeswehr sich an präventiven oder präemptiven Interventionen beteiligen sollte. Sie verzichten auf dezidierte neue Impulse für Charakter und Ausrichtung einer europäischen Sicherheitspolitik.

Wunsch und Wirklichkeit klaffen in Europa nicht zuletzt deshalb oft weit auseinander, weil nicht rechtzeitig über entscheidende Fragen diskutiert wird.Notwendige Debatten werden blockiert, weil schon das Diskutieren als Präjudiz hinsichtlich des Zieles oder Zeitplans erachtet werden könnte oder dazu zwänge, Positionen zu beziehen, die die tagespolitische Flexibilität nationaler Regierungen einschränken könnten. Die Stärkung der intergouvernementalen Zusammenarbeit gegenüber der vergemeinschafteten, die sich im Verfassungsentwurf des Europäischen Konvents spiegelt, wird diese Tendenz voraussichtlich weiter verstärken.

Betrachten wir zum Schluss – partiell unabhängig von den kurzfristigen Realisierungschancen – die Frage, wie eine europäische Sicherheitspolitik der Zukunft eigentlich aussehen müsste.

Europa ist – wenn die bereits erreichte Integration nicht wieder zur Disposition gestellt werden soll – langfristig auf dem Weg, ein einheitlicher Staat, zumindest aber ein einheitlicher (sicherheits)politischer Akteur zu werden. Dies erfordert, dass die EU in allen Souveränitätsfragen bereits heute agieren müsste, als sei das Endstadium der Integration bereits erreicht. Souveränitätsverzicht wird nur auf Gegenseitigkeit geübt – auch gegenüber der NATO oder den USA.

Europas Interessen sind nicht identisch mit denen der USA. Übereinstimmung und Gemeinsamkeiten überwiegen, es gibt aber auch gravierende Unterschiede. So muss Europa an Multilateralismus und kooperativer Multipolarität ebenso interessiert sein wie an einer weiteren Verrechtlichung der internationalen Beziehungen und an einer Stärkung internationaler Regime und Institutionen. Europa muss ein Interesse haben, dass auf Krisen frühzeitig und mit vorrangig nichtmilitärischen Mitteln reagiert wird, nicht aber spät und mit vorrangig militärischen Instrumenten. Und es muss ein Interesse haben, darüber, wie auf Krisen und Konflikte reagiert wird, auch gegenüber Washington ein Mitentscheidungsrecht zu haben. Dies setzt voraus, dass Europa bei der Gestaltung von Weltordnung verantwortlich mitwirkt und glaubwürdige Fähigkeiten besitzt, um dies zu tun. Sicherheitspolitik ist eine Gestaltungsaufgabe.

Die Stärken der europäischen Fähigkeiten liegen im zivilen Bereich, in der Fähigkeit zu sozialer, politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Intervention. Um diese zu Geltung und Wirkung zu bringen, muss Europa sich frühzeitig in Krisen engagieren. Der Früherkennung von gewaltförmigen Konflikten und der Gewaltprävention muss aus europäischer Sicht Vorrang vor der Eindämmung und Einhegung von Gewalt zukommen. Der Gewalteindämmung und -einhegung wiederum muss Vorrang vor der Bekämpfung von Gewalt mit Gewalt, d.h. vor Interventionen, zukommen. Glaubwürdige militärische Mittel können Europa als letztes Mittel dienen, um andere Formen des Konfliktmanagements abzusichern, sind aber kein Selbstzweck und können aufgrund des Charakters der sicherheitspolitischen Restrisiken nicht primäres Mittel europäischer Wahl sein. Sie können weder die Risiken, noch die Ursachen für deren Entstehung ausschalten. Prävention und Präemption müssen feste Bestandteile einer künftigen europäischen Sicherheitspolitik sein –mit nichtmilitärischen Mitteln. Damit Europa seine Stärken ausspielen kann, darf die EU nicht länger darauf verzichten, die globale Tagesordnung mitzubestimmen. Sie muss Zukunftskonflikte und Zukunftsrisiken benennen, Wege und Mittel zum Umgang mit ihnen vorschlagen. Bis heute reagiert Europa meist.

Und so unangenehm es auch für manchen klingen mag: Ein Mitentscheidungsrecht über den Umgang mit künftigen Krisen und Konflikten wird sich Europa in Washington nur sichern können, wenn es begrenzte, aber glaubwürdige eigene Mittel zur Mitwirkung bei militärischen Handlungsoptionen besitzt. Solche Mittel zu besitzen, heißt nicht, sie auch einzusetzen. Es impliziert, sie als letztes Mittel einsetzen zu können. Es impliziert aber auch die Möglichkeit, den Einsatz abzulehnen und damit dem Drängen auf eine nichtmilitärische Lösung höhere Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Mithin: Wenn Europa seine Stärken wirklich zur Geltung bringen will, dann steht es vor der Herkulesaufgabe einer dreifachen Integration, mit der es seine sicherheitspolitischen Gestaltungsinstrumente effizienter und wirksam machen muss: Integriert werden müssen erstens die nationalen Politiken, zweitens die vergemeinschafteten und intergouvernementalen Aspekte der europäischen Zusammenarbeit und drittens die möglichen Gestaltungsmittel und Wirkungsinstrumente. Ziel muss eine europäische Sicherheitspolitik aus einem Guss sein: von humanitärer Hilfe und Sanktionen über Entwicklungspolitik, Außenwirtschaftspolitik, internationaler Finanzpolitik, Rüstungsexport, Diplomatie, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung bis hin zu den Mitteln des zivilen und militärischen Krisenmanagements.

Niemand konnte erwarten, dass es der EU aus dem Stand gelingen würde, innerhalb weniger Wochen ein stimmiges Gegenstück zur Nationalen Sicherheitsstrategie der USA zu entwickeln. Um dieses Dokument zu schreiben, benötigte Condoleezza Rice mit ihrem Team rund 20 Monate. Die EU braucht ihre ureigene, an den eigenen Stärken und Fähigkeiten orientierte Sicherheitsstrategie. Diese darf nicht in den Fehler verfallen, die Ansätze Washingtons zu kopieren. Sie muss asymmetrisch auf die Fähigkeiten und Stärken Europas ausgerichtet sein, will Europa ein wichtiger Partner der USA bleiben. Sonst würde Europa schlicht Standbein und Spielbein verwechseln und das Projekt einer europäischen Sicherheitspolitik wäre gescheitert.


ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).

 
1 Vgl."Dokumente zum Zeitgeschehen " in diesem Heft..– D..Red.
2 Auszüge dokumentiert in:"Blätter ",8/1992,S.1020-1022.– D..Red.