Will Bush
neue Atomwaffen entwickeln? Gerhard Piper
Kommt es zu einer Wende in der amerikanischen Atomwaffenpolitik? Bisher gilt noch die Formel, daß die USA keine neuen Nuklearwaffen entwickeln, sondern alte Systeme lediglich modernisieren. Aber schon fordern republikanische Politiker im US-Kongreß die Entwick-lung neuer Nuklearbomben. Es sind Atomwaffen niedriger Sprengkraft, die vor der Detonation in den Erdboden eindringen sollen, um gegnerische ABC-Waffen in unterirdischen Depots zu zerstören. Bisher hat US-Präsident George W. Bush seinen Parteifreunden noch nicht offiziell zugestimmt, aber schon gibt es im Weißen Haus Überlegungen, den seit zehn Jahren andauernden Atomteststop aufzuheben. Ist es daher nur noch eine Frage der Zeit, wann die US-Regierung die Produktion neuer Atomwaffen aufnehmen wird? Dann würden - zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges - wieder ein atomares Wettrüsten und neue Spannungen in den internationalen Beziehungen drohen. Die USA haben seit den achtziger Jahren keinen neuen Atomsprengkopf mehr konstruiert. Noch lautet die offizielle Nuklearpolitik, es werden keine neuen Atomwaffen mehr konstruiert, sondern "nur" alte Nuklearwaffen modernisiert. Da eine Modernisierung von einer Neuentwicklung nicht immer klar zu trennen ist, läßt diese Formel im Einzelfall eine Hintertür für jedwede Entscheidung offen. Beispielsweise hat das US-Verteidigungsministerium von der Wasserstoffbombe B-61 von 1966 bis 1997 elf verschiedene Versionen produziert. In der aktuellen US-Debatte geht es um die Frage, ob Atomwaffen mit geringer Sprengkraft (low yield), sogenannte Mini-Nukes, entwickelt werden sollen. Mini-Atomwaffen sind an sich keine neue Erfindung, denn schon die Atomminen der sechziger Jahren gehörten zu dieser Waffenkategorie. Neu ist, daß die Mini-Atomwaffen diesmal als earth penetrator ausgelegt werden sollen: Wenn eine solche Bombe auf der Erde aufprallt, zünden Raketenmotoren, die die Bombe in den Boden treiben, und erst dann ein Verzöge-rungszünder die Detonation auslöst. Mit diesen Spezialwaffen werden unterirdische Bunkeranlagen, die als Führungszentrum oder ABC-Waffendepot dienen, angegriffen. Daher werden diese Bomben auch Bunker Buster genannt. Ein Angriff auf einen Bunker, in dem ABC-Waffen gelagert werden, ist immer ein überaus heikles Unterfangen. Bisher hat die US-Luftwaffe hierfür Bomben mit konventionellem Sprengstoff wie die GBU-28/B und die AUP-1 einsetzen. Aber die US-Angriffe auf den Irak (zuletzt Operation DESERT FOX im Dezember 1998) haben wiederholt gezeigt, daß die Sprengkraft solcher konventionellen Waffen doch zu schwach ist, um verbunkerte Ziele vollständig zu zerstören. (1) Sollte ein ABC-Depot bei einem Angriff nur teilweise beschädigt werden, könnte irrtümlich biologischer Kampfstoff oder Giftgas entweichen und die Zivilbevölkerung sowie die eigenen Truppen bedrohen, wie dies beim sogenannten Golfkriegssyndrom als eine mögliche Ursache angenommen wird. Der einzige effektive "Bunkerknacker" der USA ist die Wasserstoffbombe B61-11 ("The Duck"). Der Nuklearteil dieser Wasserstoffbombe wurde unverändert von der älteren B61-7 übernommen und mit einem Hochleistungsstahlbehälter ummantelt, der sich in die Erde "bohrt". Die Sprengkraft ist variabel einstellbar auf 10 bis 340 Kilotonnen (Hiroshima-Bombe = 12,5 Kt). (2) Da die Wasserstoffbombe B61-11 erst fünf Jahre nach Verhängung des Atomteststopps entwickelt wurde, wurde sie nie getestet. Dies war auch nicht nötig, da ja ihr Inneres aus dem bereits erprobten Nuklearelement der B61-7 besteht. Die Bombe wurde im November 1997 in Dienst gestellt. Bis heute wurden von der B61-11 nur 45-50 Exemplare gebaut, die auf dem Fliegerhorst Whiteman gelagert werden. Hier ist das 509. Bombergeschwader mit seinen 20 B-2A stationiert, die nach dem Willen von Verteidigungsminister Donald Rumsfeld noch um weitere vierzig Bomber ergänzt werden sollen. (3) Bei einem Einsatz gegen ein ABC-Depot vernichtet die B61- 11 alle gegnerischen Massenvernichtungswaffen durch ihre Hitzeentwicklung vollständig. Ihr Nachteil besteht darin, daß sie keine Mini-Nuke ist, sondern über die herkömmliche Sprengkraft verfügt. Bei einem Angriff mit einer B61-11 würde die Zivilbevölkerung zwar nicht durch freigesetztes Giftgas getötet werden, dafür aber durch den Atompilz. Nun wird darüber spekuliert, ob nach der elften Version der B61 jetzt die erste Variante einer kleineren B62 entwickelt werden soll. US-Wissenschaftler fordern die Entwicklung einer Uran-Bombe mit einer Sprengkraft von rund 1 Kt, bei deren Einsatz Kollateralschäden eingedämmt werden könnten. Dadurch seien die Bomben "gebrauchsfähiger". Anders ausgedrückt: durch solche Waffen sinkt die Hemmschwelle für den Nuklearwaffeneinsatz. Die Bombe soll aber nicht nur kleiner sein, sondern über eine größere Penetrationskraft verfügen. Die alte B61-11 kann bis zu sechs Meter in den Boden eindringen und durch ihre Sprengenergie Bunker bis zu einer Tiefe von 100 Metern zerstören. (4) Jetzt will man unterirdische Militäranlagen angreifen, die bis zu 300 Meter weit in Berggestein gehauen wurden. (5) Offen bleibt die Frage, wieviele Bunker es weltweit überhaupt gibt, die bis zu einer solchen Tiefe vorgetrieben wurden. Als mögliches Ziel nannte der frühere Staatssekretär im Pentagon, Harold P. Smith, beispielsweise den Tarhunah-Komplex in Libyen, wo angeblich chemische Waffen unterirdisch produziert werden. (6) Allerdings ist zweifelhaft, ob die earth penetrator tief genug in den Boden eindringen können, damit keine Radioaktivität in die Umgebung gelangt. Über die notwendige Minimaldistanz gehen die Schätzungen weit auseinander. Bei einem Gefechtskopf von 1 Kt halten die Befürworter solcher Minibomben 50 Metern für ausreichend; demgegenüber hält Robert Nelson, Physiker von der Universität in Princeton, in seiner Studie ("Low-Yield Earth Penetrating Nuclear Wea-pons") 130 Meter für geboten. (7) Auch eine nukleare Mini-Bombe ist schließlich eine Atombombe, die tausende von Toten und Verletzten fordern wird. Wenn in den USA zur Zeit über neue Mini-Nukes debattiert wird, dann ist immer eine Verwendung als Bunker Buster gemeint. Zumindest theoretisch sind aber auch noch andere Anwendungen denkbar: Wenn die Versuche zum Aufbau eines Raketenabwehrsystems letztendlich erfolglos verlaufen sollten, die US-Regierung aber unbedingt an diesem Rüstungsprojekt festhalten will, dann könnten die Abfangraketen beispielsweise mit einer Mini-Atombombe statt mit einem konventionellen Sprengkopf bestückt werden. Dessen Zerstörungsradius würde in jedem Falle ausreichen, um in 220 km Höhe jeden angreifenden Raketengefechtskopf zu treffen. (8) Counterproliferation-Strategie In aktuellen Militärdokumenten wird immer wieder die Gefahr beschworen, die von der zunehmenden Verbreitung der ABC-Waffen ausgeht. So heißt es im NATO-Strategiepapier vom 23. April 1999: "Einige Staaten, darunter solche an der Peripherie des Bündnisses und in anderen Regionen, verkaufen oder verschaffen sich ABC-Waffen und Trägermittel bzw. versuchen, sie sich zu beschaffen. Güter und Technologien, die zur Herstellung dieser Massenvernichtungswaffen und ihrer Trägermittel genutzt werden könnten, werden gängiger, während die Aufdeckung und Verhinderung des illegalen Handels mit diesen Materialien und dem dazugehörigen Know-how weiterhin schwierig ist. Nichtstaatliche Akteure haben sich als fähig erwiesen, einige dieser Waffen herzustellen und einzusetzen." (9) Insbesondere die US-Militärs gehen davon aus, daß im nächsten Krieg der Gegner über solche Waffen verfügen könnte, wie dies schon im Golfkrieg 1991 der Fall war. Gleichzeitig stellen sie fest, da keine konventionellen bunker buster vorhanden sind, kann ein solcher Angriff nur mit Nuklearwaffen durchgeführt werden. Dies gelte auch dann, wenn der Gegner "nur" über biologische oder chemische Waffen verfüge, nicht aber über Nuklearwaffen. Dabei hatten die USA früher in Rüstungskontrollverhandlungen immer versichert, sie würden keine Atomwaffen gegen einen Staat einsetzen, der selbst keine Nuklearwaffen besitzt. Stattdessen heißt es heute, einen solchen Gegner könnten die US-Streitkräfte nicht ausschließlich mit konventionellen Waffen bekämpfen. Daher sei ein Einsatz von US-Atomwaffen erlaubt. So forderte der Vereinigte Generalstab der US-Streitkräfte bereits 1995 in seiner Nukleardoktrin für den Einsatz von Nuklearwaffen "kleinerer Sprengkraft" gegen Schwellenländer: "Der Gebrauch von Massenvernichtungswaffen gegen US-Truppen hätte entscheidende taktische und operative Verluste zur Folge, würde den Charakter des Krieges stark verändern, den Erfolg gefährden und die Gefahr einer Eskalation heraufbeschwören und die USA vor eine schwere Entscheidung stellen: zu vergelten oder nicht. Eine selektive Fähigkeit, (Atom-) Waffen kleinerer Sprengkraft zur Vergeltung einzusetzen, ohne den Konflikt zu destabilisieren, ist eine nützliche Entscheidungsoption für den amerikanischen Präsidenten." (10) Während hier noch unklar war, ob die US-Generäle nur an Vergeltungs- oder auch an Präventivangriffe dachten, stellten sie in einem anderen Dokument 1996 ohne Umschweife fest: "Operationen müssen mit dem Ziel geplant und ausgeführt werden, die gegnerischen Trägersysteme für Massenvernichtungswaffen und die unterstützende Infrastruktur zu zerstören oder auszuschalten, bevor diese gegen die eigenen Kräfte zum Einsatz kommen können. Aus diesen Gründen sollten offensive Operationen gegen feindliche Massenvernichtungswaffen und deren Trägersysteme unternommen werden, sobald die Feindseligkeiten unausweichlich erscheinen oder beginnen." (11) Eine solche Politik präventiver Angriffe muß sich in jeder Krisensituation destabilisierend auswirken. Andererseits würde man vor einem solchen Angriff selbst zurückschrecken, wenn nur Kernwaffen mit großer Sprengkraft wie die B61-11 verfügbar sind. Daher fordern US-Politiker den Bau von Mini-Atombomben, die höchstens ein Zehntel der bisherigen Detonationsstärke haben. Obwohl mit diesen Bomben die Gefahr eines Nuklearkrieges steigt, versuchen Politiker sie gegenüber der Öffentlichkeit mit dem Hinweis zu rechtfertigen, ihr Einsatz würde weniger Kollateralschäden verursachen. Service für Atombomben: Stockpile Stewardship Die USA verfügen zur Zeit über 18.000 Atomsprengköpfe verschiedener Typen. Die Produktion, Lagerung und Entsorgung dieser Nuklearwaffen liegt in der Amtsgewalt des (zivilen) US-Energieministeriums. Um dieses Arsenal trotz Entwicklungs- und Testverbot auf Dauer einsatzbereit zu halten, betreibt das Energieministerium das Stockpile Stewardship Program. Dieses Programm erfüllt zwei Hauptfunktionen: 1. Es dient der technischen Zuverlässigkeit und Sicherheit der vorhandenen Atomwaffen. Jede Nuklearwaffe wird in bestimmten Abständen gewartet. 2. Das Programm dient der Modernisierung der US-Atomwaffen, indem es die Funktionsfähigkeit von Neukonstruktionen gewährleistet. In beiden Fällen erfolgt die Überprüfung durch Computersimulationen statt durch reale Atomtests. In der Vergangenheit wurde nur ein geringer Anteil aller Atomversuche (ca. 5 Prozent) durchgeführt um die Funktion älterer Atomwaffen zu überprüfen. Mit dem Stockpile Stewardship Program glaubt das US-Verteidigungsministerium, eine Alternative zu Atomtests gefunden zu haben, indem die bereits vorhandenen nuklearphysikalischen Kenntnisse und Erfahrungen aus 60 Jahren Atomwaffenentwicklung und über 1000 Nukleartests entsprechend genutzt werden. Ob die Erwartungen, die an das Stockpile Stewardship Program geknüpft werden, sich wirklich erfüllen, scheint zweifelhaft, da über den Alterungsprozeß von Kernsprengkörpern nur zeitlich begrenzte Erfahrungen vorliegen. Das Programm kostet jährlich rund 5 Mrd. Dollar. (12) Unabhängig davon, ob es zur Entwicklung neuer US-Nuklearwaffen kommt oder nicht, die alten Systeme müssen periodisch durch fabrikneue Nachbauten ersetzt werden, denn die technische Lebensdauer solcher Waffen ist beschränkt. Für den metallenen Bombenkörper und seine Zündelektronik wird eine Garantiezeit von vielleicht 12 Jahren angeben, für das darin enthaltene Nuklearmaterial 25 bis 30 Jahre. Letztendlich müssen alle vorhandenen Kernsprengköpfe früher oder später ersetzt werden: Das nukleare Material innerhalb der Bombe strahlt ständig durch seinen natürlichen radioaktiven Zerfall subatomare Partikel aus, die die umgebenden Metallteile korrodieren. Außerdem sind die modernen Plutoniumwaffen mit dem Edelgas Tritium gefüllt, das den Neutronenfluß beschleunigen soll. Allerdings entweicht dieses flüchtige Gas im Verlauf der Jahre und muß daher nachgefüllt werden. Das Durchschnittsalter der US-Atomwaffen liegt bei 18 Jahren. Demnächst sollen die B61-Gefechtsköpfe technisch überholt werden. (13) Auch für andere Waffensysteme gibt es "Lebensverlängerungsprogramme" (Stockpile Life Extension Program). Solche Wartungsarbeiten stoßen auf Schwierigkeiten, weil oftmals die Lagerbestände an Ersatzteilen für ältere Atomwaffentypen aufgebraucht sind, manchmal existieren nicht einmal mehr die Firmen, die die Originalteile früher einmal produzierten. In den nächsten sechs Jahren können sich die Atomwaffenlabors und die Nuklearindustrie, deren sanierungsbedürftige Betriebe teilweise noch aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs stammen, über Investitionen allein zur Modernisierung der Infrastruktur in Höhe von sechs Milliarden Dollar freuen. (14) Schon heute gibt das Los Alamos National Laboratory, eines der beiden Konstruktionsstätten für US- Nuklearwaffen, doppelt soviel Geld aus, wie am Ende des Kalten Krieges. (15) Darüberhinaus gibt es mehrere Hinweise, daß die USA ihre Produktion von Nuklearwaffen - sei es für den Nachbau alter Systeme oder die Entwicklung neuer Typen - ausbauen wollen: Vor Jahren wurde die letzte Tritiumanlage stillgelegt, aber nun erwägt der Kongreß den Bau zweier neuer Anlagen. Vorgesehen sind die Atomkraftwerke Watts Bar and Sequoyah der Tennessee Valley Authority. (16) Im Haushalt des US-Energieministeriums für das Jahr 2001 ist eine erste Rate von 68 Millionen Dollar vorgesehen, mit der Fertigstellung kann im Jahre 2006 gerechnet werden. (17) Um die Energieprobleme zu lösen, hat Vizepräsident Dick Cheney einen Plan zur Wiederaufarbeitung abgebrannter Brennstäbe vorgelegt. Eine solche Wiederaufarbeitung hat es in den USA nicht mehr gegeben, seit der frühere Präsident Jimmy Carter 1977 mit der Präsidentendirektive Nr. 8 ein entsprechendes Verbot erließ. Militärisch ist die Wiederaufarbeitung von Bedeutung, weil dadurch waffenfähiges Uran bzw. Plutonium gewonnen werden können. (18) Außerdem hat das Energieministerium in diesem Jahr mit der Planung einer Fabrik begonnen, in der dieses radioaktive Material eines Tages zu Nuklearladungen für Atomwaffen weiterverarbeitet werden kann. (19) Damit soll die jährliche Produktionsrate dieser Kernladungen von 20 auf 50 und später weiter erhöht werden. (20) Wie sollen sich diese Aufwendungen rentieren, wenn angeblich immer nur alte Kernwaffen modernisiert werden sollen, oder ist etwa mehr geplant? Recht auf Arbeit für arbeitslose Atombombenbauer? Der Beginn der Debatte über eine mögliche Entwicklung neuer US-Atomwaffen läßt sich genau datieren. Am 27. Juni 2000 veröffentlichte Stephen M. Younger einen Aufsatz über die Rolle der Nuklearwaffen im 21. Jahrhundert, in dem er die Entwicklung von Mini-Nukes innerhalb der nächsten zwanzig Jahre forderte. (21) Younger handelte nicht uneigennützig, schließlich ist er Stellvertretender Direktor für Atomwaffenentwicklung in Los Alamos. Während die Atombombenbauer keine Skrupel haben, daß durch ihre Arbeit eines Tages ganze Kontinente ausgerottet werden, sind sie, was ihre eigenen Berufsperspektiven angegeht, sehr empfindlich. Nachdem ihr Sozialprestige seit dem Ende des Kalten Krieges gesunken ist, sehen sie heute die Zukunft ihres ganzen Berufsstandes bedroht: (22) In den USA gibt es kaum 50 Personen, die in der Lage sind, eine Atombombe komplett zu konstruieren. (23) Ein Teil dieser Spezialisten ist bereits pensioniert, der Rest ist größtenteils über fünfzig Jahre alt. Wenn auch diese in Rente gegangen sind, bleiben diejenigen übrig, die den Bau von Atomwaffen nur noch "virtuell" auf Grund von Computersimulationen vornehmen (können). Um der Nachfolgegeneration alle Geheimnisse beim Bombenbasteln zu vermitteln, hat Los Alamos eine eigene Schule zur Ausbildung von Atombombenbauern aufgebaut, das Theoretical Institute for Thermonuclear and Nuclear Studies (Titans). Rund zwölf Physikdoktoren erhalten hier einen zweijährigen Fortbildungskurs. Nur jede zweite offene Stelle in den Atomwaffenlabors kann heute mit einem Nachwuchswissenschaftler besetzt werden, denn die haben in der Computerindustrie viel bessere Verdienstmöglichkeiten und scheuen die rigiden Geheimhaltungsregeln. Als Lehrer hat man längst pensionierte Kollegen wieder ins Berufsleben zurückgeholt, wie z. B. John Richter, der früher Chefkonstrukteur war und 42 Atomwaffentypen entworfen hat. Die se Veteranen sollen ihre Spezialkenntnisse an die nächste Generation weitergeben, denn ohne Atombombenkonstrukteure gibt es keine Konstruktion neuer Atombomben. (24) Umgekehrt sichert die Entwicklung einer neuen US-Atomwaffe den Atombombenbauern ihre Arbeitsplätze. Auch das Stockpile Stewardship Program kann nicht darüber hinweg täuschen, daß die militärische Nuklearphysik bis heute nicht voll beherrschbar ist. Wie die Konstrukteure erzählen, liegen die Tücken einer Atombombenkonstruktion oft im Detail: Gerade minimale Änderungen am Bauplan entscheiden oft darüber, ob eine Bombe tatsächlich funktioniert oder bloß "verpufft". Manch ausgeklügelter Bauplan funktioniert in der Praxis nicht, andere Bomben explodieren wider Erwarten doch. (25) Aufrüstung trotz Abrüstungsverpflichtung? Nicht ohne Grund geht der möglichen Entscheidung zum Bau neuer Nuklearwaffen eine ausgiebige Debatte voran, bei der die Meinung der Öffentlichkeit abgefragt und beeinflußt werden soll. Schließlich gibt es für die Entwicklung neuer Atomwaffen juristische Beschränkungen: Im Jahre 1994 verabschiedete der US-Kongreß auf Antrag der republikanischen Abgeordneten Elizabeth Furse und John M. Spratt ein Gesetz, das die Produktion von Nuklearwaffen mit einer Sprengkraft von weniger als 5 Kilotonnen verbietet, weil durch Atomwaffen von niedriger Sprengkraft die Grenze zwischen konventionellen Bomben und kleinen Atombomben "verwischt" würde. Durch die Gesetzesinitiative wurde schon damals ein Rüstungsprojekt der US-Luftwaffe, das Precision Low-Yield Weapon Design, gestoppt. Aber mittlerweile haben sich die US-Politiker anders besonnen. Auf Antrag der US-Luftwaffe ergriffen die beiden republikanischen Abgeordneten John Warner und Wayne Allard die Initiative, und der Kongreß verabschiedete einen Zusatzartikel zum neuen Verteidigungshaushaltsgesetz für das Haushaltsjahr 2001, in dem für den Bereich der Mini-Nukes eine Machbarkeitsstudie gefordert wird. Dies beinhaltet nach einem Bericht des parlamentarischen Verteidigungsausschusses "begrenzte Forschungen und notwendige Entwicklungen". (26) Zum 1. Juli 2001 sollte der Bericht vorgelegt werden. (27) Eine zweite, rechtlich bindende Verpflichtung ergibt sich aus dem Atomwaffensperrvertrag (Non Proliferation Treaty -NPT). Darin haben sich die USA ausdrücklich zur atomaren Abrüstung verpflichtet und dies bei der NPT-Überprüfungskonferenz im Mai 2000 in New York nochmals bestätigt. Mit der Entwicklung einer neuen Atomwaffe zehn Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges versucht die US-Regierung, den Nuklearwaffen auf Dauer eine Existenzberechtigung im amerikanischen Militärarsenal zu sichern. Sollte eine neue Atomwaffe entwickelt werden, würde sie wahrscheinlich auch getestet. Die USA haben aber seit 1992 keinen Atomtest mehr durchgeführt. (28) Vizepräsident Dick Cheney und Verteidigungsminister Donald Rumsfeld haben bereits erklärt, sie könnten sich durchaus vorstellen, gelegentlich mit alten Atomwaffen Nukleartests durchzuführen, um deren Funktionsfähigkeit zu überprüfen. Demgegenüber hält Präsident Georg W. Bush junior noch am US-Testmoratorium fest, das sein Vater damals erlassen hatte. (29) Allerdings hat die US-Regierung eine Studie zur Überprüfung der Einsatzbereitschaft der Nevada Test Site bei Las Vegas für zukünftige Atomtests in Auftrag gegeben. Während man bisher davon ausgeht, daß die Wiederinbetriebnahme dieses Testgeländes mindestens drei Jahren dauern würde, soll die Studie klären, wie Nuklearversuche bereits nach drei Monaten durchgeführt werden können, sollte die Entscheidung für neue Atomtests einmal gefallen sein. (30) Durch die Wiederaufnahme von Tests ergäben sich für die US-Regierung zwar keine juristischen Probleme, sie wäre aber politisch höchst brisant. Ein Abkommen über einen vollständigen Teststopp (Comprehensive Test Ban Treaty -CTBT) war 1996 zwischen den Atommächten ausgehandelt worden, konnte aber bisher nicht in Kraft treten, weil der US-Kongreß am 13. Oktober 1999 eine Ratifizierung des Vertrages mit 51 zu 48 Stimmen verweigerte. (31) Demgegenüber wurde der Vertrag von 77 Nationen ratifiziert, darunter Großbritannien, Frankreich und Rußland. Zwar hält die US-Administration das Testverbot ein, aber nun will US-Präsident Bush den Vertrag endgültig ad acta legen. (32) Da der CTBT nicht ohne die Zustimmung der USA in Kraft treten kann, wäre damit das weltweite Teststoppabkommen endgültig gescheitert. Wenn die Amerikaner stattdessen ihre Atomtests wiederaufnehmen, könnten andere Atomwaffenstaaten und Schwellenländer diesem Beispiel folgen. Der Sprecher des russischen Außenministeriums Alexander Yakovenko sieht dadurch das weltweite Non-Proliferationsregime gefährdet. (33) Nach dem ABM-Vertrag zur Begrenzung der Raketenabwehr sind nun auch der CTBT und der NPT unter Druck - anscheinend haben sich in der US-Administration die republikanischen Falken durchgesetzt, für die jedes internationale Rechtsabkommen nichts anderes ist, als ein Eingriff in die nationale Souveränität. Bush rüstet ab und auf Der derzeit gültige Kriegsplan SIOP 00 (SIOP = Single Integrated Operational Plan) wurde von der Clinton-Administration im Oktober 1999 erlassen. Jederzeit kann der US-Präsident mit dem RED DOT-Einsatzbefehl einen Nuklearkrieg auslösen. (34) Während 1995 die SIOP-Zielliste auf weltweit 2500 Objekte reduziert worden war, hat sich deren Zahl in den letzten Jahren wieder erhöht: Rund 3000 Ziele sind heute im Visier, davon befinden sich 740 Objekte außerhalb Rußlands. (35) Zur Zeit läßt die neue US-Regierung die gesamte Nuklearpolitik der USA einer Überprüfung unterziehen. Allerdings ist Skepsis angebracht, ob der Nuclear Posture Review, der in der zweiten Jahreshälfte 2001 fertiggestellt wird, die an ihn gestellten Erwartungen erfüllen kann. Zur Zeit haben die USA ungefähr 18.000 Nuklearwaffen, von denen 8.820 im aktiven Dienst bei den Militäreinheiten sind, darunter befinden sich 7.150 strategische und 1.670 taktische Systeme. (36) Zusätzlich verfügen die USA über einen Bestand von 12.000 Plutoniumkugeln. Das sind die Nuklearladungen im Innern der Atombomben, die als Hohlkugeln produziert werden, um sie nach dem Implosionsprinzip zünden zu können. Diese sogenannten pits lagern auf dem Gelände der US-Atomwaffenfabrik Pantex Plant im texanischen Amarillo. Zwei Drittel der pits stammen aus verschrotteten Nuklearwaffen, die restlichen 4000 Stück sind neu und können als Kernladung in Waffensysteme eingebaut werden. (37) Gemäß dem START I-Abkommen müssen die USA ihr Nukleararsenal bis Dezember 2001 auf 6000 Atomgefechtsköpfe reduzieren, die START II-Absprachen sehen dann eine weitere Verringerung auf 3500 Stück vor, und bezüglich START III haben Clinton und Jelzin eine Höchstgrenze von 2.500 Exemplaren vereinbart. (38) Während George W. Bush die Entwicklung eines Raketenabwehrsystems (Mid-course Defense Segment, vormals: National Missile Defense System) im strategischen Defensivbereich forciert, hat er zugleich angekündigt, die Offensivsysteme weiter zu reduzieren. Er erklärte, die USA "können und wollen den Umfang, die Zusammensetzung und den Charakter unserer Nuklearstreitkräfte ändern". (39) Noch hat Präsident Bush keine klaren Angaben zum Umfang seiner Reduzierungsabsichten gemacht. Dessen ungeachtet kündigte Verteidigungsminister Rumsfeld im Juni 2001 an, die US-Regierung werde die verbliebenen 50 MX-Interkontinentalraketen vorzeitig verschrotten, um Kosten zu sparen. (40) Dennoch werden die USA am Ende ein riesiges Overkill-Arsenal behalten. Wie das Natural Resources Defense Council in Washington errechnete, würde ein amerikanischer Angriff mit den 192 W-88-Sprengköpfen eines einzigen Trident II-U-Bootes gegen die Städte im europäischen Teil Rußland 48 Millionen Tote zur Folge haben; um die Bundesrepublik Deutschland vollständig zu vernichten, wären 33 dieser Kernsprengkörper (eine Rakete ist mit acht Sprengköpfen bestückt) völlig ausreichend. (41) Eine Reduzierung des Gesamtpotentials schließt die gleichzeitige Modernisierung von Teilen des Atomarsenals nicht aus. Die noch vorhandenen Trident I-U-Boot-Raketen mit ihren Sprengköpfen W-76 sollen durch die stärkeren Trident II-Systeme mit W-88-Köpfen ersetzt werden. Die bereits eingesetzten W-88 werden in diesem Jahr für 38 Millionen Dollar technisch überholt. (42) Im Rahmen des Submarine Warhead Protection Program sind für den Gefechtskopf W-88 ab 2004 zwei Modernisierungsmaßnahmen vorgesehen. (43) Erste Planungen für eine Trident III und eine Minuteman IV-Interkontinentalrakete werden im Pentagon angestellt. (44) Von 1945 bis heute haben sich die USA ihre Atomwaffen rund sechs Billionen Dollar kosten lassen. Allerdings gibt es erste Widerstände von seiten der Militärs. Auf der einen Seite richten sie sich gegen die Absicht des US-Präsidenten, umfangreiche Reduzierungen bei den strategischen Nuklearwaffen vorzunehmen. Ohne George W. Bush direkt anzugreifen, erklärte Admiral Richard W. Mies, Kommandeur des Strategic Command (STRATCOM), dieser anvisierte Truppenabbau sei "naiv und falsch". (45) Statt für über 100 Milliarden Dollar ein defensives Raketenabwehrsystem aufzubauen, favorisieren die Generäle lieber den Erhalt ihres mächtigen, nuklearen Offensivarsenals. (46) Auch der Entwicklung atomarer Mini-Nukes stehen die Militärs skeptisch gegenüber. Auf ihrer Wunschliste rangieren konventionelle HighTech-Waffensysteme für weltweite Interventionsfähigkeit weit vor den Nuklearwaffen, denn im konventionellen Bereich befürchten die Generäle ihre Pfründe zu verlieren. Ein Anlaß ihrer Sorgen ist die gegenwärtige Ausarbeitung einer Militärreform durch Verteidigungsminister Donald Rumsfeld. Die Streitkräfte sollen auf die moderne Kriegführung des 21. Jahrhunderts getrimmt werden: Computer- und Information-Warfare, unbemannte Drohnen statt bemannte Kampfflugzeuge, kleine mobile Einheiten etc. Die Fähigkeit, irgendwo auf der Welt zwei größere Kriege gleichzeitig führen zu können (Two War Strategy), ist nicht mehr gefragt. (47) Aber die Ausarbeitung der Streitkräftekonzeption erfolgt durch zivile Bedienstete im Pentagon; die Generäle und Admiräle sind daran ausdrücklich nicht beteiligt. Dies hat bei den Militärs um so mehr Befürchtungen geschürt, die politische Führung im Pentagon wolle die konventionellen Streitkräfte erheblich vermindern. (48) Trotz der Propaganda gegen "Schurkenstaaten" ist es ungewiß, ob angesichts dieses schwelenden Machtkampfes zwischen Zivilisten und Militärs eine Entscheidung über die Entwicklung neuer Nuklearwaffen demnächst getroffen wird. Wahr-scheinlich werden die USA auch in Zukunft nicht in der Lage sein, gegnerische ABC-Waffendepots im Kriegsfall zu zer-stören, es sei denn, man nimmt zahlreiche Opfer durch den Einsatz der alten B61-11 bewußt in Kauf. Gerhard Piper ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).
Endnoten: (1) Vgl. ami 3/98, S. 47-57 (2) Federation of American Scientists: The B61 (Mk61) Bomb, 11.11.97, www.fas.org/nuke/hew/Usa/Weapons/B61.html (3) New York Times (NYT), 26.6.01 (4) Hans M. Kristensen: Nuclear Futures II - Proliferation of Weapons of Mass Destruction and US Nuclear Strategy, BASIC, 12.2.98, Pre-Publication Draft, S. 17. (5) Washington Post (WP), 15.4.01 (6) Los Angeles Times (LAT), 12.6.00, www.latimes.com/news/ nation/20000612/t000055 765.html (7) The Times, 16.4.01, www.thetimes.co.uk/article/ 0..3-115027,00.html (8) Oliver Meier: Wettlauf ohne Gegner? Die amerikanische Atomwaffenpolitik nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, (Dissertation) Münster, 1998, S. 79f (9) Johannes Varwick / Wichard Woyke: Die Zukunft der NATO - Transatlantische Sicherheit im Wandel, Opladen, 2000, S. 225f; vgl. ami 6/99, 29-35. (10) Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Nuclear Operations, Joint Pub 3-12, 18.12.95, S. I-3 (11) Joint Chiefs of Staff, Doctrine for Joint Theater Nuclear Operations, JP 3-12-1, Washington, 9. Februar 1996, S. III-8 (12) The Examiner, 15.1.2001, www.examiner.com/news/default. jsp?story=nukes.0114 (13) Robert Wall: Nuclear Weapons Showing Age, Aviation Week & Space Technology, 21.5.01 (14) Jonathan S. Landay: Modernizing U.S. nuclear weapons to cost millions, Knight Ridder Newspapers, 1.6.01 (15) Los Alamos Study Group (NGO): Los Alamos Weapons Budget Reaches All-time High, 11.9.00, www.lasg.org/budget-press.htm (16) Andrew Koch: Extending the nuclear family? Janes Defence Weekly (JDW), 5.1.00, S. 23 (17) WP, 2.11.00 (18) WP, 2.7.01, S. 3 (19) WP, 16.4.01, S. A6 (20) Western States Legal Foun-dation: Nukes Forever US Plans Revealed, Oakland, 2.5.00 (21) Stephen M. Younger: Nuclear Weapons in the Twenty-First Century, Los Alamos National Laboratory, LAUR-00-2850, 27. June 2000, libwww.lanl.gov/la-pubs/ 00393603.pdf (22) The Examiner, 15.1.01 (23) Wall Street Journal (WSJ), 2.8.00, S. 1 (24) ebd. (25) Spiegel, 27.11.00, S. 289 (26) LAT, 12.6.00 (27) The Inquirer, 16.10.00, www.nautilus.org/pub/ftp/npp/101600inquirer.txt (28) The Examiner, 15.1.01 (29) WP, 6.7.01 (30) Stephen I. Schwartz: The new-nuke chorus tunes up, Bul-letin of the Atomic Scientists, Juli 2001, S. 32 (31) NYT, 10.10.99; vgl. ami 12/1999, S. 41-51 (32) NYT, 7.7.01, www.nytimes.com/2001/07/07/world/0 7NUKE.html (33) N.N., Moscow on U.S. stance on Comprehensive Nuclear Test Ban Treaty, RIA Novosti, 12.7.01 (34) Hans M. Kristensen: U.S. Nuclear Strategy Reform in the 1990s, The Nautilus Institute, Berkeley, USA, März 2000, S. 3 (35) Guardian Weekly, 22.6.00; vgl. ami 4/98, S. 34-37 (36) Newsweek, 25.6.01 (37) WP, 16.4.01 (38) Vgl. ami 5/00, S. 22-30 (39) Andrew Koch: US rethink could spawn mini-nuke, JDW, 18.5.01 (40) NYT, 28.6.01 (41) Bret Lortie: A Do-It-Yourself SIOP, Bulletin of the Atomic Scientists, July 2001, S. 26f) (42) WP, 16.4.01 (43) Greg Mello: That old Designing Fever, Bulletin of the Atomic Scientists, Januar 2000, S. 52 (44) WP, 23.4.01 (45) WP, 15.7.01, S. A06 (46) New York Sunday, 15.7.2001, www.observer.co.uk/international/story/0,6903,52 2009,00.html (47) NYT, 13.7.01 (48) WP, 16.7.01, www.iht.com/articles/26215.htm
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