Die Verunsicherung der anderen – Die USA verlassen den
Vertrag über den Offenen Himmel
von Otfried Nassauer
Das nächste Opfer steht mit dem
Rücken an der Wand: In sechs Monaten wollen die USA aus dem
internationalen Vertrag über den Offenen Himmel aussteigen.
Gerade noch rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl. Das
ließen vor drei Wochen Präsident Trump, sein
Außenminister Pompeo und sein neuer Sicherheitsberater
O‘Brien verlauten. Nach dem INF-Vertrag und den
Nuklearabkommen mit dem Iran soll nun bereits das dritte Abkommen mit
Relevanz über die Europäische Sicherheit aufgegeben
werden, wenn Moskau nicht „zur vollständigen
Einhaltung des Vertrages zurückkehrt,“ wie
Außenminister Pompeo forderte.
Der Vertrag über den Offenen Himmel erlaubt es allen 34
Vertragsparteien seit 2002 in jedem Jahr eine individuell festgelegte
Anzahl angemeldeter Überwachungsflüge über
dem Territorium anderer Vertragsparteien vorzunehmen. Seit
Inkrafttreten des Vertrages wurden insgesamt auf diese Weise mehr als
1.500 solcher Flüge durchgeführt. Das Territorium,
das überflogen werden darf, reicht von Vancouver bis
Wladiwostok.[ 1 ] An Bord waren dann gemischte Teams des oder der Staaten,
die den Flug beantragt hatten und des Landes, über dessen
Gebiet er durchgeführt wurde. Alle beteiligten Staaten hatten
anschließend das Recht, die Aufklärungsergebnisse
vollumfänglich zu nutzen. Benutzt werden durfte jedoch
nur Aufklärungstechnik, deren technische
Leistungsfähigkeit von den Vertragsparteien gemeinsam
festgelegt wurde, denn das wesentliche Ziel ist nicht Spionage, sondern
Vertrauensbildung. Geflogen wird, um festzustellen, ob das
überflogene Land seine rüstungskontrollpolitischen
Verpflichtungen erfüllt und seine militärische
Fähigkeiten hinreichend transparent macht. Im Kern ist der
Vertrag über den Offenen Himmel also eine
multilaterale, vertrauensbildende Maßnahme, die dazu
beitragen soll, dass kein Staat sich unnötigerweise bedroht
fühlt.[ 2 ] Er nützt vor allem den Staaten, die sich
keine teuren, hochleistungsfähigen
Aufklärungssatelliten leisten können. Auch sie
können sich so einen gewissen Überblick über
das militärische Potential ihrer Nachbarn und
möglichen Gegner verschaffen.
Das Begründungsmuster Washingtons für seinen Ausstieg
ist ein altbekanntes. Die USA werfen Moskau vor, den Vertrag zu
verletzen oder diesen anders zu interpretieren als er gemeint sei.
Moskau begrenze zum Beispiel die Dauer der Flüge über
der Exklave Kaliningrad und beschränke auch Flüge in
der Grenzregion zu Georgiens abtrünnigen Republiken. Manch
anderes Problem resultiert auch ungelöste
Territorialkonflikten. Moskaus Einladung zum Überfliegen der
Krim nimmt der Westen nicht an, weil damit indirekt eine Anerkennung
der Krim als Teil Russlands verbunden wäre. Georgien
verweigert Russland Überflüge. Früher
bestehende US-Zweifel an der Zulässigkeit eines neuen
russischen Kamerasystems gelten inzwischen als ausgeräumt, da
die USA der Nutzung 2014 nach längerem Zögern
zugestimmt haben.
Selbst Christopher Ford, der Assistant Secretary for International
Security and Nonproliferation, oft ein Kritiker der
Rüstungskontrolle, räumte im Kontext der
Ankündigung des Vertragsaustritts ein, dass manche der
US-Vorwürfe gegen die Verhaltensweisen Moskaus
„keine faktischen Vertragsverletzungen seien“.
Daraus resultiert aber ein neues Problem. Was würde dann eine
vollständige Rückkehr Russlands zur Vertragstreue,
wie sie Pompeo forderte, darstellen? Ford gab zu, dass dies
hänge von vielen Variablen ab.
Der Umgang der US-Administration mit dem Vertrag über Offenen
Himmel legt zum wiederholten Mal grundsätzliche Probleme
offen: Wenn Donald Trump ein Internationales Abkommen kündigen
will, kann er sich offenbar einen Konstruktionsfehler der
Gewaltenteilung der USA zunutze machen. Er kann Abkommen mit anderen
Staaten im Alleingang aufkündigen. Will ein Präsident
dagegen ein neues Abkommen abschließen und ratifizieren,
braucht er eine Zweidrittelmehrheit im Senats. Der Präsident
kann also jederzeit Jahre diplomatischer Verhandlungen und Monate
politischen Ringens im Kongress anullieren. Bilaterale und
multilaterale Verträge zu ratifizieren ist in den USA also
viel komplizierter und zeitaufwändiger als sie wieder zu
kündigen. Daraus resultiert ein grundlegender Schwachpunkt der
Rüstungskontrolle.
Es folgt aber auch eine ganz andere Frage: Welche
Konsequenzen zieht die restliche Staatenwelt aus dem Verhalten Trumps?
Wer wird mit künftige US-Präsidenten noch
internationale Verträge abschließen, wenn klar ist,
dass diese vielleicht nur bis kurz nach der nächsten
Präsidentschaftswahl gelten? Die USA verlieren dann
strukturell an Vertrauens- und Glaubwürdigkeit als
Vertragspartner im internationalen System.
Zudem müssen sich Washingtons Vertragspartner
inzwischen fragen, wie hoch die in einem Vertrag festgehaltene
Hürde gegen einen potentiellen Vertragsaustritt
künftig sein muss, damit ein neuer Präsident diesen
nicht problemlos gleich wieder kündigen kann. Der
ABM-Vertrag enthielt eine vorgeblich hohe Hürde für
den Ausstieg jeder Vertragspartei. Wer ihn kündigen wollte,
musste argumentieren, dass durch außergewöhnliche
Ereignisse mit Bezug zum Gegenstand des Vertrages eine
Gefährdung seiner höchsten Interessen eingetreten
ist. Ähnlich hoch lag die Latte auch beim INF-Vertrag. Dort
verlangte der Kündigungsparagraph von der
kündigungswilligen Seite eine „eine Darlegung der
außergewöhnlichen Ereignisse (...), durch die nach
Ansicht der die Mitteilung machenden Vertragspartei eine
Gefährdung ihrer höchsten Interessen eingetreten
ist.“ Was aber sind „höchste nationale
Interessen? Das Vorgehen der Trump-Administration zielt darauf, die
Schwelle dafür gezielt möglichst niedrig anzusetzen
und somit Präzedenzfälle für die Zukunft zu
schaffen.
Etwas niedriger ist die Hürde dagegen aktuell beim Open Skies
Vertrag: „Ein Vertragsstaat hat das Recht, von diesem Vertrag
zurückzutreten.“ Er muss es nur sechs Monate zuvor
kundtun, damit die anderen Vertragsmitglieder bei einer
Konferenz 30 oder spätestens 60 Tage noch der Bekundung der
Austrittsabsicht entscheiden können wie sie weiter mit diesem
Vertrag umgehen wollen. Es gibt keine Notwendigkeit zur
Begründung und auch keine Bindung an die Gefährdung
der „höchsten Interessen“ des
kündigenden Staates.
Zur Begründung des Ausstiegs aus dem Vertrag über den
offenen Himmel wurde in Washington zudem noch zwei interessante und
aufschlussreiche Argumente genannt. Das eine lautet: Die
Aufklärungssatelliten der USA liefern viel bessere
Aufklärungsergebnisse als die Open Skies Flugzeuge. Das
andere: Die Kosten für neue Überwachungsflugzeuge
können wir uns deshalb sparen.
Beide lassen tief blicken: Das erste impliziert: Wenn die USA
austreten, ist es das Problem der Europäer sich mit Russland
herumzuschlagen. Sollte Moskau den Vertrag dagegen auch fallen lassen,
sind vor allem die kleineren, der russischen Grenze näheren
Europäer viel stärker auf die
Aufklärungsergebnisse Washingtons angewiesen als bisher und
damit politisch besser lenkbar. Auch für die
größeren Staaten in Europa wird es dann schwieriger,
eine ausreichende Informationsdichte zur Lageeinschätzung zu
erhalten. Sie müssen entweder viel Geld in die Hand nehmen, um
selber mehr Satellitenaufklärung zu betreiben oder sie geraten
auch wieder in eine größere Abhängigkeit
von Washington. In den USA ist die Administration deshalb sicher
gespannt, wie sich die anderen Vertragspartner bei der nun
bevorstehenden Konferenz über die Zukunft des Vertrages
positionieren. Für die von Donald Trump ausgerufene erneute
Konkurrenz und Rivalität großer Mächte
(gemeint sind die USA, Russland und China) ist die (nicht) geschlossene
Haltung Europas sicher ein interessantes Beobachtungsobjekt.
Beim zweiten, dem Kostenargument, ließ der republikanische
Senator Tom Cotton eine weitere Motivation durchblicken: Das Geld, dass
der Kongress bereits im Haushaltsjahr 2019 für die Beschaffung
von zwei neuen Open Skies-Flugzeugen in den Haushalt eingestellt hat,
wäre doch viel sinnvoller verwendet, wenn man es für
die Modernisierung der US Nuklearwaffen ausgebe.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
Fußnoten:
[ 1 ]
Insofern ergänzt Open Skies die Vorortinspektionen, die der
Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (VKSE) vom
Atlantik bis zu Ural ermöglicht.
[ 2 ]
Der multilaterale Charakter unterscheidet den Vertrag grundlegend von
dem gleichnamigen Vorschlag Eisenhowers für eine bilaterale
Vereinbarung dieser Art zwischen Washington und Moskau.
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