Kleinere Sprengkraft, größeres Risiko –
Der kleine Atomsprengkopf W76-2 und seine Legitimation
von Otfried Nassauer
Seit Jahren geistert sie durch die konservative US-Debatte
über russische Atomwaffen – die These, Russland
verfolge eine Nuklearstrategie der „Eskalation, um seine
Gegner zur Deeskalation zu zwingen“ (escalate to
de-escalate). Will man wissen, was damit gemeint ist, bekommt man oft
etwa folgendes Szenario zu hören: Russland habe den
Ersteinsatz kleiner, taktisch nuklearer Waffen zum Bestandteil seiner
Militärdoktrin gemacht. Der Öffentlichkeit
unzugängliche Manöverauswertungen hätten
gezeigt, dass Russland plane, bei einer militärischen
Konfrontation – zum Beispiel im Baltikum - taktische
Atomwaffen geringer Sprengkraft als erste Konfliktpartei
einzusetzen und dann darauf zu spekulieren, dass Washington keine
geeignete nukleare Reaktionsmöglichkeit habe. Die
Atomwaffen der USA seien entweder viel zu groß um ihren
Einsatz zu rechtfertigen oder es gebe eine Verteidigung dagegen.
Washington werde also eher einlenken als eine erhebliche Eskalation zu
riskieren und es Russland deshalb ermöglichen, den Konflikt zu
vorteilhaften Bedingungen zu beenden. Escalate to de-escalate nennt man
das.
Fragte man weiter, was die USA tun könnten, um
die nukleare Abschreckung wieder glaubwürdig zu machen, so
lautet die Antwort meist: Die USA brauchen prompt, flexibel,
über große Entfernungen einsetzbare Kernwaffen
kleiner Sprengkraft, mit deren Einsatz sie glaubwürdig drohen
können und gegen die es keine Verteidigung gibt. Abschreckung
sei auch eine Frage der glaubwürdigen Fähigkeit,
einen atomaren Krieg tatsächlich führen zu
können. Unverwundbar auf U-Booten stationierte Raketen mit
einem einzelnen kleinen Sprengköpfen seien dafür
besonders gut geeignet, denn dagegen gebe es kaum eine
verlässliche Verteidigung.
Am 21. Februar 2020, so berichteten CNN, Newsweek und
Defenseone übereinstimmend, war ein solches Szenario
in Europa Gegenstand eines kleinen nuklearen Kriegsspiels bei STRATCOM,
dem Strategischen Oberkommando der US-Streitkräfte auf der
Offut Air Force Base in Nebraska. Verteidigungsminister Mark Esper war
vorort. Die Russen „haben uns mit einer Nuklearwaffe kleiner
Sprengkraft angegriffen“ berichtete ein
Regierungsmitarbeiter, „und wir simulierten die Antwort mit
einer Nuklearwaffe.“ Russland besitze noch bis zu 2.000
taktischer Atomwaffen mit kleiner Sprengkraft, fügte ein hoher
Pentagon-Mitarbeiter hinzu und vergaß nicht zu
erwähnen, dass den USA seit wenigen Wochen mit dem neuen
Sprengkopf W76-2 für seine U-Boot-Raketen vom Typ Trident II
endlich eine geeignete Waffe als Antwort auf einen solchen Angriff zur
Verfügung stehe.[ 1 ]
Unter Donald Trump haben die Interpretation der
russischen Doktrin und der Vorschlag für die passende Antwort
der USA binnen weniger als zwei Jahren Eingang in die
militärische Planung, in erste Dienstvorschriften und in die
Bewaffnung der Streitkräfte gefunden. 2018 griff der
Nuclear Posture Review diese Ideen auf, für 2019
bewilligte der Kongress erstmals Geld für eine geeignete
Sprengkopfvariante und Ende 2019, Anfang 2020 stach mit der USS
Tennessee bereits das erste US-Raketen-U-Boot in See, auf dem
einige Langstreckenraketen mit dem geforderten Sprengkopf
kleiner Sprengkraft, dem W76-2, mitgeführt wurden. Nun
würde der erste Einsatz simuliert. In der nahen Zukunft sollen
weitere Raketen-U-Boote mit der neuen Waffe ausgerüstet
werden. Knapp zwei Jahre von der Ankündigung bis zur Umsetzung
– das ging schnell.
Die Gründe dafür sind leicht zu
identifizieren: Die erforderlichen U-Boote der Ohio-Klasse sind schon
lange eingeführt und erprobt. Für die
Trägerraketen des Typs Trident-II-D5 gilt das gleiche. Nur
einige wenige der vorhandenen, gerade erst modernisierten
Sprengköpfe, vom Typ W76-1 mussten abgeändert werden.
Ihre Sprengkraft von 90 oder 100 Kilotonnen musste deutlich
reduziert werden. Aber auch dafür gab es ein Vorbild.
Großbritannien nutzt seit spätestens 1999 einen aus
dem W76 abgeleiteten nicht-strategischen Sprengkopf kleinerer
Sprengkraft als Ersatz für seine aufgegebenen Atombomben vom
Typ WE 177. Trägersystem sind auch dort von den USA geleaste
Raketen des Modells Trident-II-D5. Diese offenbar funktionierende
technische Lösung konnte als Vorbild dienen. Bei einigen
Sprengköpfen wird auf den für das Erreichen der
maximalen Sprengstärke verantwortlichen zweiten nuklearen
Sprengsatz, das sogenannte Secondary, verzichtet. Nur der kleinere
nukleare Zündsprengsatz, das Primary, wird genutzt. Dann sinkt
die Sprengkraft von 100 oder 90 auf nur noch wenige Kilotonnen. Meist
ist von 5-7 Kilotonnen ist die Rede. Das entspräche knapp der
Hälfte der Sprengkraft der Hiroshima-Bombe. Relativ
preisgünstig ist diese Lösung scheinbar auch. Kostet
die Modifikation eines vorhandenen atomaren Sprengkopfs zu einer neuen
Version meist mehrere Milliarden Dollar, so werden für den als
kleinen SLBM-Sprengkopf scheinbar maximal 50-100 Mio. Dollar
eingeplant, fällig in den Haushaltsjahren 2019 bis 2023.
Experten erwarten zudem, das nur etwa 50 Exemplare der neuen
Sprengkopfvariante gebaut werden sollen.
Mit dieser neuen Waffe soll den
US-Streitkräften ein neues Mittel in die Hand gegeben werden,
um auf einen russischen Ersteinsatz nuklearer Waffen in einem Konflikt,
den Russland nuklear eskaliert, um eine Deeskalation durch den Gegner
zu erzwingen, prompt, aus großer Entfernung und ohne
russische Abwehrmöglichkeit zu reagieren. Dieser Ansatz folgt
der Logik einer glaubwürdigen
Kriegführungsabschreckung.
Mit einer solch kleinen Atomwaffe und einer solchen
Option atomarer Kriegführung sind zugleich erhebliche Risiken
verbunden. Zum einen ist die Hemmschwelle für eine Freigabe
des Einsatzes von einzelnen Nuklearwaffen kleiner Sprengkraft
wahrscheinlich deutlich geringer als dies bei einer großen
Waffe der Fall wäre, deren Einsatz die Explosion mehrerer
Sprengköpfe und höchstwahrscheinlich viel mehr Opfer
zur Folge haben würde. Zum anderen hat die Verwendung eines
Trägersystems, das sowohl mit einem einzelnen kleinen
Sprengkopf als auch mit mehreren großen
Gefechtsköpfen ausgestattet sein kann, eine destabilisierende
Wirkung. Der Gegner weiß erst sehr spät oder vorab
gar nicht, ob er mit einem kleinen Angriff mit einem
Sprengkopf konfrontiert ist oder mit einem großen,
der sich gegen mehrere Ziele richtet. Unkalkulierbare Risiken einer
Fehleinschätzung können entstehen.
Schließlich kann schon die Verwendung eines strategischen
Trägersystems als Indiz des Versagens der globalen
Abschreckung (fehl)gedeutet werden und zu einer weiteren Eskalation
beitragen.[ 2 ]
Seit 1983 haben die USA immer wieder simulierte
Kriegsspiele genutzt, um entweder ihre eigenen Optionen eines
„escalate to de-escalate“-Szenarios oder aber ihre
Reaktionsmöglichkeiten auf eine russisches Vorgehen dieser Art
durchzuspielen. Schon unter Ronald Reagan zeigte das Kriegsspiel
„Proud Prophet“ 1983 grundsätzliche
Schwächen und Probleme der Idee eines begrenzten
Nuklearwaffeneinsatzes auf. Gegen Ende der Präsidentschaft
Barack Obamas zeigte eine ähnliches Szenariospiel, dass es die
politisch wirksamere Antwort auf einen begrenzten russischen
Ersatzeinsatz sein könnte, Russland weltweit für den
Tabubruch des ersten Atomwaffeneinsatzes nach Nagasaki an den Pranger
zu stellen. Auch unter Präsident Trump war die Mehrheit einer
Expertengruppe erfahrener Nuklearplaner, die als
„Greybeards“ bezeichnet werden, Berichten zufolge
noch nicht davon überzeugt, dass die geplante
Einführung von Sprengköpfen des Typs W76-2 den USA
eine sinnvolle Reaktionsmöglichkeit in einem solchen Szenario
eröffnen würde.
Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt dieses Artikels
zurück, dem US-Argument, Russland verfolge eine
Nukleardoktrin, die der Logik des nuklearen Ersteinsatzes und
Eskalierens folge, um eine Deeskalation des Konfliktes durch den Gegner
zu erzwingen und so Vorteile für Moskau herauszuholen. Als
Beleg dafür die wird oft auf die Militärdoktrin
Russlands verwiesen. Dieses Dokument, das Ende 2014 in Kraft gesetzt
wurde und bis heute gilt, enthält zwei Kernaussagen zu
Kernwaffen.
Die erste befasst sich mit deren Rolle nuklearer Waffen:
„Die Kernwaffen werden nach wie
vor ein wichtiger Faktor zur Verhinderung des Entstehens atomarer und
konventioneller militärischer Konflikte bleiben
(großer Krieg, regionaler Krieg)“ (Punkt 16). Hier
steht klar deren politische Rolle bei der Verhinderung von Krieg im
Vordergrund. Die zweite Passage befasst sich mit den Rahmenbedingungen,
unter denen Russland Atomwaffen einsetzen würde. Punkt 27
lautet: "Die Russische Föderation behält sich das
Recht vor, als Antwort auf einen gegen sie und (oder) ihre
Verbündeten erfolgten Einsatz von Kernwaffen oder anderen
Arten von Massenvernichtungswaffen, ihrerseits Kernwaffen einzusetzen.
Das gilt auch für den Fall einer Aggression mit
konventionellen Waffen gegen die Russische Föderation, bei der
die Existenz des Staates selbst in Gefahr gerät. Die
Entscheidung über den Kernwaffeneinsatz trifft der
Präsident der Russischen Föderation." Das Dokument
ist bis heute unverändert gültig und setzt - so
wörtlich - die "unveränderten Einsatzprinzipien
für die Streitkräfte der Russischen
Föderation und die Kernwaffen" fort, die bereits in der
Militärdoktrin aus dem Jahr 2010 enthalten waren.
Der Wortlaut lässt nur zwei Fälle
erkennen, in denen der Einsatz von russischen Atomwaffen erfolgen
könnte: Erstens in Antwort auf einen Angriff mit
Massenvernichtungswaffen gegen Russland oder seine Verbündeten
und zweitens in Antwort auf einen konventionellen Angriff, der die
staatliche Existenz der Russischen Föderation (nicht aber
deren Verbündeter) gefährdet. Nur der zweite Fall
könnte einen Ersteinsatz von Kernwaffen durch Russland
rechtfertigen, der allerdings das gefährdete
Überleben Russlands als Staat voraussetzt und nicht das Ziel
einer Erpressung anderer Staaten um einen regionalen Konflikt zu
gewinnen. Damit stehen beide Aussagen zugleich in der Tradition des
sowjetischen Denkens über die Rolle von Kernwaffen.
Die Formulierungen in der Militärdoktrin
entstanden zudem im Vorfeld und im Kontext der
Überprüfungskonferenz für den nuklearen
Nichtverbreitungsvertrag 2015. Sie war wohl auch als Darstellung der
russischen Variante einer Negativen Sicherheitsgarantie eines
Nuklearwaffenstaates gegenüber den nichtnuklearen Mitgliedern
des nuklearen Nichtverbreitungsvertrages gedacht.
Nicht zu erkennen ist dagegen, wo sich in der russischen
Militärdoktrin der Gedanke des nuklearen Eskalierens, um zu
eine Deeskalation zu erzwingen, verstecken soll. Dessen Ursprung liegt
wohl eher in dem Wunschdenken konservativer Nukleartheologen in den USA
begründet, die unbedingt die Notwendigkeit begründen
wollten, dass die USA Atomwaffen kleinerer Sprengkraft beschaffen und
einführen sollten, gegen deren tatsächlichen Einsatz
nur noch eine geringere Hemmschwelle überwunden werden muss.
Dahinter steht eine Logik der Kriegführungsabschreckung, nicht
eine Logik der Kriegverhinderungsabschreckung. Es verwundert deshalb
auch nicht, dass das US-Militär seit 2019 erstmals seit 15
Jahren wieder über eine teilstreitkraft-übergreifende
Grundlagenvorschrift für „Nukleare
Operationen“, die JP3-72, verfügt. Sie atmet den
Geist der Kriegführungsabschreckung.
Kaum verwunderlich wäre auch, wenn die in der
US-Haushaltsplanung für 2021 erstmals vorgesehenen Mittel von
53 Mio. Dollar für erste Studien zu einem flexibel
abwandelbaren, neuen atomaren Sprengkopfs vom Typ W93/MK7 nicht nur als
Anschubfinanzierung für Arbeiten an einem Nachfolger des
Sprengkopfs W76 und die Entwicklung eines neuen
Wiedereintrittsflugkörpers (re-entry vehicles) gedacht
wären, sondern darüber hinaus auch als
Vorarbeiten für einen längerfristiger Ersatz des
Sprengkopfs W76-2.[ 3 ]
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
Fußnoten:
[ 1 ] Zahlen und Kräftevergleiche werden von der derzeitigen
US-Regierung primär zu legitimatorischen Zwecken eingesetzt. Es
ist überhaupt nicht klar, ob Russland noch über „bis zu
2.ooo“ funktionsfähige „taktische“ Kernwaffen
verfügt. Zudem werden nukleare Sprengköpfe mitgezählt,
die zur Luft- oder Raketenabwehr dienen, also überwiegend
über Russland detonieren würden. Schließlich werden
diese Waffen pauschal als taktische Waffen mit geringer Sprengkraft
bezeichnet, obwohl deren Sprengkraft meist deutlich oberhalb jener
US-Waffen liegt, die die USA innerhalb ihres eigenen Bestandes immer
als substrategisch oder gar strategisch bezeichnen – wie z.B. den
Sprengkopf W76-2 oder die Bombe B61-3, -4 oder -12.
[ 2 ] In Europa mögen viele glauben, diese Entwicklung habe wenig mit
Europa zu tun, da sie keine neue Stationierung von US-Atomwaffen in
Europa zur Folge habe. Zugleich darf nicht unterschlagen werden, dass
eine sub-strategische nukleare Option der USA im NATO-Kontext
eingeführt wird, bei der für die USA keine zwingende
Notwendigkeit besteht, die europäischen Alliierten oder die an der
nuklearen Teilhabe beteiligten NATO-Staaten mit nuklearen
Trägersystemen vor einem Rückgriff auf diese Option zu
konsultieren. Sie eröffnet den USA größere
Flexibilität zu einem Alleingang und stellt europäische
Vorstellungen eigener Mitspracherechte bei Atomwaffeneinsätzen
infrage.
[ 3 ] Sowohl die Sprengkopfbezeichnung W93 als auch die Bezeichnung
MK7 sind neu. Bezeichnungen dieser Art beziehen sich üblicherweise
auf den nuklearen Sprengkopf und den dafür verwendeten
Wiedereintrittsflugkörper.
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