Rubesch und der INF-Vertrag
von Otfried Nassauer
Der US-Kongress hat die Regierung Trump per Gesetz aufgefordert,
innerhalb von drei Monaten eine neue Bewertung der russischen Rakete
RS-26 „Rubesch“ (SS-X-31) vorzunehmen. Festgestellt werden
soll, ob der Flugkörper als Interkontinentalrakete zu werten ist
oder gegen den INF-Vertrag verstößt. Dieses Abkommen
verbietet den USA und Russland landgestützte Raketen mit
Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometer. Wörtlich heißt es
in dem Haushaltsgesetz, die Administration solle „feststellen, ob
die Rakete vom Typs RS-26 unter den New-START-Vertrag fällt oder
eine Verletzung des INF-Vertrags darstellen würde, weil Russland
Raketen dieses Typs mit mehreren Sprengköpfen über
Reichweiten getestet hat, die durch den INF-Vertrag abgedeckt
sind.“ (FY 2018 NDAA, Section 1245)
Die Problematik ist nicht ganz neu. Bereits 2013
argumentierten konservative Think Tanks wie das National Institute for
Public Policy, die RS-26 könne eine Ursache dafür sein, dass
die Obama-Administration Zweifel habe, ob Russland sich im Blick auf
das INF-Abkommen vertragstreu verhalte. Damals widersprach die
Regierung und stellte klar, ihre Zweifel bezögen sich auf ein
landgestütztes Marschflugkörpersystem, nicht aber auf eine
ballistische Rakete. Nun wird der Verdacht reaktiviert. Die
Republikaner wollen, dass ihm nachgegangen wird. Was steckt dahinter?
Moskau hat sich in den vergangenen drei bis vier Jahren nicht so
verhalten, wie Washington es erwartet hat. Berichten zufolge fußt
die zweistufige Feststoffrakete RS26 „Rubesch“ technisch
auf den ersten beiden Antriebsstufen der dreistufigen
Interkontinentalrakete RS-24 Yars, die seit 2010 sukzessive in Dienst
gestellt wird. Die RS26 wurde 2012 erstmals erfolgreich über einen
Reichweite von ca. 5.800 Kilometer getestet und deshalb als
künftige Interkontinentalrakete eingeschätzt, die –
sobald stationiert - unter das New START-Abkommen fallen würde.
Damit wäre sie auch unter die Verpflichtung gefallen, neue
strategische Systeme vor der Indienststellung der jeweils anderen Seite
zu Verifikationszwecken vorzuführen. Einen solchen Termin hatte
Moskau für November 2015 angekündigt, dann aber
überraschend wieder abgesagt. Zunächst hieß es, er
werde auf 2016 verschoben, doch bis heute wurde kein neuer Termin
angesetzt. 2016 sollte auch ein weiterer Testflug der RS26 stattfinden,
aber auch der fiel aus. Parallel verschob sich das angekündigte
Datum der Indienststellung von 2015 auf 2016 und später auf einen
unbekannten Zeitpunkt in der Zukunft. Die Stationierungsvorbereitungen
stockten.
Eine der möglichen Erklärungen lautet: Moskau hat
die Stationierung der RS-26 aus technischen, finanziellen oder
politischen Gründen vertagt oder ausgesetzt. Das russische
Programm zur Modernisierung der landgestützten Langstreckenraketen
liegt hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurück, das Geld ist
kanpp. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Produktion und
Stationierung der RS-24-Versionen noch nicht abgeschlossen ist und in
der Fabrik, die beide Flugkörper herstellt, noch keine
Kapazitäten für die RS26 frei sind.
Über eine andere Erklärung spekulieren die Kritiker
in den USA: Eigentlich sei die RS26 Rubesch eine verbotene
Mittelstreckenrakete. Der erwähnte Test über 5.800km
könnte mit einem einzelnen, wahrscheinlich relativ leichten
Sprengkopf durchgeführt worden sein, damit die Reichweite
möglichst groß war. Seither sind alle weiteren drei
Testflüge über Reichweiten von etwa 2.000 Kilometer
durchgeführt worden. Möglich sei, dass Russland die
„Rubesch“-Rakete letztlich mit einem schwereren
Mehrfachsprengkopf stationieren und gegen Ziele in geringerer
Entfernung einplanen wolle. Die RS26 sei also eigentlich eine durch den
INF-Vertrag verbotene Mittelstreckenrakete. Die russischen
Erklärungen für die RS26-Testflüge von Kapustin Yar aus
sind jedoch auch nicht ganz von der Hand zu weisen: Sie besagen, dass
damit nicht primär die Rakete, sondern ein leistungsfähigeres
Sprengkopfsysteme getestet werden sollte, das modernen Abwehrraketen
besser ausweichen kann. Diese Tests könne man nur in Kapustin Yar
durchführen.
Hinzu kommen Argumente, die sich auf eine potentielle historische
Analogie beziehen. Sie hat ebenfalls mit dem INF-Vertrag zu tun. Auch
die SS-20 (RSD-10), die die Nachrüstungsdebatte auslöste, war
ursprünglich als dreistufige Interkontinentalrakete unter der
Bezeichnung SS-16 entwickelt worden. Als diese aufgrund der
Rüstungskontrollvereinbarungen mit den USA außer Dienst
gestellt wurde, entfernte die damalige Sowjetunion eine Stufe und baute
eine zweistufige Variante als SS-20, die später weiter verbessert
wurde. Was Moskau damals ökonomisch sinnvoll erschien, löste
sicherheitspolitisch eine heftige Debatte aus.
Die Sorge, dass eine ICBM relativ kurzer Reichweite
genutzt werden könnte, um die Funktionen der SS20 zu
übernehmen, war auch bereits Gegenstand der Debatte über die
Ratifizierung des INF-Vertrags 1988 im US-Senat. Die
Reagan-Administration reagierte auf die Bedenken damals mit einer
schriftlichen Erklärung, die besagte, dass sie Testflüge von
Raketen über INF-Reichweiten dann nicht als Vertragsverletzung
werten würde, wenn die Rakete in der gleichen Konfiguration
bereits über interkontinentale Reichweiten getestet worden sei.
Testflüge, einmal mit einem Einfachsprengkopf und einmal mit einem
Mehrfachsprengkopf, seien dagegen Testflüge in einer
unterschiedlichen Konfiguration. Damals blieb offen, ob die Sowjetunion
dieser Interpretation zugestimmt hätte.
Gibt es also eine berechtigte Analogie zu den Geschehnissen um die RS26
heute? Die Kritiker in den USA vermuten es. Sie wollen erreichen, dass
die US-Regierung die RS26 in ihrer Politik als Verletzung des
INF-Vertrags einstufen muss, wenn die Trump-Administration keine
Terminzusage Moskaus vorweisen kann, an dem die Rubesch-Rakete
gemäß New-START als Interkontinentalrakete vorgestellt wird.
Warum Moskau sich darauf einlassen sollte, dürfte das Geheimnis
der republikanischen Antragsteller bleiben. Ein weiterer substantieller
Konfliktpunkt in der Rüstungskontrolle und darüber hinaus im
Verhältnis zwischen Moskau und Washington wäre dann dennoch
geboren.
Aus Moskauer Sicht könnte es dagegen durchaus reizvoll
sein, die endgültige Einstufung der RS26 weiter
hinauszuzögern. Der New START-Vertrag bietet dazu die
Möglichkeit. Er erlaubt es, neue Interkontinentalraketen bis zu
deren 20. Test als legale Prototypen zu betrachten, die nicht mit ihren
spezifischen Eingenschaften deklariert und vorgestellt werden
müssen. Die RS26 ist nach bislang fünf Testflügen von
dieser Grenze noch recht weit entfernt. Als Prototyp kann sie noch
verändert werden, bevor sie in Dienst gestellt wird. Moskau
könnte also zu dem Schluss kommen, dass man zunächst wissen
will, ob der INF-Vertrag in Kraft bleibt und/oder der New-START-Vertrag
über 2021 hinaus verlängert wird, bevor man sich hinsichtlich
der Einstufung der RS26 rechtlich endgültig festlegt.
In dem derzeit laufenden Poker um die Zukunft der nuklearen
Rüstungskontrolle bietet das Vorteile und zusätzliche
Flexibilität. Solange die RS26 nicht offiziell als
strategische Waffe eingestuft ist, kann offen bleiben, ob die Raketen
dieses Typs künftig gegen die Obergrenzen aus dem New START
Vertrag angerechnet werden müssen. Zudem würde es der
New-START-Vertrag Moskau erlauben, die Zahl seiner ICBM-Flugkörper
zu erhöhen. Bislang ist aus Kostengründen nicht geplant, dass
Russland dessen Obergrenzen ausschöpft. Würde der INF-Vertrag
dagegen scheitern, könnte die RS26 innenpolitisch zum Symbol
dafür werden, dass der Kreml vorgesorgt hat und einen Trumpf in
der Hinterhand hält. So lange wie die RS26 nicht in Serie
produziert oder stationiert wird, stellt sie dagegen auch keine
Verletzung des INF-Vertrags dar.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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