NATO-Gipfel: Hybride Kriegsführung kann militärische Beistandspflicht auslösen
von Otfried Nassauer
Versteckt in der 79 Punkte und 38 Seiten langen Schlusserklärung des NATO-Gipfels
von Brüssel hat die Allianz ihre Verpflichtungen aus dem
Nordatlantik-Vertrag um eine entscheidende neue Interpretation
erweitert. In Punkt 21 der Gipfelerklärung heißt es: "In
Fällen von hybrider Kriegsführung könnte der Rat wie bei
einem bewaffneten Angriff beschließen, den Bündnisfall nach
Artikel 5 des Washingtoner Vertrags auszurufen." Zwar liege die
primäre Verantwortung für den Umgang mit hybriden Bedrohungen
bei dem angegriffenen Allianzmitglied, doch sei die Allianz bereit,
"auf Beschluss des Rates einen Verbündeten in jeder Phase einer
hybriden Operation zu unterstützen" und werde
Unterstützungsteams zur Hybrid-Abwehr "aufstellen, die den
Verbündeten auf ihr Ersuchen hin maßgeschneiderte,
zielgerichtete Unterstützung bei ihrer Vorbereitung und Reaktion
auf hybride Aktivitäten zur Verfügung stellen."
Die Formulierungen sind vorsichtig gewählt und das aus gutem
Grund: Zum einen stellt hybride Kriegführung, zu der in der Nato
auch Täuschmaßnahmen, verdeckte Operationen, Propaganda,
wirtschaftlicher Druck, Cyberangriffe oder der Einsatz irregulärer
Kämpfer gezählt werden, nicht zwingend einen Angriff auf das
Territorium eines Staates dar. Sich in einem solchen Fall genauso auf
den Artikel V des NATO-Vertrages zu beziehen wie im Falle eines
militärischen Angriffs auf ein Bündnismitglied,
untergräbt die auch der Charta der Vereinten Nationen grundlegende
Definition, dass nur der Angriff auf das Territorium eines anderen
Staates dem Angegriffenen das Recht zur militärischen
Selbstverteidigung gibt. Ein Cyberangriff, dessen Verursacher
möglicherweise nicht einmal eindeutig festgestellt werden kann,
erfüllt dieses Kriterium kaum.
Zum anderen wurde die erweiterte Auslegung der Beistandspflicht nach
Artikel 5 des NATO-Vertrages durch die Staats- und Regierungschefs der
NATO-Staaten beschlossen und nicht in Form einer Vertragsänderung.
Man kann also fragen, ob die Staats- und Regierungschefs ihre
Kompetenzen überschreiten, wenn sie einen solchen Schritt
vornehmen. Eine Vertragsänderung hätte dagegen eine
Ratifizierung des modifizierten NATO-Vertrags durch die nationalen
Parlamente erfordert. Auch diesen Vorschlag gab es. Der britische
Abgeordnete Lord Jopling hat Ende Mai bei der Frühjahrssitzung der
Parlamentarischen Versammlung der NATO vorgeschlagen, zu diesem Zweck
einen gesonderten Artikel 5B in den NATO-Vertrag einzuführen.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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