Neue atomare Mittelstreckenwaffen für Europa?
von Otfried Nassauer
Abschnitt 1243
des neuen Haushaltsgesetzes für das US-Verteidigungsministerium
ging im vorweihnachtlichen Trubel unter. Gut versteckt in dem
740-Seiten-Wälzer, mit dem der Kongress im Dezember
Verteidigungsausgaben von rund 700 Milliarden Dollar autorisierte,
steht eine Forderung an Verteidigungsminister James Mattis. Er soll im
kommenden Jahr ein Programm in die Verteidigungsplanung aufnehmen, um
„ein konventionelles, landgestütztes
Marschflugkörpersystems mit einer Reichweite zwischen 500 und
5.500 Kilometern“ zu entwickeln. Binnen vier Monaten soll er
zudem einen Bericht vorlegen, in dem die Kosten, die Zeitpläne und
die Machbarkeit eines neuen Systems mit denen eines Umbaus vorhandener
Systeme verglichen werden.
Der Haken an der Sache: Genau solche Systeme verbietet ein wichtiger
Abrüstungsvertrag. Der 1987, also vor 30 Jahren, abgeschlossene INF-Vertrag
besagt, dass die USA und Russland keine landgestützten
Flugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5.500 Kilometern mehr
testen und stationieren dürfen. Ganz gleich, ob sie einen
konventionellen oder einen nuklearen Sprengkopf tragen. Warum also
setzt sich Washington jetzt dem zu erwartenden Moskauer Vorwurf aus, es
plane seinen Ausstieg aus dem INF-Vertrag? Warum soll ein System
entwickelt werden, dessen Stationierung verboten wäre?
Die Befürworter im Kongress argumentieren: Wir vergelten nur
Gleiches mit Gleichem. Es gehe darum, Druck auf Moskau auszuüben,
damit Russland den INF-Vertrag wieder einhält. Dahinter steckt ein
Vorwurf. Seit Juli 2014, kurz nach der Krim-Krise, wirft die
US-Regierung Moskau offiziell in ihren jährlichen Berichten zur Einhaltung von Rüstungskontrollverträgen
vor, den INF-Vertrag zu verletzen. Darauf verweist auch das
Haushaltsgesetz. Moskau habe bereits 2008 ein landgestütztes
Marschflugkörpersystem verbotener Reichweite getestet, und –
so der Stellvertretende Generalstabschef der US-Streitkräfte im
März 2017 vor einem Kongressausschuss – inzwischen sogar
außerhalb eines Testgebietes stationiert.
Washington bezeichnete den fraglichen Marschflugkörper lange als
SSC-8. Vor drei Jahre kamen zivile Experten zu dem Schluss, damit
müsse wohl der Flugkörper 9M729, eine Entwicklung der Firma
Novator, gemeint sein und nicht der Flugkörper 9M728 (SSC-7), der
als vertragskonforme Zweitbewaffnung des Raketensystems Iskander
eingesetzt wird. Im Dezember 2017 bestätigte auch das Weiße
Haus diese Analyse. Man habe Moskau bereits detaillierte Hinweise
gegeben, um die anderen Komponenten des fragwürdigen Systems zu
identifizieren. Russland leugne jedoch, dass es überhaupt ein
Problem gebe. Der Kern des Streits und der Geheimhaltung dreht sich
also offenbar um das Startfahrzeug, ohne das der Flugkörper nicht
militärisch sinnvoll als Marschflugkörpersystem genutzt
werden und den INF-Vertrag verletzen könnte. Konkreter will
Washington nicht werden. Es teilt keine Einzelheiten mit, nicht einmal
in internen Sitzungen der NATO. Man kann dem US-Vorwurf also nur
glauben, ihn aber nicht anhand eigener Informationen
überprüfen. Bei einer NATO-Ratssitzung am 12. Dezember 2017
formulierte das Bündnis deshalb auch deutlich vorsichtiger als die
USA: „Alliierte [also nicht alle Bündnismitglieder - ON]
haben ein russisches Flugkörpersystem identifiziert, das
ernsthafte Besorgnis hervorruft. Die NATO fordert Russland auf, diese
Sorgen in substantieller und transparenter Weise zu adressieren und
sich auf einen ernsthaften technischen Dialog mit den USA zu
beginnen.“ Schärfere Formulierungen waren nicht
konsensfähig.
Interessant an dem Abschnitt des Haushaltsgesetzes ist aber auch noch
etwas anderes: Er sieht vor, ein „konventionelles,
landgestütztes Marschflugkörpersystems mit einer Reichweite
zwischen 500 und 5.500 Kilometern“ zu entwickeln, kein doppelt,
also nuklear und konventionell verwendbares, wie der Senat es
vorgeschlagen hatte. Dafür kann es mehrere Ursachen geben. Zum
einen wurde über das Gesetz unter großem Zeitdruck
verhandelt. Es kann also sein, dass über diesen kleinen aber
feinen Unterschied aus Zeitgründen nicht mehr diskutiert
wurde. Möglich ist aber auch, dass der Kongress nicht über
jene Vorwürfe einer Vertragsverletzung hinausgehen wollte, die die
USA Russland machen. Dann wäre dies ein Hinweis darauf, dass man
in Washington glaubt, auch das inkrimminierte russische System
existiere bislang nur in einer konventionellen Version.
Alle Beteiligten in den USA und Russland betonen, dass sie den
INF-Vertrag als wichtiges Element der Rüstungskontrolle weiter
ein- und erhalten wollen. Der NATO-Rat forderte dies ebenfalls. Dennoch
sind praktischen Schritte, wie sie das Haushaltsgesetz jetzt
vorschreibt, geeignet den INF-Vertrag politisch weiter zu
schwächen. Sie lassen befürchten, dass ein Spiel um den
„Schwarzen Peter“ begonnen hat. Wer trägt letztlich
die Schuld, wenn der INF-Vertrag gekündigt würde? Wer
verantwortet es, wenn 2021 auch der New START-Vertrag über
strategische Atomwaffen ausläuft, weil er nicht verlängert
wurde?
Diese Gefahr scheint auch Sigmar Gabriel, den deutschen
Außenminister, mittlerweile zu beunruhigen. In der Bild am
Sonntag sagte er Anfang November 2017: „Neue atomare
Mittelstreckenraketen mitten in Europa – das ist leider mehr als
wahrscheinlich“. Und dann fügte er noch hinzu, Europa sei
gerade mit „der Zerstörung all der Erfolge bei
Rüstungskontrolle und Abrüstung konfrontiert, die in den 80er
und 90er Jahren erreicht wurden.“
So richtig diese Warnung zu sein scheint, so sehr wirft sie aber auch
eine andere Frage auf: Trägt die Außenpolitik der
Bundesrepublik an dieser Entwicklung eine Mitschuld? War sie zu passiv?
Hat sie in den letzten Jahren zu wenig Interesse und Initiative an der
Zukunft nuklearer Abrüstung in Europa signalisiert? Dem war wohl
so. Rüstungskontrolle und Abrüstung fußen auf der
Bereitschaft zu Transparenz, Dialog, Kooperation und der Anerkennung
berechtigter Interessen der Gegenseite. Daran mangelt es seit Jahren.
Passivität in Berlin – und sei es um des lieben Friedens
willen in der NATO - kann aktiv dazu beitragen, dass ein Scheitern des
INF-Vertrages zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung wird.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
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