Original Artikel
29. Mai 2014
aktualisiert im Dezember 2014


Deutsche Pistolen in Kolumbien
Über ein Loch in der Endverbleibskontrolle

von Otfried Nassauer

Die Endverbleibsregelungen für deutsche Rüstungs- und Waffenlieferungen sind löchrig wie ein Schweizer Käse. Mehr Loch als Käse. Meist geben sich die deutschen Behörden mit einer schriftlichen Erklärung des Empfängers zufrieden. Überprüft, ob die Lieferungen tatsächlich dort sind und bleiben, wo sie angeblich hingehen, wird in den allermeisten Fällen nicht.

In den letzten Tagen wurde ein weiteres Loch sichtbar. Und das kam so: Der NDR und die Süddeutsche berichteten, Pistolen des Herstellers Sig Sauer aus Eckernförde seien in großen Mengen über dessen Schwesterfirma in den USA und die US-Army an die kolumbianische Nationalpolizei geliefert worden. Zeugen, Seriennummern, Prüfstempel – alles belegt, es handelt sich um Waffen aus Deutschland.

Kolumbien jedoch ist seit Jahrzehnten ein Land im Bürgerkrieg und die staatlichen Organe nehmen es mit den Menschenrechten und ungerechtfertigter Gewaltanwendung nicht so wirklich ernst. In Deutschland wäre eine Lieferung dieser Pistolen an die kolumbianische Polizei deshalb nicht genehmigt worden. Sie wurde auch nie beantragt. In den USA dagegen ist die Lage anders. Denn die US-Regierung betrachtet die Unterstützung der Regierung in Bogota als stabilisierende Maßnahme. Als „Ertüchtigung“ eines regionalen Partners wie Kanzlerin Angela Merkel zu sagen pflegt. Jahrelang half Washington der kolumbianischen Rechten mit dem „Plan Colombia“ und Hunderten Millionen von Dollars pro Jahr bei der Bekämpfung von Drogenhandel und linksgerichteten Guerillas. Dass auch rechte Todesschwadronen die Regierung unterstützen und von dieser oft geduldet oder gefördert wurden, stört Washington nicht.

Im April 2009 bestellte das US-Army Material Command bei Sig Sauer Inc. aus Exeter in New Hampshire für 306 Millionen Dollar Pistolen. Ein gewaltiger Auftrag. Mit der Lieferung der ersten 55.890 Waffen des Typs SP2022 sollte sofort begonnen werden. Später sollten 42.000 weitere in einem zweiten Los dazukommen. Der Vertrag sollte bis 2012 laufen. Die Pistole werde die „Faustfeuerwaffe der ganzen kolumbianischen Nationalpolizei“, so die Firma stolz in einer Pressemitteilung.

Gefertigt wurde die Waffe 2009 bei der Schwesterfirma in Eckernförde, der Sig Sauer GmbH &Co KG. Dort kaufte Sig Sauer Inc. die gefragten Pistolen regelmäßig in großer Stückzahl ein, um die begehrte Waffe auf dem riesigen Markt der amerikanischen Waffennarren vertreiben zu können. Der gleiche Weg wurde nun genutzt, um die US-Army schnell zu beliefern, damit diese die kolumbianische Nationalpolizei ausstatten konnte. In den Jahren 2009 und 2010 wurden Pistolen aus deutscher Produktion geliefert, erst im Januar 2011 meldete Sig Sauer Inc., man nehme jetzt eine eigene Produktionslinie für diese Waffen in den USA in Betrieb. Einzelne Bauteile kamen vorerst noch weiter aus Deutschland. Zum damaligen Zeitpunkt waren bereits 400.000 dieser Pistolen weltweit verkauft und ausgeliefert worden.

Die Medienberichte gehen davon aus, dass die US Army die Bundesregierung um eine Reexporterlaubnis nach Kolumbien bitten musste. Ein Reexportersuchen aus den USA für diese Lieferung gab es jedoch nie. Ohne Erlaubnis, so die Schlussfolgerung, sei die Lieferung ein Verstoß gegen deutsche Vorschriften, der eigentlich geahndet werden müsse. Die Rüstungsexportrichtlinien der Bundesregierung sehen schließlich vor, dass „grundsätzlich“ keine Rüstungsgüter mehr in ein unzuverlässiges Empfängerland geliefert werden dürfen, bis dort wieder sichergestellt ist, dass die deutschen Endverbleibsbestimmungen wieder eingehalten werden.

Doch das ist wohl ein Irrtum. Die Lieferungen der US-Army nach Kolumbien waren wohl rechtmäßig. Dass dem so ist, liegt an der deutschen Rechtslage in Sachen Endverbleib. Sie hat ein Loch. Eine amtliche Endverbleibserklärung mit einem „Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt“ ist nämlich nur nötig für Kriegswaffen, kriegswaffennahe sonstige Rüstungsgüter und für „sonstige Rüstungsgüter, die nach Umfang oder Bedeutung für einen Kriegswaffe wesentlich“ sind“ wie die für Rüstungsexportgenehmigungen zuständige deutsche Behörde, das BAFA, in einer Bekanntmachung über Endverbleibsdokumente erläutert.

Dazu gehören die Pistolen aber nicht. Sie fallen in die Kategorie der sonstigen Rüstungsgüter und für diese gibt es Ausnahmen. So kann zum Beispiel auf das „Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt“ verzichtet werden. Staaten, die der NATO oder der EU angehören oder diesen gleichgestellt sind, werden anders behandelt als die sogenannten Drittstaaten. Und es gibt eine weitere gravierende Ausnahme, die in diesem Fall greift: Legen Lieferant und Empfänger ein staatliches „Internationales Importzertifikat“ (IC) aus einer bestimmten Gruppe von Empfängerländern vor, so hat dies rechtlich Folgen: Sobald die Waren oder Waffen in ein Empfängerland aus dieser Ländergruppe eingeführt sind, gilt für den weiteren Umgang mit ihnen ausschließlich das nationale Recht des Empfängerlandes, sodass ein „gegebenenfalls anschließender Reexport nach diesen Vorschriften behandelt wird“, erklärt das BAFA. Auf die USA wird diese Reglung angewendet.

Konkret am Fall Kolumbien: Da ein amtliches IC vorlag, schon weil es ab einem Warenwert von 125.000€ bei einem privaten Empfänger wie Sig Sauer Inc. von deutscher Seite gefordert wird, galten für den Weiterverkauf an die US-Army und den Reexport nach Kolumbien nicht mehr die deutschen, sondern die amerikanischen Rechtsregeln. Nach diesen stellt eine Lieferung nach Kolumbien kein Problem dar. Sie war sogar politisch gewollt. Dass die USA wie durch das IC gefordert in solchen Fällen tatsächlich ihr nationales Exportrecht anwenden, ist belegt. Nachweise finden sich in den diplomatischen Fernschreiben, die Wikileaks veröffentlicht hat. Etliche Schreiben fordern örtliche US-Botschaften und Konsulate auf, die Importeure von Sig-Sauer-Waffen zu besuchen und zu befragen, die Sig Sauer Inc. beliefert. 

Das Loch, das diese Ausnahmen reißen, hat eine beachtliche Größe. Denn die Zahl der Länder, in denen diese Lücke für Exporte in Drittstaaten genutzt werden kann, ist ziemlich groß. Vor allem: Dazu gehören viele für den internationalen Handel bedeutende Staaten. Derzeit können solche ICs aus den Ländern Australien, Belgien, China, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Hongkong, Irland, Italien, Japan, Kanada, Luxemburg, Neuseeland, Niederlande, Norwegen, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, Schweiz, Singapur, Slowakische Republik, Spanien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn  und natürlich den USA genutzt werden. Für China, Polen, die Slowakische Republik, die Tschechische Republik und Ungarn gilt allerdings ein „neues IC ("Importer Statement on End-User and End-Use"), in dem bereits auch der künftige Endverwender und zum Teil auch die spezielle Endverwendung genannt werden müssen.

Offen bleibt die Frage, ob die USA sich beim Import der Herstellungstechnologie für die Sig Sauer Pistolen vom Typ 2022 auf ein „Reexportverbot mit Erlaubnisvorbehalt“ eingelassen haben. Ein solches Verbot ist heute regelmäßig durch den Anhang 4 der Endverbleibserklärung zum Export solcher Unterlagen und Technologie gefordert. Doch auch ein US-Verstoß gegen diese Vorgabe wäre nur dann gegeben, wenn die Technologie zur Herstellung der SP2022 tatsächlich aus Deutschland (und nicht z.B. aus der Schweiz) erfolgt wäre und es zugleich keine ähnlich weitreichende Umgehungsmöglichkeit gäbe wie sie durch die ICs für in Deutschland hergestellte Pistolen geschaffen wurde. Zumindest letzteres ist unwahrscheinlich. Warum sollte es unmöglich sein, bei einen Technologieexport, der zu den Exporten sonstiger Rüstungsgüter zählt, dem BAFA ebenfalls ein staatliches IC des Empfängerlandes vorzulegen und damit den deutschen Erlaubnisvorbehalt aus dem Anhang 4 der Endverbleibserklärung gleich wieder aufzuheben? Jedenfalls bei Geschäften mit der oben beschriebenen großen Ländergruppe. Es ist sogar davon auszugehen, dass dies nicht nur möglich ist sondern auch immer wieder genutzt  wird. Dann aber gäbe es gleich noch ein weiteres großes Loch im System der deutschen Endverbleibsregelungen.

Zeit also, darüber nachzudenken, wie diese und andere Lücken in Zukunft geschlossen werden können. Einen Anlass gibt es auch. Der grüne Bundestagsabgeordneten Hans Christian Ströbele und Katja Keul haben vor dem Bundesverfassungsgericht geklagt, weil die Bundesregierung den Bundestag unzureichend und zu spät über die deutschen Rüstungsexporte und deren Genehmigungen unterrichtet. Im Mai hörte das Gericht dazu die Parteien des Verfahrens und einige Experten an. Die Richter stellten in diesem Kontext viele Fragen, die über die Hauptstoßrichtung der Klage hinausgingen. Sie interessierten sich z.B. auch für die Rolle von Voranfragen und der Reaktion der Behörden darauf und stellten Fragen zur Kontrolle des Endverbleibs deutscher Rüstungslieferungen. Wenn Richter solche Fragen stellen, dann kann dies ein Hinweis darauf sein, dass sie weitergehende verfassungsrechtliche Probleme sehen, als jene, auf deren Änderung die Klage direkt zielt. In den Regierungsfraktionen scheint die Anhörung jedenfalls eine neue Nachdenklichkeit ausgelöst zu haben. Überraschend bemerkte der verteidigungspolitische Sprecher der SPD, Rainer Arnold, bei einer Podiumsdiskussion im ARD-Hauptstadtstudio kurz darauf: Bei den Endverbleibsregelungen gebe es künftig noch Handlungsbedarf.


Dezember 2014: Ein überfälliger Nachtrag 

ig Sauer in Eckernförde hat die in diesem Artikel geschilderte Lücke im Endverbleibsrecht zwar gekannt, aber offenbar nicht genutzt. Gegen die Firma wird weiterhin wegen möglicher Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht ermittelt. Die Behörden haben zudem ein Überprüfung der Zuverlässigkeit eingeleitet, die faktisch weitere Ausfuhrgenehmigungen vorerst ausschließt. Da Sig Sauer stark vom Exportgeschäft abhängig ist, trifft dieses Verdikt die Arbeitnehmer des deutschen Kleinwaffenherstellers hart. 

Die Eigentümer lassen seit August 2014 kurzarbeiten und planen die Entlassung von knapp Zweidrittel der derzeitigen Mitarbeiterschaft für den März 2015. Die Produktion von Sig Sauer soll weitgehend von  der US-Schwester Sig Sauer Inc. fortgeführt werden. In Eckernförde sollen nur 49 Mitarbeiter verbleiben und die Firma mit einer Restproduktion von gazen 25 Pistolen und 5 Sportgewehren pro Tag überleben – ein rechnerisch wenig glaubwürdiger Ansatz. Schulden der Deutschen vor allem bei der ihrer US-Schwester, so argumentieren die Eigentümer, lassen keine andere Wahl, da Technologierechte und andere geldwerte Substanz bereits früher an die US-Tochter abgetreten worden seien.

Diese Ankündigungen rufen neue Fragen hervor: Mitte des letzten Jahrzehnts beschäftigte Sig Sauer in Eckernförde noch rund 500, später 450 Menschen. 2009 kam es zu ersten umfangreichen Entlassungen, weil zuvor die gewinnträchtige Jagdwaffenproduktion an eine Konzernschwester in Isny abgetreten werden musste. Danach sank die Mitarbeiterzahl weiter auf heute knapp 140 Personen – trotz größerer Aufträge wie der Bestellung aus Kolumbien, die für die US-Schwester abgearbeitet wurden. Wie kam dann es zu den Schulden der Deutschen bei ihrer US-amerikanischen Schwester, wenn dort lukrative Geschäfte wie das Kolumbien-Geschäft nur abwickeln konnte, weil man auf die Produktion in Deutschland setzen konnte? Fielen dabei die Kosten in Deutschland, die Gewinne aber in den USA an? Folgt die Verlagerung der Produktion in die USA einem schon länger existierenden Plan? Indizien für Letzteres gibt es.

Sig Sauer Inc. hat seine Produktions- und Geschäftsräume in den USA von Exeter in New Hampshire ins nahegelegene Newton verlegt und sich dort ganz erheblich auf mehr als 19.000 Quadratmeter vergößert. Man arbeite jetzt mit neusten Maschinen, von denen keine älter als drei Jahre sei, verkündete die Geschäftsführung. Am neuen Standort befinde sich jetzt das „ globale Hauptquartier“. Berichten zufolge soll die Kapazität der neuen Produktionsanlagen bei einer halben Million Schusswaffen pro Jahr liegen. Das Umzugsvorhaben begann bereits im März 2012. Es sollte bis Ende 2013 abgeschlossen sein. Als der Expansionskurs in den USA beschlossen wurde, war von potentiellen Exportvergehen in Deutschland noch keine Rede. Der Geschäftsführer von Sig Sauer Inc., Ron Cohen, erzählte darüber hinaus bereits im Juni 2014 Nick Leghorn, einem führenden Blogger der Kleinwaffenszene, dass Sig Sauer bis 2015 seine gesamte Produktion in die USA verlagern und nicht mehr auf Importe aus Deutschland angewiesen sein. In Deutschland war damals von Entlassungen noch nicht die Rede.



ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS