Die Beistandsverpflichtung der EU – Nein sagen wird schwer
von Otfried Nassauer
Frankreich hat seine Partner mit der Reaktion auf die
Terroranschläge in Paris überrascht. Es bittet nicht
die NATO, sondern die Europäische Union um Beistand. Die
Vereinten Nationen haben mit einer einstimmigen Resolution mittlerweile
auch ein militärisches Vorgehen gegen den IS und andere
Terrorgruppen aus Syrien und dem Irak gebilligt. Das
französische Vorgehen folgte dabei einem strategischen
Ansatz.
Schon kurz nach den Anschlägen bezeichnete
Präsident Francois Hollande die Anschläge als
„Akt des Krieges“, der „von
außen organisiert“ worden sei. Er wertete die
Terrororganisation IS damit indirekt zu einem Quasi-Staat auf. Diese
Einstufung erlaubte es Paris jedoch, sich auf das
Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Charta der Vereinten
Nationen zu berufen. Noch größere
Überraschung rief Hollandes zweiter Schritt hervor: Frankreich
rief den Artikel 42 (7) des EU-Vertrages an. Dieser enthält
die militärische Beistandsverpflichtung der EU. Diese wiederum
ist verbindlicher formuliert als in der NATO. Während in der
NATO jedes Mitglied „für sich und im
Zusammenwirken mit den anderen“ die Maßnahmen
trifft, die es „für erforderlich
erachtet“, um einen Angriff abzuwehren,
„schulden“ (shall have an
obligation“) in der EU „die anderen
Mitgliedstaaten“ dem Angegriffenen „alle in ihrer
Macht stehende Hilfe und Unterstützung“, die das
Selbstverteidigungsrecht dem Angegriffenen zubilligt. Die Verpflichtung
in der EU geht also weiter als jene in der NATO.
Mit der Berufung auf Artikel 42(7) verzichtete Paris
zugleich auf die Anrufung einer anderen Solidaritätsklausel
aus den EU-Verträgen. Diese findet sich in Artikel 222 und
regelt die gegenseitige Unterstützung im Falle einer Notlage
im Inneren eines Mitgliedstaates, also zum Beispiel bei
großen Naturkatastrophen oder explizit auch bei
großen Terroranschlägen. Zwei Gründe
dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein. Zum einen
fehlt dem Artikel 222 ein direkter Bezug auf das
Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der VN-Charta und damit eine
explizite Möglichkeit, Unterstützung bei
militärischen Aktionen im Ausland einzufordern. Zum zweiten
ist in diesem Artikel klar geregelt, dass und welche Gremien der EU zu
beteiligen sind, in denen dann einstimmig entschieden werden muss.
Solche Vorgaben fehlen in Artikel 42(7). Er bietet also eine
größere Flexibilität für das
weitere Vorgehen und erlaubt es Frankreich, sich bilateral mit den
einzelnen Mitgliedstaaten zu koordinieren.
Diesen bilateralen Ansatz verfolgte Paris letztlich auch
bei der Resolution (UNSC2249(2015)) des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen, die spät am Abend des 20. Novembers 2015 einstimmig
verabschiedet wurde. In dieser wird nicht - wie zunächst
häufig vermutet - auf das Kapitel VII der Charta der vereinten
Nationen Bezug genommen, sondern offenbar in Absprache mit Russland und
den USA ein anderer Weg beschritten, um die Anwendung
militärischer Gewalt gegen den IS rechtlich abzusichern.
Die Aktivitäten des IS, aber auch anderer Terrorgruppen wie
der Al-Nusra-Front und anderer Al-Kaida-naher Gruppen in Syrien und im
Irak werden als „beispiellose Bedrohung des internationalen
Friedens und er Sicherheit“ gebrandmarkt. Alle
Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die „die
Fähigkeit dazu besitzen“ werden dazu aufgerufen
„alle notwendigen Maßnahmen“, also
einschließlich militärischer, zu ergreifen,
„um den sicheren Rückzugsraum zu
auszurotten“, der „in signifikanten Teilen Syriens
und den Iraks etabliert wurde“. Dabei soll in
Übereinstimmung mit dem internationalen Recht und insbesondere
mit der Charta der Vereinten Nationen gehandelt werden. Mit diesen
Formulierungen wird das Problem umgangen, dass die Resolution ein
militärisches Handeln auf dem Territorium souveräner
Mitgliedstaaten (Irak und Syrien) legitimiert und das in der Charta der
Vereinten Nationen verankerte Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen
punktuell außer Kraft setzt. Im Fall des Iraks wird zudem auf
Briefe verwiesen, mit denen der Irak bestätigt, dass solche
Zonen auf seinem Staatsgebiet entstanden sind.
Der überraschende Schritt, die EU und nicht in
der NATO um Beistand zu bitten, eröffnet Paris weitere
Vorteile. Es kann Russland in sein Vorgehen einbinden, ohne an den
Klippen der aktuellen NATO-Streitigkeiten mit Moskau zu scheitern.
Paris muss auch nicht fürchten, dass Washington sein weiteres
Vorgehen über die NATO dominiert. Es muss lediglich darauf
achten, dass es Augenmaß wahrt. Es darf seine
europäischen Verbündeten nicht überfordern
und den USA keinen zu großen Anlass bieten,
Frankreich vorzuwerfen, es nutze seine Rolle als Opfer des Terrors,
um die EU als Konkurrenz zur NATO aufzubauen. Denn das
französische Vorgehen erlaubt noch mehr: Paris kann durch
seine Berufung auf den Artikel 42 (7) erste
Präzedenzfälle für die künftige
Europäische Verteidigungspolitik schaffen.
Was Frankreich konkret von seinen europäischen
Partner fordern wird, ist letztlich noch offen. Derzeit geht es Paris
vor allem darum, eine breite rechtliche und politische Basis
für künftige Schritte zu schaffen, die Mitglieder der
EU in die Pflicht zu nehmen. Ist das erreicht, können konkrete
Bitten um politische und militärische Unterstützung
formuliert werden. Dabei ist damit zu rechnen, dass Frankreich nicht
nur über militärische
Unterstützungsforderungen wie zum Beispiel die Entlastung bei
seinen Auslandseinsätzen oder verstärkten Angriffen
auf den IS nachdenkt. Es könnte seine Partner auch bitten,
Frankreich die Nichteinhaltung der finanziellen
Stabilitätskriterien im Rahmen der EU zu ermöglichen.
Auch im Rahmen der Vereinten Nationen dürfte Paris
über eine rein militärische Reaktion hinausdenken.
Sicherheitspolitik wird in Paris nur selten auf deren
militärische Aspekte beschränkt.
Die auf Artikel 42(7) gestützten Bitten
Frankreichs abzuschlagen oder sich ihnen gar zu verweigern
wäre für die anderen EU-Staaten kaum
möglich. Das gilt auch für Deutschland.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
|