Aktualisierter Beitrag
23. November 2015
Originalbeitrag in:
Die Tageszeitung, 18.November 2015


Die Beistandsverpflichtung der EU – Nein sagen wird schwer

von Otfried Nassauer


Frankreich hat seine Partner mit der Reaktion auf die Terroranschläge in Paris überrascht. Es bittet nicht die NATO, sondern die Europäische Union um Beistand. Die Vereinten Nationen haben mit einer einstimmigen Resolution mittlerweile auch ein militärisches Vorgehen gegen den IS und andere Terrorgruppen aus Syrien und dem Irak gebilligt. Das französische Vorgehen folgte dabei einem strategischen Ansatz. 

Schon kurz nach den Anschlägen bezeichnete Präsident Francois Hollande die Anschläge als „Akt des Krieges“, der „von außen organisiert“ worden sei. Er wertete die Terrororganisation IS damit indirekt zu einem Quasi-Staat auf. Diese Einstufung erlaubte es Paris jedoch, sich auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen zu berufen. Noch größere Überraschung rief Hollandes zweiter Schritt hervor: Frankreich rief den Artikel 42 (7) des EU-Vertrages an. Dieser enthält die militärische Beistandsverpflichtung der EU. Diese wiederum ist verbindlicher formuliert als in der NATO. Während in der NATO  jedes Mitglied „für sich und im Zusammenwirken mit den anderen“ die Maßnahmen trifft, die es „für erforderlich erachtet“, um einen Angriff abzuwehren, „schulden“ (shall have an obligation“)  in der EU „die anderen Mitgliedstaaten“ dem Angegriffenen „alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“, die das Selbstverteidigungsrecht dem Angegriffenen zubilligt. Die Verpflichtung in der EU geht also weiter als jene in der NATO.

Mit der Berufung auf Artikel 42(7) verzichtete Paris zugleich auf die Anrufung einer anderen Solidaritätsklausel aus den EU-Verträgen. Diese findet sich in Artikel 222 und regelt die gegenseitige Unterstützung im Falle einer Notlage im Inneren eines Mitgliedstaates, also zum Beispiel bei großen Naturkatastrophen oder explizit auch bei großen Terroranschlägen. Zwei Gründe dürften dafür ausschlaggebend gewesen sein. Zum einen fehlt dem Artikel 222 ein direkter Bezug auf das Selbstverteidigungsrecht nach Artikel 51 der VN-Charta und damit eine explizite Möglichkeit, Unterstützung bei militärischen Aktionen im Ausland einzufordern. Zum zweiten ist in diesem Artikel klar geregelt, dass und welche Gremien der EU zu beteiligen sind, in denen dann einstimmig entschieden werden muss. Solche Vorgaben fehlen in Artikel 42(7). Er bietet also eine größere Flexibilität für das weitere Vorgehen und erlaubt es Frankreich, sich bilateral mit den einzelnen Mitgliedstaaten zu koordinieren.

Diesen bilateralen Ansatz verfolgte Paris letztlich auch bei der Resolution (UNSC2249(2015)) des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die spät am Abend des 20. Novembers 2015 einstimmig verabschiedet wurde. In dieser wird nicht - wie zunächst häufig vermutet - auf das Kapitel VII der Charta der vereinten Nationen Bezug genommen, sondern offenbar in Absprache mit Russland und den USA ein anderer Weg beschritten, um die Anwendung militärischer Gewalt gegen den IS rechtlich abzusichern.

Die Aktivitäten des IS, aber auch anderer Terrorgruppen wie der Al-Nusra-Front und anderer Al-Kaida-naher Gruppen in Syrien und im Irak werden als „beispiellose Bedrohung des internationalen Friedens und er Sicherheit“ gebrandmarkt. Alle Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen die „die Fähigkeit dazu besitzen“ werden dazu aufgerufen „alle notwendigen Maßnahmen“, also einschließlich militärischer, zu ergreifen, „um den sicheren Rückzugsraum zu auszurotten“, der „in signifikanten Teilen Syriens und den Iraks etabliert wurde“. Dabei soll in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht und insbesondere mit der Charta der Vereinten Nationen gehandelt werden. Mit diesen Formulierungen wird das Problem umgangen, dass die Resolution ein militärisches Handeln auf dem Territorium souveräner Mitgliedstaaten (Irak und Syrien) legitimiert und das in der Charta der Vereinten Nationen verankerte Prinzip der Unverletzlichkeit der Grenzen punktuell außer Kraft setzt. Im Fall des Iraks wird zudem auf Briefe verwiesen, mit denen der Irak bestätigt, dass solche Zonen auf seinem Staatsgebiet entstanden sind.

Der überraschende Schritt, die EU und nicht in der NATO um Beistand zu bitten, eröffnet Paris weitere Vorteile. Es kann Russland in sein Vorgehen einbinden, ohne an den Klippen der aktuellen NATO-Streitigkeiten mit Moskau zu scheitern. Paris muss auch nicht fürchten, dass Washington sein weiteres Vorgehen über die NATO dominiert. Es muss lediglich darauf achten, dass es Augenmaß wahrt. Es darf seine europäischen Verbündeten nicht überfordern und  den USA keinen zu großen Anlass bieten, Frankreich vorzuwerfen, es nutze seine Rolle als Opfer des Terrors, um  die EU als Konkurrenz zur NATO aufzubauen. Denn das französische Vorgehen erlaubt noch mehr: Paris kann durch seine Berufung auf den Artikel 42 (7) erste Präzedenzfälle für die künftige Europäische Verteidigungspolitik schaffen. 

Was Frankreich konkret von seinen europäischen Partner fordern wird, ist letztlich noch offen. Derzeit geht es Paris vor allem darum, eine breite rechtliche und politische Basis für künftige Schritte zu schaffen, die Mitglieder der EU in die Pflicht zu nehmen. Ist das erreicht, können konkrete Bitten um politische und militärische Unterstützung formuliert werden. Dabei ist damit zu rechnen, dass Frankreich nicht nur über militärische Unterstützungsforderungen wie zum Beispiel die Entlastung bei seinen Auslandseinsätzen oder verstärkten Angriffen auf den IS nachdenkt. Es könnte seine Partner auch bitten, Frankreich die Nichteinhaltung der finanziellen Stabilitätskriterien im Rahmen der EU zu ermöglichen. Auch im Rahmen der Vereinten Nationen dürfte Paris über eine rein militärische Reaktion hinausdenken. Sicherheitspolitik wird in Paris nur selten auf deren militärische Aspekte beschränkt. 

Die auf Artikel 42(7) gestützten Bitten Frankreichs abzuschlagen oder sich ihnen gar zu verweigern wäre für die  anderen EU-Staaten kaum möglich. Das gilt auch für Deutschland.



ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS