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14. Februar 2015


Waffen für die Ukraine – Waffen aus der Ukraine?

von Otfried Nassauer


Auch wenn Barack Obama sich noch ziert, der Vorschlag hat politisches Gewicht: Acht ehemals leitende Mitarbeiter seiner Administration forderten ihn Anfang Februar auf, die Ukraine mit Kriegswaffen zu beliefern. Drei Jahre lang solle Kiew für je eine Milliarde Dollar Waffen aus den USA bekommen, um prorussische Separatisten besser bekämpfen zu können. 

In Deutschland traf diese Forderung auf wenig Gegenliebe. Kanzlerin Angela Merkel hielt ihn für eine schlechte und kontraproduktive Idee. Waffenlieferungen, so das Argument, seien Gift für die Suche nach einer diplomatischen Lösung und wahrscheinlich sogar Öl ins Feuer des Konfliktgeschehens. Militärisch könne der Ukraine-Konflikt nicht gelöst werden. Allerdings wurden auch Stimmen laut, die sich für Waffenlieferungen an die Ukraine aussprachen. Sie betonen das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine oder befürworteten Militärhilfe als Druckmittel, das Moskau zum Einlenken bewegen soll. 

Ein Argument, dass immer wieder für Waffenlieferungen ins Feld geführt wird, ist der desolate Zustand der ukrainischen Streitkräfte. Sie konnten den Separatisten in den vergangenen Monaten oft nur wenig entgegensetzen. Ihre Offensiven endeten wiederholt in Geländeverlusten. Veraltete und schlecht gewartete Ausrüstung wurden wiederholt als Grund für ihre geringe Kampfkraft genannt. Die Separatisten dagegen seien aufgrund der Lieferungen schwerer Waffen aus Russland überlegen.  

Diese Begründungslogik verdient einer näheren Betrachtung. Nach dem Zerfall der Sowjetunion erbte die Ukraine ein gewaltiges Waffenarsenal. Dazu gehörten sage und schreibe mehr als 6.128 Kampfpanzer, mehr als 6.739 gepanzerte Kampffahrzeuge, über 3.591 schwere Artilleriesysteme, fast 1.648 Kampfflugzeuge und 271 Kampfhubschrauber.  Ein Teil dieser Waffen, vor allem älteres Material, musste aufgrund des Vertrages über konventionelle Streitkräfte (KSE) verschrottet werden. Übrig blieb jedoch noch immer mehr als genug, um Armee und Nationalgarde in der Ukraine auszustatten: Der Vertrag erlaubte der Ukraine 4.080 Kampfpanzer, 5.050 gepanzerte Kampffahrzeuge, 4.040 großkalibrige Artilleriegeschütze, 1.090 Kampfflugzeuge und 330 Kampfhubschrauber. Weit mehr, als deren Streitkräfte sinnvoll einsetzen konnten.

2013 hatte die Ukraine nach Angaben des Internationalen Instituts für Strategische Studien (IISS) in seiner Military Balance 2014 noch eine Armee von rund 130.000 Soldaten sowie 85.000 paramilitärische Kräfte mit rund 2.200 Kampfpanzern, rund 2.500 gepanzerten Kampffahrzeugen, über 1.900 schweren Artilleriegeschützen und Mehrfachraketenwerfern, über 200 Kurzstreckenraketen, über 200 Kampfflugzeugen und 139 Kampfhubschraubern verfügt haben. Diese gewaltige Streitmacht muss jedoch ein potemkinsches Dorf sein, wenn sie von einer Freischärlertruppe mit einer Größe von maximal 30.000 Bewaffneten mit externer Großwaffen-Unterstützung in massive Verlegenheit gebracht werden kann.

Die Ukraine beschritt neben der vertraglich erforderlichen Zerstörung von Waffen schon bald einen zweiten Weg, um ihre Waffenarsenale zu verkleinern. Es war der Rüstungsexport. Kiew wurde nach dem Ende des Kalten Krieges zu einem der bedeutendsten Waffenexporteure der Welt – sowohl im Blick auf den zwischenstaatlichen Handel als auch im Bereich von Lieferungen mit Schwarzmarktcharakter. Waffen aus der Ukraine waren günstig, robust und vergleichsweise einfach zu handhaben. Rüstungsverkäufe aus Armeebeständen und aus der ukrainischen Industrieproduktion wurden so zu einer wesentlichen Einnahmequelle für die Eliten der Ukraine. Das Stockholmer Friedensforschungsinstitut SIPRI rechnete die Ukraine zeitweilig zu den fünf wertmäßig größten Rüstungsexportnationen. Kiew exportierte pro Jahr Kriegswaffen für deutlich mehr als eine Milliarde Dollar und in einzelnen Jahren mehr als Deutschland. Auch 2013 sah das Institut die Ukraine mit einem Exportwert von mehr als einer halbe Milliarde Dollar noch unter den zehn größten Rüstungslieferanten der Welt.

Die Größenordnungen, die seitens der Ukraine exportiert wurden, sind gewaltig. Das zeigen bereits  die offiziell gemeldeten Zahlen. Die Ukraine hat an das Waffenregister der Vereinten Nationen 1992 bis 2013 den Export von 1.438 Kampfpanzern, 1.800 gepanzerten Kampffahrzeugen, 467 großkalibrigen Artilleriegeschützen und Raketenwerfern, 449 Kampfflugzeugen, 155 Kampfhubschraubern, 5.455 Raketen und Lenkflugkörpern und drei Kriegsschiffen gemeldet.

Auch bei Kleinwaffen und den leichten Waffen erreichen ihre Export-Meldungen an die Vereinten Nationen beträchtliche Größenordnungen: Ausgeführt wurden allein in den Jahren 2007 bis 2013 nach offiziellen Angaben 92.854 Selbstladepistolen und Revolver, 698.527 Gewehre und Karabiner, 237.709 Maschinenpistolen und knapp 10.500 leichte und schwere Maschinengewehre. SIPRI  berichtete 2008 über offizielle Angaben der Ukraine zu Kleinwaffenexporten im Zeitraum 2004-2007, die sich auf insgesamt 721.777 Waffen beliefen. 

Schon die veröffentlichten Zahlen zeigen, dass mit den exportierten Waffen leicht eine komplette Armee ausgestattet werden könnte und sicher auch eine, die schlagkräftiger wäre, als es die der Ukraine derzeit ist.

Zudem: Diese offiziellen Zahlen sind mit Sicherheit noch zu niedrig. Für Großwaffensysteme und Kleinwaffen liegen für 2011 keine Berichte an die Vereinten Nationen vor. Bei den Kleinwaffen meldete die Ukraine erst ab 2007 ihre Daten. Hier wird die Dunkelziffer ukrainischer Exporte und die Rolle der Schwarzmarktgeschäfte für besonders groß gehalten. Die Ukraine hat in der Vergangenheit traurige Berühmtheit als Tatort substantiellen Schwarzhandels mit Waffen und Kriegsmaterial erlangt. Stichwort „Odessa-Connection“.

Bei den exportierten Waffen handelte es sich zunächst vorwiegend um Überschusswaffen. Bald entdeckte die Elite der Ukraine jedoch, dass sich durch den Verkauf modernerer Systeme aus dem Bestand der Armee höhere Einnahmen erzielen ließen und somit auch mehr Geld privatisiert werden konnte. Ein Blick in die Datenbestände von SIPRI zeigt, dass die Ukraine nicht nur Altbestände verkauft, sondern auch moderneres Gerät oder neu produzierte Systeme: Kampfpanzer der Typen T-72, T-80 und T-84, gepanzerte Kampffahrzeuge vom Typ BTR-4, Mehrfachraketenwerfer vom Typ Smerch, Jagdflugzeuge vom Typ Mig-29, Luft-Luftraketen der Typen AA-10 und AA-11 oder Kampfhubschrauber vom Typ Mi-24. 

Die Lieferungen erfolgten ohne Skrupel, gerade auch an Staaten, die sich auf potentielle Waffengänge vorbereiteten: Georgien erhielt den SIPRI-Daten zufolge unter Präsident Saakaschwili aus der Ukraine bis in das Jahr 2008 z.B. 90 Kampfpanzer T-72, 17 Panzerhaubitzen, verschiedene mobile Flugabwehrraketensysteme, Kampfhubschrauber, Panzerabwehrraketen und vieles andere mehr; Bewaffnung, die die georgische Regierung irrigerweise 2008 glauben ließ, sie sei nun militärisch stark genug, um die russischen Kräfte ein für alle mal aus Südossetien zu vertreiben. Saakaschwili berät heute den ukrainischen Präsidenten Poroschenko.

Auch die Rebellen des späteren Südsudans erhielten verdeckt Mehrfachraketenwerfer und mehr als 100 Kampfpanzer vom Typ T-72 aus der Ukraine, die nach der Unabhängigkeit in den Konflikten mit dem Sudan eingesetzt werden sollten. Die Ukraine hatte sie als Exporte ins benachbarte Kenia deklariert. Der Schwindel flog auf, als somalische Piraten einen der Transporte kaperten und das Frachtschiff „Faina“ über Wochen festhielten. Aserbaidschan, einer der beiden Kontrahenten im eingefrorenen Konflikt um Bergkarabach, kaufte große Mengen Waffen in der Ukraine, darunter Panzer, Panzerhaubitzen, Kampfhubschrauber und Mig-29-Kampfflugzeuge. Zu den Empfängern der Waffenlieferungen aus Kiew gehörten auch diverse despotische Regime in Afrika sowie Länder mit hoher Korruption und immer wieder auch Staaten.

Die Daten zeigen auch, dass die Ukraine über viele Jahre nur wenig tat, um ihre eigenen Streitkräfte zu modernisieren. Kiew meldete nur geringe Waffenimporte an die Vereinten Nationen und auch die SIPRI-Daten weisen nur marginale Einfuhren aus. Der Investitionshaushalt der Streitkräfte ist gering und Kiew hat in den letzten Jahren deutlich zu wenig Geld investiert, um seine Streitkräfte auch nur ansatzweise regenerieren zu können.

Welche Fragen wirft das im Blick auf den Vorschlag auf, die Ukraine mit modernen westlichen Waffen auszustatten? Zumindest zwei sind relevant: Erstens: Gibt es irgendwelche Garantien, dass Waffen, die an die Ukraine geliefert werden, dauerhaft dort verbleiben und nicht erneut verkauft und zur privaten Bereicherung genutzt werden? Wohl kaum. Schon deshalb muss der Vorschlag mit größter Vorsicht betrachtet werden. Zweitens: Auch die derzeitigen Machtstrukturen in der Ukraine werden in Kiew und den Regionen werden von Oligarchen dominiert, die nicht selten schon in der Vergangenheit vom Waffenhandel profitiert haben. Es gibt sie in allen Fraktionen. Der Rüstungsexport als Geldquelle war ihnen bislang wichtiger als die Fähigkeit  der Ukraine zur Selbstverteidigung. Es gibt Gründe, dass es sich künftig ändern sollte, aber eine Garantie dass es sich ändert, gibt es nicht. 



ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS