Atomziel 245: Finow
von Otfried Nassauer
Befürchtet wurde es schon lange, nun aber ist
es historische
Gewissheit. Finow war bereits in den Anfangsjahren des Kalten Krieges
fest als Ziel für US-Atomwaffen eingeplant. Das geht aus
Dokumenten hervor, die im letzten Jahr in den USA freigegeben und
inzwischen durch das National Security Archive veröffentlich
wurden. In einer 1956 verfassten „Atomic Weapons Requirements
Study for 1959 - SM 129-56” benannte das Strategic Air
Command (SAC) der USA, also das zuständige Oberkommando
für den Einsatz atomarer Waffen, Finow gleich aus zwei
Gründen als Ziel für Atombomben. Die Studie hatte die
Aufgabe, auf Basis der damals aktuellen atomaren Zielplanung des SAC
darzustellen, wofür der strategische Teil der damals
existierenden 3.592 Atomwaffen der USA eingesetzt werden sollte und
zugleich zu begründen, warum man bis zum Jahr 1959 Tausende
weiterer Atomsprengköpfe bauen sollte. Das Dokument enthielt
genaue Angaben zu einzelnen Zielen, die mit Atomwaffen angegriffen
werden sollten und warum diese Ziele nuklear bekämpft werden
sollten. Drei Jahre später, 1959 verfügten die USA
bereits über knapp 12.300 Atomsprengsätze.
Der Flugplatz Finow, auf dem 1956 gerade sowjetische
Bomber vom Typ
Iljuschin 28 Beagle stationiert wurden, hatte die Nummer 245 auf einer
Liste der rund 1.100 Flugplatzziele für die Atombomben des
Strategic Air Commands in den Staaten des Warschauer Vertrags, Chinas
und Nordkoreas. Er war somit ein recht wichtiges Ziel. An der Spitze
der Liste standen als Nummer 1 und 2 natürlich Moskau und
Leningrad; dicht gefolgt von Zielen aus dem militärischen
Nuklearkomplex der Sowjetunion. Auch die Hauptstädte der
„Satelliten“staaten, also der Mitgliedstaaten des
Warschauer Paktes, rangierten weit vorne. Ostberlin zum Beispiel war
das Ziel Nummer 69. Hohe Priorität hatten aber auch die
Flugplätze. Das SAC war ein US-Kommando, das aus der Luftwaffe
hervorgegangen war und in dem die Offiziere vor allem in den Kategorien
des Luftkrieges dachten. In einem künftigen Krieg sollten also
die Luftwaffen des Kriegsgegners so schnell wie möglich
zerstört und somit Lufthoheit gewonnen werden. Erst danach,
quasi in einem zweiten Schritt, sollten wichtige Infrastrukturziele und
die Mehrzahl der Bevölkerungszentren angegriffen werden, um
den Kriegswillen des Gegners zu brechen. Für sie existierte
eine zweite Zielliste, die rund 1.200 Infrastrukturzentren umfasste.
Als Flugplatz nahe Westberlins und der Bundesrepublik war Finow deshalb
ein wichtiges Ziel. Für solche Ziele war im Voraus festgelegt,
mit welchen Atomwaffen sie angegriffen werden sollten.
Finow war zudem aber auch Teil des Zielkomplexes
„415
Eberswalde“. Eberswalde galt dem SAC als wichtiges
Infrastruktur- und Militärziel. Auch diesem Ziel war bereits
ein vorgeplanter Explosionsort, ein Designated Ground Zero (DGZ),
zugeordnet. Als Begründung dafür gab das SAC an,
Eberswalde sei Standort einer Vielzahl militärischer
Einrichtungen, ein militärisches Hauptquartier, habe eine
Bahnwerkstatt, Tanklager und sei Standort landwirtschaftlicher Technik
sowie ein Bevölkerungszentrum. Finow selbst war
zusätzliches Ziel innerhab dieses Komplexes, da es als
bedeutend für die Elektrizitätversorgung
der DDR angesehen wurde und zwei militärische Depots dort
verortet wurden. Zum Zielkomplex Eberswalde gehörten auch
weitere Orte wie Niederfinow, Angermünde oder Bad Freienwalde.
Der Flugplatz Finow wäre in einem Krieg
früh mit
einer Atombombe großer Sprengkraft angegriffen worden, die am
Boden detonieren sollte. So konnte man am besten sicherstellen, dass
die Landebahn nicht mehr benutzbar gewesen wäre und die
Flugplatzinfrastruktur dauerhaft durch den Feuerball, die Druckwelle
und die radioaktive Verstrahlung außer Gefecht gesetzt worden
wäre. Die ehemals streng geheim eingestuften US-Dokumente
enthalten explizit die Planung, Flugplätze „mit
Waffen hoher Sprengkraft“ anzugreifen.
Das Dokument nennt mit den Atombomben MK15, MK28 und
MK36 drei
verschiedene Waffen großer Sprengkraft, die im Jahr 1959
für solche Aufgaben zur Verfügung stehen sollten. Im
Jahr 1956 war jedoch nur eine Atombombe, die MK15, bereits in
nennenswerter Stückzahl verfügbar. Die konkret
für Finow vorgesehene Waffe ist in dem jetzt
öffentlichen Dokument geschwärzt worden. Es darf aber
als wahrscheinlich gelten, dass für diesen Flugplatz 1956 der
Einsatz einer Atombombe vom Typ MK15 eingeplant war. Das war zum
damaligen Zeitpunkt eine atomare Standardwaffe des SAC. Von dieser
thermonuklearen Waffe wurden insgesamt rund 1.000 Stück
gebaut. Sie hatte eine wählbare, maximale Sprengkraft von 1,69
bis 3,8 Megatonnen (MT) und war die erste Megatonnen-Waffe, die in
großer Stückzahl produziert wurde. Zum Vergleich:
Die Atombombe, die Hiroshima zerstörte, besaß eine
Sprengkraft von „nur“ 12,5 Kilotonnen, also nur
etwa einem Dreihundertstel der maximalen Sprengkraft der
MK15-Bombe.
Die Wirkung einer Bombe dieses Typs lässt sich
heute mit einer
frei zugänglichen, von Wissenschaftlern entwickelten
Softwareprogrammen im Internet simulieren. Der Feuerball hätte
einen Durchmesser von mehr als 4 Kilometern gehabt, die Druckwelle
hätte auf einer Fläche von rund 160 Quadratkilometern
alle Wohnhäuser zerstört. Die beiden folgenden
Screenshots visualisieren die Auswirkungen einer solchen
Atombombe mit einer Sprengkräft von 3,8 Megatonnen, wenn sie
auf dem Boden des Flugplatzes Finow explodiert wäre.
Angenommen wird dabei, dass der Wind aus südwestlicher
Richtung weht. Das erste Bild zeigt den radioaktiven Fallout, das
zweite die Auswirkungen des Feuerballs, der Druckwelle und der direkten
Strahlung im Umfeld des Flugplatzes.
Radioaktiver Fallout
einer Atomwaffe vom Typ MK15, eingesetzt gegen den
Flugplatz Finow
Auswirkungen
des Abwurfs einer Atombombe MK15 auf den Flugplatz Finow
– Feuerball, Druckwelle und radioaktive Direktstrahlung
Der Flugplatz in Finow war natürlich nicht das
einzige
Atomziel auf dem Boden der ehemaligen DDR. Die Planung aus dem Jahr
1956 benennt allein 32 Flugplätze in der DDR, die als atomare
Ziele betrachtet bzw. eingestuft wurden. Dazu gehörten u.a.
auch die nahegegelegenen Flugplätze Werneuchen (Zielnummer
82), Groß-Dölln (70) und Oranienburg (95). Auch
diese sollten frühzeitig mit Waffen hoher Sprengkraft
zerstört werden. Viele Ortschaften zwischen Oranienburg oder
Groß-Dölln und Finow wären also
von einer thermischen Strahlung mehrerer Atomexplosionen betroffen
gewesen, die ausreichend gewesen wäre, um Verbrennungen
dritten Grades hervorzurufen.
Weiter verstärkt worden wären die
Zerstörungen durch Angriffe auf nahegelegene
militärische und industrielle Ziele für Atomwaffen
wie zum Beispiel Eberswalde. Im Gegensatz zu Zielen in der UdSSR
sollten Infrastrukturziele in den
„Satellitenstaaten“, also auch in der DDR,
möglichst nicht mit Atomwaffen großer Sprengkraft
angegriffen werden. Geht man davon aus, dass für solche Ziele
kleinere Atomwaffen des damals üblichen Typs Mark 6 mit einer
minimalen Sprengkraft von 8 Kilotonnen und einer maximalen Sprengkraft
von 160 Kilotonnen zum Einsatz gekommen wären, dann
wäre deren Wirkung natürlich auch in Finow noch zu
spüren gewesen.
Die Planer des Strategic Air Commands gingen 1956 davon
aus, dass die
stärksten, ihnen bis 1959 zur Verfügung stehenden
Atomwaffen eine maximale Sprengkräft von neun oder zehn
Megatonnen haben würden. Sie machten in ihrer Studie deutlich,
dass sie diese Sprengkraft nicht für ausreichend hielten und
plädierten für die Entwicklung und
Einführung einer deutlich stärkeren Waffe mit 60
Megatonnen Sprengkraft.
ist
freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum
für Transatlantische Sicherheit - BITS
|