Originalbeitrag
für das Luftfahrtmuseum Finowfurt e.V.
03. Juli 2016


Atomziel 245: Finow

von Otfried Nassauer

Befürchtet wurde es schon lange, nun aber ist es historische Gewissheit. Finow war bereits in den Anfangsjahren des Kalten Krieges fest als Ziel für US-Atomwaffen eingeplant. Das geht aus Dokumenten hervor, die im letzten Jahr in den USA freigegeben und inzwischen durch das National Security Archive veröffentlich wurden. In einer 1956 verfassten „Atomic Weapons Requirements Study for 1959 - SM 129-56” benannte das Strategic Air Command (SAC) der USA, also das zuständige Oberkommando für den Einsatz atomarer Waffen, Finow gleich aus zwei Gründen als Ziel für Atombomben. Die Studie hatte die Aufgabe, auf Basis der damals aktuellen atomaren Zielplanung des SAC darzustellen, wofür der strategische Teil der damals existierenden 3.592 Atomwaffen der USA eingesetzt werden sollte und zugleich zu begründen, warum man bis zum Jahr 1959 Tausende weiterer Atomsprengköpfe bauen sollte. Das Dokument enthielt genaue Angaben zu einzelnen Zielen, die mit Atomwaffen angegriffen werden sollten und warum diese Ziele nuklear bekämpft werden sollten. Drei Jahre später, 1959 verfügten die USA bereits über knapp 12.300 Atomsprengsätze.

Der Flugplatz Finow, auf dem 1956 gerade sowjetische Bomber vom Typ Iljuschin 28 Beagle stationiert wurden, hatte die Nummer 245 auf einer Liste der rund 1.100 Flugplatzziele für die Atombomben des Strategic Air Commands in den Staaten des Warschauer Vertrags, Chinas und Nordkoreas. Er war somit ein recht wichtiges Ziel. An der Spitze der Liste standen als Nummer 1 und 2 natürlich Moskau und Leningrad; dicht gefolgt von Zielen aus dem militärischen Nuklearkomplex der Sowjetunion. Auch die Hauptstädte der „Satelliten“staaten, also der Mitgliedstaaten des Warschauer Paktes, rangierten weit vorne. Ostberlin zum Beispiel war das Ziel Nummer 69. Hohe Priorität hatten aber auch die Flugplätze. Das SAC war ein US-Kommando, das aus der Luftwaffe hervorgegangen war und in dem die Offiziere vor allem in den Kategorien des Luftkrieges dachten. In einem künftigen Krieg sollten also die Luftwaffen des Kriegsgegners so schnell wie möglich zerstört und somit Lufthoheit gewonnen werden. Erst danach, quasi in einem zweiten Schritt, sollten wichtige Infrastrukturziele und die Mehrzahl der Bevölkerungszentren angegriffen werden, um den Kriegswillen des Gegners zu brechen. Für sie existierte eine zweite Zielliste, die rund 1.200 Infrastrukturzentren umfasste. Als Flugplatz nahe Westberlins und der Bundesrepublik war Finow deshalb ein wichtiges Ziel. Für solche Ziele war im Voraus festgelegt, mit welchen Atomwaffen sie angegriffen werden sollten.

Finow war zudem aber auch Teil des Zielkomplexes „415 Eberswalde“. Eberswalde galt dem SAC als wichtiges Infrastruktur- und Militärziel. Auch diesem Ziel war bereits ein vorgeplanter Explosionsort, ein Designated Ground Zero (DGZ), zugeordnet. Als Begründung dafür gab das SAC an, Eberswalde sei Standort einer Vielzahl militärischer Einrichtungen, ein militärisches Hauptquartier, habe eine Bahnwerkstatt, Tanklager und sei Standort landwirtschaftlicher Technik sowie ein Bevölkerungszentrum. Finow selbst war zusätzliches Ziel innerhab dieses Komplexes, da es als bedeutend für die  Elektrizitätversorgung der DDR angesehen wurde und zwei militärische Depots dort verortet wurden. Zum Zielkomplex Eberswalde gehörten auch weitere Orte wie Niederfinow, Angermünde oder Bad Freienwalde.

Der Flugplatz Finow wäre in einem Krieg früh mit einer Atombombe großer Sprengkraft angegriffen worden, die am Boden detonieren sollte. So konnte man am besten sicherstellen, dass die Landebahn nicht mehr benutzbar gewesen wäre und die Flugplatzinfrastruktur dauerhaft durch den Feuerball, die Druckwelle und die radioaktive Verstrahlung außer Gefecht gesetzt worden wäre. Die ehemals streng geheim eingestuften US-Dokumente enthalten explizit die Planung, Flugplätze „mit Waffen hoher Sprengkraft“ anzugreifen. 

Das Dokument nennt mit den Atombomben MK15, MK28 und MK36 drei verschiedene Waffen großer Sprengkraft, die im Jahr 1959 für solche Aufgaben zur Verfügung stehen sollten. Im Jahr 1956 war jedoch nur eine Atombombe, die MK15, bereits in nennenswerter Stückzahl verfügbar. Die konkret für Finow vorgesehene Waffe ist in dem jetzt öffentlichen Dokument geschwärzt worden. Es darf aber als wahrscheinlich gelten, dass für diesen Flugplatz 1956 der Einsatz einer Atombombe vom Typ MK15 eingeplant war. Das war zum damaligen Zeitpunkt eine atomare Standardwaffe des SAC. Von dieser thermonuklearen Waffe wurden insgesamt rund 1.000 Stück gebaut. Sie hatte eine wählbare, maximale Sprengkraft von 1,69 bis 3,8 Megatonnen (MT) und war die erste Megatonnen-Waffe, die in großer Stückzahl produziert wurde. Zum Vergleich: Die Atombombe, die Hiroshima zerstörte, besaß eine Sprengkraft von „nur“ 12,5 Kilotonnen, also nur etwa einem Dreihundertstel der maximalen Sprengkraft der MK15-Bombe. 

Die Wirkung einer Bombe dieses Typs lässt sich heute mit einer frei zugänglichen, von Wissenschaftlern entwickelten Softwareprogrammen im Internet simulieren. Der Feuerball hätte einen Durchmesser von mehr als 4 Kilometern gehabt, die Druckwelle hätte auf einer Fläche von rund 160 Quadratkilometern alle Wohnhäuser zerstört. Die beiden folgenden Screenshots  visualisieren die Auswirkungen einer solchen Atombombe mit einer Sprengkräft von 3,8 Megatonnen, wenn sie auf dem Boden des Flugplatzes Finow explodiert wäre. Angenommen wird dabei, dass der Wind aus südwestlicher Richtung weht. Das erste Bild zeigt den radioaktiven Fallout, das zweite die Auswirkungen des Feuerballs, der Druckwelle und der direkten Strahlung im Umfeld des Flugplatzes.

Radioaktiver Fallout einer Atomwaffe vom Typ MK15, eingesetzt gegen den Flugplatz Finow

Auswirkungen des Abwurfs einer Atombombe MK15 auf den Flugplatz Finow – Feuerball, Druckwelle und radioaktive Direktstrahlung


Der Flugplatz in Finow war natürlich nicht das einzige Atomziel auf dem Boden der ehemaligen DDR. Die Planung aus dem Jahr 1956 benennt allein 32 Flugplätze in der DDR, die als atomare Ziele betrachtet bzw. eingestuft wurden. Dazu gehörten u.a. auch die nahegegelegenen Flugplätze Werneuchen (Zielnummer 82), Groß-Dölln (70) und Oranienburg (95). Auch diese sollten frühzeitig mit Waffen hoher Sprengkraft zerstört werden. Viele Ortschaften zwischen Oranienburg oder Groß-Dölln  und Finow wären also von einer thermischen Strahlung mehrerer Atomexplosionen betroffen gewesen, die ausreichend gewesen wäre, um Verbrennungen dritten Grades hervorzurufen.

Weiter verstärkt worden wären die Zerstörungen durch Angriffe auf nahegelegene militärische und industrielle Ziele für Atomwaffen wie zum Beispiel Eberswalde. Im Gegensatz zu Zielen in der UdSSR sollten Infrastrukturziele in den „Satellitenstaaten“, also auch in der DDR, möglichst nicht mit Atomwaffen großer Sprengkraft angegriffen werden. Geht man davon aus, dass für solche Ziele kleinere Atomwaffen des damals üblichen Typs Mark 6 mit einer minimalen Sprengkraft von 8 Kilotonnen und einer maximalen Sprengkraft von 160 Kilotonnen zum Einsatz gekommen wären, dann wäre deren Wirkung natürlich auch in Finow noch zu spüren gewesen.

Die Planer des Strategic Air Commands gingen 1956 davon aus, dass die stärksten, ihnen bis 1959 zur Verfügung stehenden Atomwaffen eine maximale Sprengkräft von neun oder zehn Megatonnen haben würden. Sie machten in ihrer Studie deutlich, dass sie diese Sprengkraft nicht für ausreichend hielten und plädierten für die Entwicklung und Einführung einer deutlich stärkeren Waffe mit 60 Megatonnen Sprengkraft.



ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS