Die Erweiterung der NATO und ihr Verhältnis zu Rußland Ulf Terlinden This report is also available as a PDF-File
4. Die Zukunft der NATO-Politik: Osterweiterung oder "Post-Erweiterung"? Eine erste Überprüfung der Erweiterungsbeschlüsse von Madrid war für den Gipfel im April 1999 geplant. Doch die offizielle Erklärung der Staats- und Regierungschefs der NATO ("Washington Summit Communiqué: An Alliance for the 21st Century" 1999, 7.) äußerte zum weiteren Verlauf des Erweiterungsprozesses nur:
Nicht nur wegen dieser Verschiebung rechnen viele Autoren damit, daß eine längere Frist verstreichen wird, bevor die NATO Entscheidungen über eine zweite Erweiterungsrunde auf die Tagesordnung setzt, sollte dies überhaupt geschehen.14 Die erste Entscheidung zur Erweiterung kam - wie oben ausgeführt - als Einigung auf Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners zustande, und es darf bezweifelt werden, daß sich eine solche Einigung schnell wiederholen ließe. Z.B. meldete die Nachrichtenagentur Reuters am 08.02.1999, Bundeskanzler Schröder sei der Auffassung, die NATO brauche nach der Aufnahme der ersten neuen Mitglieder eine "Phase der Konsolidierung". Auch wenn alles auf eine faktische Erweiterungspause hindeutet, wird diese nicht offiziell erklärt werden. Denn einerseits würde dies für Beunruhigung bei den nicht-aufgenommenen MOEL sorgen. Und andererseits ist es gerade einer der Grundzüge der "Politik der offenen Tür", den weiteren Prozeßverlauf offenzuhalten, unabhängig davon, ob tatsächlich jemand "durch die Tür geht". Eine neue Erweiterungsdebatte wird es wenn überhaupt erst nach den russischen und amerikanischen Präsidentschaftswahlen geben. Verändert hat sich seit dem Gipfel von Madrid der argumentative Hintergrund, vor dem eine neuerliche Erweiterungsdiskussion stattfinden würde. Eines der gewichtigsten Motive, das die Einigung zur ersten Erweiterungsrunde ermöglichte, kann nun nicht mehr als Antrieb dienen: Den Zweck der Re-Legitimierung und damit der Erhaltung der NATO haben die erste Erweiterung und andere Veränderungen (z.B. Out-of-Area-Einsätze) zumindest aus Sicht der NATO-Staaten bereits erfüllt. Auf das Gewicht dieser Re-Legitimierungsfunktion deutet auch hin, daß die NATO nach der ersten Erweiterung keinen zusammenhängenden geographischen Raum mehr bildet. Die Aufnahme Ungarns ohne See- oder Landverbindung zu den anderen NATO-Staaten wäre nach rein militärischen Gesichtspunkten wohl eher nicht erfolgt. Auch das Interesse der Bundesrepublik, nicht länger "Frontstaat" der NATO zu sein, ist bereits durch die erste Runde der Erweiterung bedient worden. Ein ähnliches, nun ggf. in Polen entstehendes Interesse dürfte dagegen bei der NATO nicht so sehr ins Gewicht fallen. Die Herangehensweise an eine künftige Kandidatenauswahl hat sich durch den Kosovo-Krieg verändert. Die ernsthaften logistischen Schwierigkeiten, auf die die NATO bei ihrem Aufmarsch rund um den Kosovo traf, und die schwierige sicherheitspolitische Lage, in der sich ihr neues Mitglied Ungarn dabei befand, sind als neue Motive für eine weitere Ausdehnung des Bündnisses hinzugekommen. Auch sonst hat der Kosovo-Krieg in gewissem Umfang die Kandidatenauswahl für den Fall vorbestimmt, daß grundsätzlich über eine zweite Runde gesprochen werden sollte. Während des Washingtoner Gipfels hat die NATO erklärt, sie werde nicht hinnehmen, daß das Belgrader Regime die Sicherheit seiner Nachbarn bedrohe. Damit hat sie laut Clement (1999, 6) gegenüber den Nachbarstaaten Jugoslawiens "eine Sicherheitsgarantie ausgesprochen und ihnen die Beitrittsperspektive eröffnet." Ob die NATO tatsächlich eine Notwendigkeit sieht, diese temporäre Sicherheitsgarantie mittelfristig in eine Mitgliedschaft im Bündnis zu überführen, bleibt fragwürdig - sicher dagegen ist, daß sie mit diesem Argument konfrontiert werden wird. Schon jetzt gehen Beobachter davon aus, daß die Unterstützung Sloweniens und Rumäniens für die Kosovo-Operationen der NATO ihre Kandidatur befördert hat (Clark/Hill 1999). Das frühere Argument, die NATO würde einer Süd-Ost-Ausdehnung nicht zustimmen, weil damit einhergehen könnte, daß die NATO den Balkan ungewollt zu einem ihrer sicherheitspolitischen Schwerpunkte macht, ist jedenfalls durch den Kosovokrieg und den Einsatz der K-FOR stark erschüttert worden. Stets betont die Allianz, es dürfe keinen "Automatismus" bei der Mitgliedschaft geben und daß von der Mitwirkung bei der PfF, im EAPR und dem MAP kein Anspruch auf Aufnahme ausgehe. Und dennoch bedeutet die stetige Steigerung der Zusammenarbeit, besonders in Kombination mit dem Prinzip der selbstbestimmten Differenzierung, die PfF und MAP ermöglichen, eine bisher ungebremste Annäherung der MOEL an die NATO. Eine Begrenzung oder Beendigung dieses Prozesses scheint mit jedem Dollar unwahrscheinlicher zu werden, den die MOEL als Vorleistung in ihre künftige NATO-Mitgliedschaft investieren, denn das Maß der politischen Zurückweisung, das mit einem solchen Signal verbunden wäre, steigt. Sollte es zu einer neuen Runde der Kandidatenauswahl kommen, wird abermals wichtig sein, was Kamp schon für die erste Erweiterungsentscheidung feststellte: Angesichts der sehr unterschiedlichen Zustimmung zu den einzelnen Beitrittskandidaten dürften konkrete Entscheidungen für Neumitglieder nicht so sehr von "objektiven" Tauglichkeitskriterien abhängen, sondern "von der Frage, welches Gewicht der jeweils protegierende NATO-Staat für 'seinen' Bewerberstaat in die Bündnisberatungen einbringen kann" (Kamp 1997, 2). Zu den nicht-angenommenen Aspiranten äußert sich die Gipfel-Erklärung vom April 1999 ("Washington Summit Communiqué: An Alliance for the 21st Century" 1999, 2) wie folgt:
Slowenien und Rumänien können - schon allein anhand der vorgenommenen Reihenfolge in der Aufzählung - als eindeutige Favoriten ausgemacht werden. V.a. Slowenien könnte zu einem neuen Minimalkonsens in der NATO gehören, denn neben seiner Nachbarschaft zum ehemaligen Jugoslawien und seiner wirtschaftlichen Fortschritte spricht v.a. die Tatsache für seine Aufnahme, daß damit ein Landkorridor zwischen Italien und Ungarn geschaffen würde. Nicht überraschend wird es in seinem Beitrittsbegehren daher von Italien unterstützt. Einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes des US-Kongresses zufolge wertete die amerikanische Außenministerin Albright Slowenien am 12.07.1997 als am besten vorbereitet auf eine mögliche Aufnahme in die Allianz (Woehrel 1998, 5). Rumänien wird als Kandidat zwar von Frankreich und Italien unterstützt und ist ebenfalls Jugoslawien-"Anrainer", doch die Bukarester Führung ist bisher auf ablehnende Signale vor allem aus den USA gestoßen, deren Regierung ihre Bedenken wiederholt öffentlich geäußert hat. Im Januar 1999 stellte ein US-Regierungsbeamter fest: "Romania is not on track. It is not that Romania could not pay its modernization bill, but that the economy is in such dire straits that there is concern for its political stability." (Ek 1999, 5) Zwar drängen Dänemark und Norwegen weiterhin darauf, die baltischen Staaten aufzunehmen, und auch die US-Baltikum-Charter wird in diesem Sinne interpretiert. Die große Zahl von Immigranten aus diesen Ländern in den USA bedeutet zudem einen gewissen Anreiz für die amerikanische Regierung. Aber die russischen Vorbehalte lassen eine baldige Aufnahme unwahrscheinlich einscheinen, auch wenn das neueste strategische Konzept der NATO die grundsätzliche Offenheit für alle Bewerber abermals betonte. In Estland und Lettland gibt es große russischsprachige Minderheiten (FR 04.09.1999). Zudem weisen NATO-Militärs darauf hin, daß es den drei Ländern wegen ihrer Lage zwischen Rußland, Weißrußland und der Ostsee an der "strategische Tiefe" fehlt, die zu ihrer konventionellen Verteidigung erforderlich wäre15. Daher erscheint es wahrscheinlicher, daß die baltischen Staaten vorerst mit einer EU-Beitrittsperspektive vertröstet werden - mit Estland wird darüber bereits verhandelt (FR 04.09.1999). Die Slowakei war zu Beginn der ersten Kandidatendiskussion noch hoch gehandelt worden, bis sie wegen der antidemokratischen Tendenzen der Regierung Meciar in die zweite Reihe verwiesen wurde. Dieses Manko scheint mittlerweile behoben zu sein, und auch das o.g. Argument bezüglich der Landverbindung Ungarns träfe auf die Slowakei zu. Dennoch wird sie derzeit nicht unter den "Ersten" der zweiten Runde verortet. Polen, Ungarn und Tschechien unterstützten den Beitritt der Slowakei. 16 Bulgarien, Mazedonien, Albanien gehören zwar allesamt zu den Nachbarn Jugoslawiens, dürften sich aber v.a. wegen ihrer bisher unzureichenden Reformen auf ein langes Warten in Sachen NATO-Aufnahme einstellen müssen.17 Moldawien, Georgien und andere Staaten der GUS werden im o.g. Communiqué gar nicht erwähnt und scheinen derzeit außer Diskussion zu stehen. 5. Interessenverletzungen und "Rücksichten": Die Osterweiterung und Rußland 5.1. "Hardware" und militärische Aspekte Die russischen Forderungen hinsichtlich der militärischen "Details" der NATO-Osterweiterung wurden inhaltlich weitgehend erfüllt, allerdings nicht in der von Rußland geforderten Verbindlichkeit festgelegt. So wurde der Verzicht auf die Stationierung von ausländischen Truppen und Nuklearwaffen in den neu aufgenommenen Staaten zwar in der Gründungsakte des NATO-Rußland-Rates zugesagt, diese ist aber lediglich politisch bindend.18 Der russische Vorschlag, die Stationierung von taktischen Nuklearwaffen in Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik per Vertrag zu verbieten, wurde abgelehnt (Arbatov 1998, 2). Auch der vorläufige, ökonomisch bedingte Verzicht auf eine breit angelegte Modernisierung der Waffenarsenale Polens, Ungarns und der Tschechischen Republik scheint zwar inoffiziell beschlossen zu sein, ist aber in keiner Weise festgeschrieben. Im Gegensatz zur russischen Forderung werden die drei neuen NATO-Mitglieder militärisch voll integriert. Dies hatte auch die Erweiterungsstudie der NATO gefordert ("Study on Enlargement" 1995). Die hierzu nötigen Kommunikationsmöglichkeiten und Kommandostrukturen befinden sich in der Beschaffung bzw. im Aufbau. Diese Integration wird jedoch zumindest für die Aufgaben nach Artikel 5 des Washingtoner Vertrages vorerst von geringer Bedeutung sein, da die "neuen" NATO-Streitkräfte so veraltet sind, daß es nur wenige Möglichkeiten einer effektiven operativen Zusammenarbeit gäbe. Ebenfalls entgegen den russischen Anliegen wird die Verbesserung der Interoperabilität mit den (noch) nicht aufgenommenen MOEL vorangetrieben. Während die PfF mit ihren IPP noch recht allgemein die Herstellung von Interoperabilität v.a. durch gemeinsame Übungen anstrebte, wurde dieses Bemühen durch den Überprüfungs- und Bewertungsprozeß der für die PfF abgestellten Streitkräfte im Rahmen des PARP konkretisiert. Die "erweiterte PfF" zielt über Übungen hinaus auf die praktische Teilnahme der Partnerländer an PSO. Und der zuletzt beschlossene MAP sieht eine Ausdehnung und Intensivierung des PARP auf die gesamten Streitkräfte der Partnerstaaten vor (vgl. 3.2.1). Diese Entwicklung widerspricht den Sicherheitsinteressen Rußlands in gleicher Weise wie die militärische Integration und Modernisierung. Sie bedeutet die Möglichkeit einer effektiveren Operation von Streitkräften in unmittelbarer Nähe Rußlands mit der NATO. Zudem läuft diese Entwicklung gegen die russischen Wünsche nach einer Begrenzung des Erweiterungsprozesses (vgl. 5.3), da sie den Eindruck einer stetigen Annäherung der Aspiranten an das schließliche Ziel der Aufnahme entstehen läßt. 19 Der russischen Forderung nach einer Anpassung des KSE-Vertrages ist die NATO nachgekommen. Es wurden Verhandlungen aufgenommen und noch vor der ersten Erweiterung hat es einen Verhandlungsdurchbruch gegeben. KSE-2 ist während des OSZE-Gipfels in Istanbul im November 1999 unterzeichnet worden (Nassauer/Wellmann 1999, 1). Zwar wurde hier dem russischen Bedürfnis (nach einer Neuregelung) formal entsprochen, dies aber erst mehr als ein halbes Jahr nach der Osterweiterung rechtsverbindlich festgeschrieben (Varwick/Woyke 1999, 112). Zudem bietet KSE-2 der NATO weit größere Möglichkeiten der Truppenmassierung, als dies Rußland letztlich lieb sein konnte. 5.2. Regelung und Status des Verhältnisses Die Entwicklung privilegierter Beziehungen zwischen der NATO und Rußland ist ebenfalls ambivalent zu bewerten. Einerseits ist mit der Gründungsakte durchaus die Grundlage für eine potentiell enge und fruchtbare Zusammenarbeit geschaffen worden. In der Praxis ist diese jedoch bisher nicht entsprechend genutzt worden: "Der neue NATO-Rußland-Rat, verkündet als die Antwort auf Moskaus Probleme mit der Erweiterung der westlichen Allianz, stellt statt dessen ein Schlachtfeld für erneute Streitigkeiten über die Erweiterung und für Auseinandersetzungen über das Verhältnis in der Zeit nach Beendigung des Kalten Krieges dar." (Tigner 1998) Massiv verschärft wurde diese Situation noch durch den russischen Boykott der Konsultationen in Reaktion auf den Krieg der NATO gegen Rest-Jugoslawien. Die Verletzung der Gründungsakte durch die Angriffe bestätigten und verstärkten zudem die russischen Bedenken hinsichtlich ihrer fehlenden völkerrechtlichen Verbindlichkeit.20 Dem Wunsch nach einer Beteiligung Rußlands an der Gestaltung der künftigen europäischen Sicherheitsstrukturen wurde nicht entsprochen. Auch der Ausbau der militärischen Infrastruktur der NATO erfolgt ohne eine Mitsprache Rußlands (Tigner 1998). Es hat zwar im Rahmen des SGR ein Recht auf Konsultationen, aber kein Stimmrecht in Bezug auf die Entwicklungen in der NATO. 5.3. Begrenzung der Osterweiterung Eine eindeutige Einschätzung kann in Bezug auf die von Rußland gewünschte Begrenzung des Osterweiterungsprozesses getroffen werden: Das Gegenteil wurde beschlossen. Die "Politik der offenen Tür", die auch auf dem Jubiläumsgipfel in Washington (April 1999) bestätigt wurde, steht im diametralen Gegensatz zu den russischen Forderungen, auch wenn es in der Praxis eher zu einer Erweiterungspause kommen könnte (vgl. 4.). Auch die Begrenzung der Staatengruppe, mit der ein "intensivierter Dialog" geführt wird, bedeutet keine Einschränkung des Gesamtprozesses, da sich die NATO ausdrücklich auch für andere Staaten offenhält. Die stetige Vertiefung der militärischen Kooperation zwischen der NATO und den bisher abgelehnten Bewerbern (siehe 5.1.) unterstreicht gegenüber Moskau zudem, daß an eine öffentlich ausgesprochene Begrenzung des Prozesses nicht gedacht wird. Selbst die baltischen Staaten, die als Aspiranten aus russischer Sicht bislang am schwersten zu ertragen sind, wurden von einem möglichen Beitritt nicht ausgeschlossen. Die Debatte innerhalb der NATO hat zwar wiederholt deutlich gemacht, daß es hinsichtlich dieser Staatengruppe ein "Problembewußtsein" für die russische Position gibt, dennoch wird eine "endgültige" Entscheidung vertagt und die baltischen Staaten bleiben in der Debatte. Abermals unterstrichen wurde dies durch die Unterzeichnung der US-Baltikums-Charter (siehe 3.2.2.). Auch andere Beispiele machen deutlich, daß die NATO-intere Diskussion ohne viele Tabus und Rücksichten geführt wird.21 Andererseits kann das Ergebnis der Abstimmung über die Zahl der aufzunehmenden Staaten als Entgegenkommen aufgefaßt werden, da zunächst nur drei von fünf Kandidaten der engeren Auswahl aufgenommen wurden. 5.4. Der "europäische Pfeiler" der Allianz Die Frage der "Europäisierung" der NATO können russische Beobachter mit leichtem Optimismus betrachten. Die Entwicklung des CJTF-Konzeptes und die Beschlüsse des EU-Gipfels von Köln deuten darauf hin, daß die europäischen NATO-Staaten auf eine tatsächliche Stärkung des "europäischen Pfeilers" in der NATO hinwirken (vgl. Clement 1999, 8). Der amerikanische Einfluß in Europa würde dadurch mit hoher Wahrscheinlichkeit reduziert. Wie die neue "Eigenständigkeit" der Europäer aber schließlich aus russischer Sicht bewertet werden wird, ist nicht absehbar. Denn auch eine mit militärischen Kapazitäten ausgestattete (und sich ausdehnende) EU könnte dort eines Tages als Bedrohung wahrgenommen werden. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang die erkennbare Interessenkongruenz zwischen Rußland und Frankreich. Frankreich hat seine Wiederannäherung an die NATO an die Bedingung geknüpft, daß eine Europäisierung des Bündnisses eingeleitet wird. Zudem wurde dies als Variante der Osterweiterung der NATO beschrieben, die die Beziehungen zu Rußland nicht in Frage stellt (Manfrass-Sirjaques 1997, 193 und 207). Von den Inhalten der Entscheidungen abgesehen kann beim zeitlichen Ablauf des bisherigen Prozesses eine gewisse Berücksichtigung der russischen Vorbehalte beobachtet werden. So machte sich erst die US-Regierung und dann die NATO insgesamt den Grundsatz zu eigen, daß die Definition einer formalisierten Sicherheitspartnerschaft mit Rußland gleichzeitig zum Erweiterungsprozeß stattfinden sollte (Knapp 1997, 279). Laut Meier (1997, 11) wollten die NATO-Staaten die Gründungsakte auf jeden Fall unterzeichnen, bevor sie beschlossen, mit welchen osteuropäischen Staaten Verhandlungen über einen Beitritt aufgenommen werden sollten. Schon der Beginn der Diskussionen über diese Partnerschaft kann als Orientierung an der russischen Politik interpretiert werden. Am 26.09.1995, wenige Tage nach der Veröffentlichung der Erweiterungsstudie und knapp drei Monate vor den Duma-Wahlen erhielt Rußland den NATO-Entwurf für einen "Politischen Rahmen für die Beziehungen zwischen der NATO und Rußland" (Broer 1996, 321). Dies war geeignet, die Aufmerksamkeit der russischen Öffentlichkeit von der Osterweiterung auf die Kooperationsangebote zu lenken und so die "moderaten" Kräfte in der Duma zu unterstützen. Erfolgreich abgeschlossen wurden die zähen Verhandlungen schließlich im Mai 1997, knapp sechs Wochen vor dem entscheidenden Erweiterungsgipfel in Madrid. Auch die Tatsache, daß US-Präsident Clinton erst im Oktober 1996, drei Monate nach den russischen Präsidentschaftswahlen, ein Datum für die Aufnahme der ersten Kandidaten nannte, wird als "Rücksichtnahme" auf Präsident Jelzin interpretiert. Zugleich wird jedoch darauf hingewiesen, daß mit dem Beginn des nächsten Präsidentschaftswahlkampfes schon im Frühjahr 1999 zu rechnen gewesen sei, der Zeitpunkt, zu dem die Aufnahme der ersten MOEL erfolgte (Hahn 1999, 1). 6. Bewertung für das NATO-Rußland-Verhältnis Trotz rhetorischer Drohungen sind kaum unmittelbare Reaktionen Rußlands auf die Osterweiterung der NATO mit Auswirkungen auf das beiderseitige Verhältnis bekannt geworden. Ein direkter Schaden für das NATO-Rußland-Verhältnis wird - wenn überhaupt bezüglich der Verzögerung der Ratifizierung des START-II-Vertrages diagnostiziert (vgl. Arbatov 1998, 1/2). Aber es ließen sich auch viele andere Gründe dafür benennen, daß START-II bisher nicht von der Duma ratifiziert wurde.22 Die Osterweiterung ist v.a. mittel- und langfristig von Bedeutung, weil sie der Entstehung einer gemeinsamen Perspektive im Wege steht, die Grundlagen der Beziehung in Frage stellt und die interne Entwicklung Rußlands so beeinflußt, daß die dort erforderlichen Reformen behindert werden könnten. Im Kern des Konfliktes steht nicht mehr die abgeschlossene, erste Erweiterungsrunde, sondern das Festhalten der NATO an ihrer "Politik der offenen Tür". Auch wenn die Vertreter der NATO häufig hervorheben, ihre Politik sei nicht gegen Rußland gerichtet, muß sie dort so aufgefaßt werden. Kamp (1997, 4) führt aus: "Auf der anderen Seite ergibt sich aber aus dem Prinzip der offenen Mitgliedschaft für Rußland geradezu zwangsläufig, daß sich die Allianz schrittweise immer weiter ausdehnt und an russisches Territorium heranschiebt. Die Vorstellung einer sich stetig in östlicher Richtung erweiternden NATO ist aber auch in den Augen der eher moderaten Stimmen in Moskau unvertretbar." Die Weigerung der NATO, die Osterweiterung zeitlich oder geographisch zu begrenzen, löst ein dauerhaftes Mißtrauen Moskaus aus. Verstärkt wird dies durch die in der Folge chronischen Reibungen zwischen der NATO und Rußland beim Werben um Einfluß in den MOEL, besonders in den baltischen Staaten und den transkaukasischen Teilen der ehemaligen Sowjetunion. Durch die langsame, aber stetige Steigerung der Kooperation mit ihren Bewerberstaaten demonstriert die NATO diese Politik gegenüber Rußland mit allem Nachdruck. Selbst wenn eine Zeit lang kein Staat durch die "offene Tür" der NATO schreitet, stellt sie eine Dauerbelastung der Beziehungen dar. Zudem ist die Osterweiterung in Rußland ein zentrales Thema der
innenpolitischen Auseinandersetzung23, mit dem v.a. die Kommunisten und
Nationalisten in der Duma bislang Druck auf die Reformer und auf den Kreml ausüben
können. Sie profilieren sich dabei u.a. durch Forderungen nach höheren
Verteidigungsausgaben und einem härteren Kurs gegenüber der NATO. Arbatov (1998, 1)
zufolge behindert dies auch Reformen beim Militär24. Es erscheint absurd, daß
der Westen einerseits politische, ökonomische und militärische Reformen von Rußland
erwartet, zugleich aber nicht bereit ist, von einem fortschreitenden und unberechenbaren
Umbau des sicherheitspolitischen Umfeldes Rußlands abzusehen, der dort als Bedrohung
wahrgenommen wird und somit Reformen teilweise verhindert. Vielfach wird in der wissenschaftlichen Debatte auf den Umbau der NATO
verwiesen, der eine grundsätzliche Öffnung des Bündnisses für Elemente kooperativer
Sicherheit mit sich gebracht habe (z.B. Wallander/Keohane 1999). Demnach ist die NATO nun
nicht mehr (allein) ein exklusiver Klub von Militärmächten, sondern strebt zugleich
Sicherheit durch Zusammenarbeit mit allen interessierten Staaten an. Hervorzuheben ist
hier jedoch der Unterschied in der Art, in der sich die Beziehungen der NATO-Bewerber und
Rußlands zur NATO jeweils im Rahmen der bestehenden Mechanismen entwickeln können.
Während die Bewerberstaaten in einem vorwiegend selbstbestimmten, differenzierten Prozeß
(MAP) mit relativer Verläßlichkeit auf die Mitgliedschaft in der NATO zusteuern,
ist Rußland in weit größerem Umfang regelmäßig auf die Kompromißbildung mit der NATO
angewiesen, ohne dabei ein solches, gemeinsam definiertes Ziel vor Augen zu haben. Zwar
bekannte sich auch die NATO in der "Gründungsakte" zur Kooperation mit
Rußland, der geringe Stellenwert, den das Dokument für die NATO besitzt, läßt dieses
Bekenntnis jedoch zweifelhaft erscheinen. Verschärft wird diese Situation noch durch die gegenwärtige Asymmetrie im Verhältnis zwischen Rußland und der NATO. Rußland verfügt nur über wenig Druckmittel, mit denen es auf die Verletzung seiner Interessen reagieren und das Kooperationsinteresse des Westens steigern könnte. Z.B. setzte Moskau die Kooperation im SGR als Antwort auf das Vorgehen der NATO gegen Rest-Jugoslawien aus. In der Folge konnte dieses Gremium, das der Entwicklung enger Beziehungen zwischen NATO und Rußland dienen sollte und dessen Einrichtung Rußland ein Stück weit für die Osterweiterung "entschädigen" sollte, seine Funktion nicht erfüllen. Das Ergebnis der Anwendung dieses Druckmittels ist also eher noch weniger Kooperation. Bleibt die "Politik der offenen Tür" bestehen, so wird die
Chance, die für die Beziehungen zwischen Rußland und der NATO mit der graduellen
Beweglichkeit der jetzigen Situation verbunden ist, nur dadurch genutzt werden können,
daß die NATO Rußland ernsthafte und weitgehende Kooperationsangebote unterbreitet. Diese
müßten mindestens die zwei folgenden Merkmale besitzen, um einen Fortschritt in
den Beziehungen bewirken zu können: Neue Formen der Kooperation müßten auch mit
verbindlichen Verpflichtungen der NATO gegenüber Rußland verbunden sein. Dies erfordert
nicht, daß Rußland in die Lage versetzt wird, die NATO an der Erfüllung ihrer Aufgaben
zu hindern; vielmehr müßten sie für Rußland einen klar ausweisbaren Sicherheitsgewinn
bedeuten, der erkennbar macht, daß es von der NATO als Partner ernst genommen
wird. Halbherzige, lediglich politisch bindende Vereinbarungen, die wie die Gründungsakte
auch noch verletzt werden, sind weder geeignet, Rußland für die wahrgenommene Verletzung
seiner Interessen zu entschädigen, noch könnten sie das nötige Vertrauen für einen
Neuanfang hervorrufen. Sie würden letztlich nur die bestehende Asymmetrie zwischen dem
stärksten Militärbündnis der Welt und einer untergegangenen Supermacht immer wieder zum
Ausdruck bringen. Für den Fall, daß die NATO und Rußland die gegenwärtige Chance nicht zur Erneuerung und grundlegenden Verbesserung ihrer Beziehungen nutzen, stehen sie angesichts der "Politik der offenen Tür" vor einer tickenden Zeitbombe. Das Drängen jener Länder, die im Fall einer neuerlichen Erweiterung berücksichtigt werden möchten, wird nicht für immer ignoriert werden können, wenn der jetzige Kurs der schrittweisen Annäherung glaubhaft bleiben soll. Insbesondere bei einer Diskussion der Aufnahme der baltischen Staaten wären ganz erhebliche russische Widerstände zu erwarten, die weit über die Drohungen vor der ersten Erweiterungsrunde hinausgehen. Die gestiegene Bedeutung von Nuklearwaffen in der neuen russischen Militärdoktrin und die Spekulationen über die Möglichkeit der Stationierung neuer taktischer Nuklearwaffen im Westen Rußlands deuten an, welche gravierenden Folgen diese Entwicklung für die beiderseitigen Beziehungen haben könnte.
Während der unmittelbar auf die NATO-Osterweiterung zurückzuführende Schaden für die NATO-Rußland-Beziehungen insgesamt relativ begrenzt war, haben sich die Rahmenkoordinaten der Entwicklung des Verhältnisses erheblich verschlechtert. Mittel- und langfristig entzieht der Erweiterungsprozeß den Ansätzen kooperativer und kollektiver Sicherheit in Europa den Boden, weil er Europa in zwei Lager spaltet: NATO-Staaten und Nicht-NATO-Staaten. Die NATO muß sich fragen lassen, wie dies mit dem von ihr selbst gesteckten Ziel eines Netto-Zuwachses an Sicherheit in Europa vereinbart werden kann, den sie mit der Osterweiterung anzustreben vorgibt.
Ulf Terlinden ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des Berliner Informationszentrums für Transatlantische Sicherheit (BITS).
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