Diplomatisches Fingerhakeln auf hohem Niveau
Der Streit um das iranischeAtomprogramm
von Otfried Nassauer
Es scheint, als rasten zwei Schnellzüge aufeinander zu. Keiner der Lokführer will als
erster bremsen. Keiner scheint zu bemerken, dass die Strecke, auf der sie fahren, nur
eingleisig ist. Diesen Eindruck erwecken derzeit der Iran und seine europäischen
Verhandlungspartner beim Streit über das iranische Atomprogramm. Der eskaliert. Beide
Seiten beharren auf ihren Grundpositionen. Nachgeben will keiner. Und das, obwohl beide,
die EU und der Iran, nur von einer Verhandlungslösung profitieren können.
Dabei hatte alles mit guten Vorsätzen begonnen. Seit November 2003 suchen der Iran und
die so genannten EU 3, also Deutschland, Großbritannien und Frankreich, nach der Lösung
für ein komplexes Problem: Der Iran möchte die Atomenergie nutzen und einen offenen
nuklearen Brennstoffkreislauf aufbauen. Er will Uran im eigenen Land fördern, umwandeln,
anreichern und zu Brennelementen verarbeiten und künftig in Leichtwasserreaktoren Strom
erzeugen. Mit einem Schwerwasserforschungsreaktor möchte Teheran den Einstieg in eine
zweite Reaktortechnologie erproben. All das darf der Iran. Der Atomwaffensperrvertrag gibt
ihm das Recht dazu. Genauso wie Deutschland, das trotz Atomausstiegs noch
immer ein viel umfassenderes ziviles Atomprogramm betreibt als der Iran es plant.
Die europäischen Staaten jedoch wollen, dass der Iran auf alle atomaren Aktivitäten
verbindlich verzichtet, die über den Betrieb von Leichtwasserreaktoren zur
Energieerzeugung und Forschung hinausgehen. Nukleare Brennstäbe soll er im Ausland
einkaufen und dorthin zurückgeben, wenn sie abgebrannt sind. Der Iran soll also
wesentliche Teile des Rechts aufgeben, die Kerntechnik zivil zu nutzen. Er soll sich
vertraglich verpflichten, nie aus dem Atomwaffensperrvertrag auszusteigen. Dies soll in
rechtlich verbindlicher Form geschehen als freiwillige, vertrauensbildende
Maßnahme. Teheran soll sich auf einen einseitigen Souveränitätsverzicht einlassen, zu
dem bislang kein anderer Staat aufgefordert wurde.
Die Gründe für diese weitgehenden Forderungen sind vielfältig. Erstens glauben die
Europäer, dass der Iran seine Atomanlagen auch nutzen will, um die Fähigkeit zu
erlangen, Atomwaffen herzustellen. Die Kerntechnik ist doppelt verwendbar, zivil und
militärisch. Mit Anreicherungsanlagen kann Uran für Reaktoren, aber auch für Bomben
gewonnen werden. Reaktoren produzieren Plutonium Reaktor- oder Waffenplutonium.
Auch das kann für atomare Waffen genutzt werden. Zweitens sind Israel und die USA der
festen Überzeugung, dass der Bau atomarer Waffen das eigentliche Ziel des iranischen
Atomprogramms ist. Beide wollen mit dem Iran nicht verhandeln. Sie drohen mit einem
notfalls militärischen Vorgehen. Das möchte die EU verhindern und zeigen, dass die
Weiterverbreitung atomarer Waffen auch mit nicht-militärischen Mitteln effektiv und
"wasserdicht" unterbunden werden kann so wie es sich die EU in ihrer
Europäischen Strategie vorgenommen hat. Drittens hat der Iran seine vertraglichen
Informationsverpflichtungen gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO)
nicht immer voll erfüllt. Er hat sich verdächtig gemacht, als er heimlich Technik für
sein Atomprogramm über pakistanische Wissenschaftler und ausländische Lieferanten
einkaufte. Schließlich entwickelt sich der Streit um das Atomprogramm des Irans viertens
zu einem Muster- und Präzedenzfall. Die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass das nukleare
Nichtverbreitungsregime Lücken hat, die es nicht-nuklearen Mitgliedern des
Atomwaffensperrvertrages erlauben, sich recht nahe an den Atomwaffenbesitz sprichwörtlich
"heranzurobben". IAEO-Inspektoren stießen im Irak auf ein geheimes
Atomprogramm. Nordkorea brach 2003 aus dem Vertrag aus und behauptete kurz darauf,
Atomwaffen zu besitzen. Ein solcher Fall soll sich nicht wiederholen. Das Nuklearprogramm
des Irans soll früh weitgehend und absolut ausbruchssicher eingedämmt werden.
Ehrenwerte Motive doch die Forderungen, die Europa daraus ableitet, sind für
den Iran inakzeptabel. Teheran pocht auf sein Recht zur zivilen Nutzung der Atomenergie.
Ein Verzicht auf die als modern betrachtete Technik kommt nicht infrage. Als regionale
Mittelmacht will der Iran sich nicht auf einen einseitigen Souveränitätsverzicht
einlassen und besteht auf einer Gleichbehandlung mit allen anderen Staaten.
Schon seit Wochen eskaliert der Streit. Zunächst nahm der Iran die Umwandlung von Uran
in Uranhexafluorid wieder auf, weil die EU neue Verhandlungsvorschläge verspätet fertig
stellte. Dann lehnte die EU weitere Verhandlungen ab, weil der Iran damit seine
Verpflichtungen gegenüber der EU gebrochen hatte. Der Iran wiederum lehnte die
EU-Verhandlungsvorschläge als beleidigend ab. Die EU drohte daraufhin, den "Fall
Iran" vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bringen, der im Gegensatz zur
IAEO Sanktionen oder sogar militärische Aktionen gegen den Iran legitimieren könnte. Der
neue konservative iranische Präsident Ahmadinedschad konterte vor der Vollversammlung der
Vereinten Nationen mit einem Angriff auf die westliche Nichtverbreitungspolitik, die auf
"nukleare Apartheid" ziele. Als etliche Staaten, darunter Indien, China,
Russland und Brasilien andeuteten, sie seien gegen eine Überweisung an den
UN-Sicherheitsrat, spielte die EU öffentlich mit der Möglichkeit, die IAEO könne
notfalls auch mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fassen. Es gebe keine Verpflichtung zur
bislang üblichen Einstimmigkeit. Der Iran wiederum drohte laut und deutlich mit
Gegenmaßnahmen.
Von der Sache her muss die rasche Eskalation der letzten Wochen trotzdem verwundern.
Denn die Fachleute sind sich einig: Der Iran wird wohl noch 10 Jahre benötigen, bis er
wirklich Atomwaffen bauen kann. Die Zeit wird also nicht knapp. Auch können weder der
Iran noch die EU ein Interesse daran haben, dass der Streit im Sicherheitsrat ausgetragen
wird. Die EU-Staaten lehnen eine militärische Lösung ab. Sie können also auch kein
Interesse daran haben, dass Washington nach langen, ergebnislosen Diskussionen im
Sicherheitsrat wie im Falle des Iraks ohne UN-Mandat handelt. Es ist den Europäern auch
nicht daran gelegen, den Streit mit dem Iran nur noch dann deeskalieren zu können, wenn
Washington dies nicht mit seinem Veto verhindert. Für den Iran bedeutet eine Befassung
des Sicherheitsrates, dass die Hürden vor einem militärischen Vorgehen kleiner werden.
Fragen wir nach der Substanz des Streits: Der Iran betont immer wieder, dass er die
Atomenergie nur zivil nutzen will. Atomwaffen, so Präsident Ahmadinedschad jüngst vor
der UN-Vollversammlung, haben keinen Platz in der iranischen Sicherheitspolitik, sie seien
sogar unislamisch. Der Streit in der IAEO, so die iranische Sicht, wird vom Westen
politisiert, wo es gelte, letzte technische Fragen aufzuklären. Eine genauere Betrachtung
zeigt, dass der Iran in diesem Punkt recht hat: Hieb und stichfeste Beweise dafür, dass
Teheran seine Atomtechnik militärisch nutzen will, hat niemand: Weder die EU noch die USA
und auch nicht die IAEO, die das iranische Atomprogramm mittlerweile mit etlichen
Inspektionen unter die Lupe genommen hat. Im Gegenteil: Die Inspektoren konnten viele
Fragen klären, etliche Verdachtpunkte ausräumen. Andere bleiben, weil die IAEO sie noch
nicht vollständig überprüfen konnte. Und vorher will die IAEO den Iran nicht von den
westlichen Vorwürfen freisprechen. Der Westen aber sagt: Wer einmal lügt, dem glaubt man
nicht. Der Iran soll beweisen, dass er kein militärisches Atomprogramm verfolgt. Doch
niemand kann beweisen, dass es etwas nicht gibt. Die logikwidrige Umkehr der Beweislast
hat taktische Vorteile. Der Verdacht des Westens muss nicht bewiesen werden. Es reicht,
dass ungeklärte Fragen existieren. Da niemand mit hundertprozentiger Sicherheit
ausschließen kann, dass es im Iran geheime Atomanlagen gibt, reicht die
"gefühlte" Weiterverbreitung, die geglaubte Absicht, der Iran habe
militärische Ziele.
Wo also liegen Lösungsmöglichkeiten? Die Europäer und der Iran müssen sich darüber
klar werden, dass sie Zeit und gemeinsame Interessen haben, den Streit durch Verhandlungen
zu lösen. Die Europäer sollten den Iran beim Wort nehmen. Wenn er seine Atomtechnik
ausschließlich zivil nutzen will, dann muss auch ihm daran gelegen sein, das
Nichtverbreitungsregime so zu verbessern, dass ein "zweites Nordkorea"
unmöglich wird. Der Streit um das Atomprogramm bietet dem Iran die Chance mitzuarbeiten,
dieses Regime zu verbessern. Es gibt Anzeichen, dass der Iran bereit sein könnte, diese
Chance zu nutzen. Vor der UNO machte Teheran den Vorschlag, seine besonders umstrittene
Urananreicherung für die Beteiligung anderer Staaten zu öffnen, also zu
multilateralisieren. Multinationale kerntechnische Anlagen können einen militärischen
Missbrauch deutlich erschweren, vor allem, wenn sie nicht auf dem Territorium der Staaten
liegen, die sie nutzen. Zudem haben sich die Rahmenbedingungen für die EU-Verhandlungen
mit dem Iran in diesem Monat verbessert: Am 19. September hat Nordkorea von Washington
wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusagen für den Fall bekommen, dass Pjöngjang
dem Atomwaffensperrvertrag wieder beitritt und IAEO-Inspektionen zulässt. Seit diesem Tag
können die USA von der EU nicht mehr eine Verhandlungslösung mit dem Iran fordern, bei
der lediglich Teheran verbindliche Zugeständnisse machen muss, der Westen aber auf
ernsthafte Gegenleistungen verzichtet.
ist freier Journalist und leitet
das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS
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