Streitkräfte und Strategien - NDR info
23. September 2005


Diplomatisches Fingerhakeln auf hohem Niveau
Der Streit um das iranischeAtomprogramm

von Otfried Nassauer

Es scheint, als rasten zwei Schnellzüge aufeinander zu. Keiner der Lokführer will als erster bremsen. Keiner scheint zu bemerken, dass die Strecke, auf der sie fahren, nur eingleisig ist. Diesen Eindruck erwecken derzeit der Iran und seine europäischen Verhandlungspartner beim Streit über das iranische Atomprogramm. Der eskaliert. Beide Seiten beharren auf ihren Grundpositionen. Nachgeben will keiner. Und das, obwohl beide, die EU und der Iran, nur von einer Verhandlungslösung profitieren können.

Dabei hatte alles mit guten Vorsätzen begonnen. Seit November 2003 suchen der Iran und die so genannten EU 3, also Deutschland, Großbritannien und Frankreich, nach der Lösung für ein komplexes Problem: Der Iran möchte die Atomenergie nutzen und einen offenen nuklearen Brennstoffkreislauf aufbauen. Er will Uran im eigenen Land fördern, umwandeln, anreichern und zu Brennelementen verarbeiten und künftig in Leichtwasserreaktoren Strom erzeugen. Mit einem Schwerwasserforschungsreaktor möchte Teheran den Einstieg in eine zweite Reaktortechnologie erproben. All das darf der Iran. Der Atomwaffensperrvertrag gibt ihm das Recht dazu. Genauso wie Deutschland, das – trotz Atomausstiegs – noch immer ein viel umfassenderes ziviles Atomprogramm betreibt als der Iran es plant.

Die europäischen Staaten jedoch wollen, dass der Iran auf alle atomaren Aktivitäten verbindlich verzichtet, die über den Betrieb von Leichtwasserreaktoren zur Energieerzeugung und Forschung hinausgehen. Nukleare Brennstäbe soll er im Ausland einkaufen und dorthin zurückgeben, wenn sie abgebrannt sind. Der Iran soll also wesentliche Teile des Rechts aufgeben, die Kerntechnik zivil zu nutzen. Er soll sich vertraglich verpflichten, nie aus dem Atomwaffensperrvertrag auszusteigen. Dies soll in rechtlich verbindlicher Form geschehen – als freiwillige, vertrauensbildende Maßnahme. Teheran soll sich auf einen einseitigen Souveränitätsverzicht einlassen, zu dem bislang kein anderer Staat aufgefordert wurde.

Die Gründe für diese weitgehenden Forderungen sind vielfältig. Erstens glauben die Europäer, dass der Iran seine Atomanlagen auch nutzen will, um die Fähigkeit zu erlangen, Atomwaffen herzustellen. Die Kerntechnik ist doppelt verwendbar, zivil und militärisch. Mit Anreicherungsanlagen kann Uran für Reaktoren, aber auch für Bomben gewonnen werden. Reaktoren produzieren Plutonium – Reaktor- oder Waffenplutonium. Auch das kann für atomare Waffen genutzt werden. Zweitens sind Israel und die USA der festen Überzeugung, dass der Bau atomarer Waffen das eigentliche Ziel des iranischen Atomprogramms ist. Beide wollen mit dem Iran nicht verhandeln. Sie drohen mit einem notfalls militärischen Vorgehen. Das möchte die EU verhindern und zeigen, dass die Weiterverbreitung atomarer Waffen auch mit nicht-militärischen Mitteln effektiv und "wasserdicht" unterbunden werden kann – so wie es sich die EU in ihrer Europäischen Strategie vorgenommen hat. Drittens hat der Iran seine vertraglichen Informationsverpflichtungen gegenüber der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEO) nicht immer voll erfüllt. Er hat sich verdächtig gemacht, als er heimlich Technik für sein Atomprogramm über pakistanische Wissenschaftler und ausländische Lieferanten einkaufte. Schließlich entwickelt sich der Streit um das Atomprogramm des Irans viertens zu einem Muster- und Präzedenzfall. Die letzten 15 Jahre haben gezeigt, dass das nukleare Nichtverbreitungsregime Lücken hat, die es nicht-nuklearen Mitgliedern des Atomwaffensperrvertrages erlauben, sich recht nahe an den Atomwaffenbesitz sprichwörtlich "heranzurobben". IAEO-Inspektoren stießen im Irak auf ein geheimes Atomprogramm. Nordkorea brach 2003 aus dem Vertrag aus und behauptete kurz darauf, Atomwaffen zu besitzen. Ein solcher Fall soll sich nicht wiederholen. Das Nuklearprogramm des Irans soll früh weitgehend und absolut ausbruchssicher eingedämmt werden.

Ehrenwerte Motive – doch die Forderungen, die Europa daraus ableitet, sind für den Iran inakzeptabel. Teheran pocht auf sein Recht zur zivilen Nutzung der Atomenergie. Ein Verzicht auf die als modern betrachtete Technik kommt nicht infrage. Als regionale Mittelmacht will der Iran sich nicht auf einen einseitigen Souveränitätsverzicht einlassen und besteht auf einer Gleichbehandlung mit allen anderen Staaten.

Schon seit Wochen eskaliert der Streit. Zunächst nahm der Iran die Umwandlung von Uran in Uranhexafluorid wieder auf, weil die EU neue Verhandlungsvorschläge verspätet fertig stellte. Dann lehnte die EU weitere Verhandlungen ab, weil der Iran damit seine Verpflichtungen gegenüber der EU gebrochen hatte. Der Iran wiederum lehnte die EU-Verhandlungsvorschläge als beleidigend ab. Die EU drohte daraufhin, den "Fall Iran" vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bringen, der im Gegensatz zur IAEO Sanktionen oder sogar militärische Aktionen gegen den Iran legitimieren könnte. Der neue konservative iranische Präsident Ahmadinedschad konterte vor der Vollversammlung der Vereinten Nationen mit einem Angriff auf die westliche Nichtverbreitungspolitik, die auf "nukleare Apartheid" ziele. Als etliche Staaten, darunter Indien, China, Russland und Brasilien andeuteten, sie seien gegen eine Überweisung an den UN-Sicherheitsrat, spielte die EU öffentlich mit der Möglichkeit, die IAEO könne notfalls auch mit einfacher Mehrheit Beschlüsse fassen. Es gebe keine Verpflichtung zur bislang üblichen Einstimmigkeit. Der Iran wiederum drohte laut und deutlich mit Gegenmaßnahmen.

Von der Sache her muss die rasche Eskalation der letzten Wochen trotzdem verwundern. Denn die Fachleute sind sich einig: Der Iran wird wohl noch 10 Jahre benötigen, bis er wirklich Atomwaffen bauen kann. Die Zeit wird also nicht knapp. Auch können weder der Iran noch die EU ein Interesse daran haben, dass der Streit im Sicherheitsrat ausgetragen wird. Die EU-Staaten lehnen eine militärische Lösung ab. Sie können also auch kein Interesse daran haben, dass Washington nach langen, ergebnislosen Diskussionen im Sicherheitsrat wie im Falle des Iraks ohne UN-Mandat handelt. Es ist den Europäern auch nicht daran gelegen, den Streit mit dem Iran nur noch dann deeskalieren zu können, wenn Washington dies nicht mit seinem Veto verhindert. Für den Iran bedeutet eine Befassung des Sicherheitsrates, dass die Hürden vor einem militärischen Vorgehen kleiner werden.

Fragen wir nach der Substanz des Streits: Der Iran betont immer wieder, dass er die Atomenergie nur zivil nutzen will. Atomwaffen, so Präsident Ahmadinedschad jüngst vor der UN-Vollversammlung, haben keinen Platz in der iranischen Sicherheitspolitik, sie seien sogar unislamisch. Der Streit in der IAEO, so die iranische Sicht, wird vom Westen politisiert, wo es gelte, letzte technische Fragen aufzuklären. Eine genauere Betrachtung zeigt, dass der Iran in diesem Punkt recht hat: Hieb und stichfeste Beweise dafür, dass Teheran seine Atomtechnik militärisch nutzen will, hat niemand: Weder die EU noch die USA und auch nicht die IAEO, die das iranische Atomprogramm mittlerweile mit etlichen Inspektionen unter die Lupe genommen hat. Im Gegenteil: Die Inspektoren konnten viele Fragen klären, etliche Verdachtpunkte ausräumen. Andere bleiben, weil die IAEO sie noch nicht vollständig überprüfen konnte. Und vorher will die IAEO den Iran nicht von den westlichen Vorwürfen freisprechen. Der Westen aber sagt: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht. Der Iran soll beweisen, dass er kein militärisches Atomprogramm verfolgt. Doch niemand kann beweisen, dass es etwas nicht gibt. Die logikwidrige Umkehr der Beweislast hat taktische Vorteile. Der Verdacht des Westens muss nicht bewiesen werden. Es reicht, dass ungeklärte Fragen existieren. Da niemand mit hundertprozentiger Sicherheit ausschließen kann, dass es im Iran geheime Atomanlagen gibt, reicht die "gefühlte" Weiterverbreitung, die geglaubte Absicht, der Iran habe militärische Ziele.

Wo also liegen Lösungsmöglichkeiten? Die Europäer und der Iran müssen sich darüber klar werden, dass sie Zeit und gemeinsame Interessen haben, den Streit durch Verhandlungen zu lösen. Die Europäer sollten den Iran beim Wort nehmen. Wenn er seine Atomtechnik ausschließlich zivil nutzen will, dann muss auch ihm daran gelegen sein, das Nichtverbreitungsregime so zu verbessern, dass ein "zweites Nordkorea" unmöglich wird. Der Streit um das Atomprogramm bietet dem Iran die Chance mitzuarbeiten, dieses Regime zu verbessern. Es gibt Anzeichen, dass der Iran bereit sein könnte, diese Chance zu nutzen. Vor der UNO machte Teheran den Vorschlag, seine besonders umstrittene Urananreicherung für die Beteiligung anderer Staaten zu öffnen, also zu multilateralisieren. Multinationale kerntechnische Anlagen können einen militärischen Missbrauch deutlich erschweren, vor allem, wenn sie nicht auf dem Territorium der Staaten liegen, die sie nutzen. Zudem haben sich die Rahmenbedingungen für die EU-Verhandlungen mit dem Iran in diesem Monat verbessert: Am 19. September hat Nordkorea von Washington wirtschaftliche und sicherheitspolitische Zusagen für den Fall bekommen, dass Pjöngjang dem Atomwaffensperrvertrag wieder beitritt und IAEO-Inspektionen zulässt. Seit diesem Tag können die USA von der EU nicht mehr eine Verhandlungslösung mit dem Iran fordern, bei der lediglich Teheran verbindliche Zugeständnisse machen muss, der Westen aber auf ernsthafte Gegenleistungen verzichtet.


 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit - BITS