14. Dezember 2002
Streitkräfte und Strategien, NDR info


Kommandowechsel

 von Otfried Nassauer  

Manchmal künden kleine Veränderungen von großem Wandel. So geschehen im Juli dieses Jahres. In einer einfachen Presseerklärung teilte das Pentagon mit, der NATO-Rat habe auf Wunsch Washingtons den amerikanischen Befehlshaber des NATO-Oberkommandos Atlantik, SACLANT, ab Oktober von seiner NATO-Aufgabe entbunden. Künftig sei dieser nur noch Kommandeur des ebenfalls in Norfolk gelegenen Joint Forces Commands. Das ist ein nationales US-Oberkommando, das teilstreitkräfteübergreifend künftige Operations- und Ausstattungskonzepte sowie Modelle für schnelle Militär-Interventionen entwickelt.

Hintergrund der Entscheidung war eine Veränderung der nationalen Kommandostruktur des amerikanischen Militärs. Ein neuer "Unified Command Plan", der von der Bush-Administration kurz zuvor beschlossen worden war. Mit diesem wurde auch ein neues, regionales Oberkommando, NORTHCOM, geschaffen. NORTHCOM soll künftig Nordamerika verteidigen und erhält die Zuständigkeit für die dem Pazifik und Atlantik 500 Meilen vorgelagerten Küstengewässer.

Die Washingtoner Initiative führte schnell zu Unruhe im Brüsseler Hauptquartier der NATO. Dort hatte bereits die Arbeit an einer neuen Kommandostruktur der Allianz begonnen. Diese soll die Führungsebenen entschlacken, NATO-Einsätze flexibler gestalten und die Befehlsstrukturen des Bündnisses fit machen für die nächste Erweiterung im Jahre 2004 . Die neue Kommandostruktur soll im Frühsommer kommenden Jahres beschlossen werden. Bald war klar: Viele europäische Staaten wollten SACLANT, das wichtigste Hauptquartier der NATO auf dem amerikanischen Kontinent, nicht aufgeben. SACLANT symbolisiert die Präsenz der NATO auf amerikanischem Territorium. Es ist Ausdruck der Mitverantwortung der NATO für die Verteidigung der USA. Und schließlich: Es hat im Kriegsfall die Aufgabe, die NATO-Verbände im Atlantik zu führen – einschließlich des Kerns der nuklearen Abschreckung der NATO, der für Krise und Krieg zugesagten strategischen Atom-U-Boote Washingtons und Londons. – Nein, die NATO dürfe ihre sichtbarste Präsenz auf der amerikanischen Seite des Atlantiks nicht aufgeben.

Der europäische Protest führte zu einem neuen Angebot der USA: Washington argumentierte zwar weiterhin, e i n operatives strategisches Kommando für den NATO-Bereich sei ausreichend. Der NATO-Oberbefehlshaber Europa könne problemlos die operativen Aufgaben von SACLANT übernehmen, also den Schutz der Seeverbindungen im Atlantik und die Führungsaufgaben für die Atom-U-Boote. Man sei jedoch bereit, dem Wunsch der Europäer nach einem wichtigen NATO-Hauptquartier in den USA, einem Symbol für das amerikanische Standbein der Allianz, entgegenzukommen. Deshalb machte Washington den Vorschlag, dass es künftig ein Strategisches Oberkommando für Operationen in Europa und ein Strategisches Oberkommando für Transformation in den USA geben solle. Damit liege die operative Führung aller NATO-Operationen in einer Hand und zugleich bestehe weiterhin ein strategisches Oberkommando der Allianz im amerikanischen Norfolk. Dieses Angebot Washingtons wurde von der NATO auf dem Prager NATO-Gipfels angenommen.

Ist dieser Beschluss aber ein echter Kompromiss? Es gibt hinreichend Gründe, dieser Frage nachzugehen.

Ja, auch künftig wird die Allianz mit einem strategischen Hauptquartier auf amerikanischem Boden vertreten sein. Politisch-symbolisch wird der Kritik der europäischen NATO-Partner also Rechnung getragen. Die neue NATO-Kommandozentrale in den USA wird jedoch im Gegensatz zu SACLANT keine operativen Aufgaben mehr wahrnehmen. Sie hat keine Verteidigungsaufgaben mehr. Sie bekommt vielmehr funktionale Aufgaben. Ganz wie das Joint Forces Command der USA soll sie künftige Operations- und Ausstattungskonzepte erarbeiten, die Interoperabilität im Bündnis stärken und dafür sorgen, dass die Truppen der Allianz, ob diesseits oder jenseits des Atlantiks beheimatet, miteinander kompatibel bleiben. Es entsteht also ein strategisches Oberkommando für die Transformation, d.h. für die Modernisierung der NATO-Streitkräfte. Eine auf die Effizienz und Handlungsfähigkeit des Bündnisses ausgerichtete Aufgabe einerseits und eine höchst trickreich plazierte zugleich.

Denn das neue NATO-Oberkommando steht in einem engen inhaltlichen Zusammenhang mit zwei anderen Gipfelbeschlüssen von Prag. Der Gipfel begrüßte den amerikanischen Vorschlag, eine Schnelle Eingreiftruppe für Interventionen aufzubauen, die NATO Response Force. Sie soll zur weltweiten Bekämpfung des Terrorismus sowie dem Kampf gegen die Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen und zur Unterstützung der USA bei globalen Einsätzen dienen. Bis zum Frühsommer 2003 soll ein Konzept für die Truppe entwickelt werden, für die - inklusive Rotation – mindestens 60.000 Soldaten bereitzustellen sind. Deren Ausstattung und Operationskonzepte sollen – ob zu Wasser, zu Lande oder in der Luft – vor allem auf eine Fähigkeit zur reibungslosen Zusammenarbeit mit den US-Streitkräften ausgerichtet werden. Bis 2006 soll die Truppe einsatzbereit sein.

Der Gipfel billigte darüber hinaus die sogenannten Prager Fähigkeitsverpflichtungen, die Prague Capability Commitments. Dabei handelt es sich um politisch bindende Selbstverpflichtungen, vor allem der europäischen NATO-Staaten, der Allianz zu festgelegten Terminen genau umrissene, neue militärische Fähigkeiten zur Verfügung zu stellen. Dies soll in Kernbereichen geschehen, in denen Europa heute hinter den Fähigkeiten der USA hinterherhinkt – also z.B. bei Lufttransport und Luftbetankung, bei Führungs- und Kommunikationssystemen, bei intelligenten Abstandswaffen oder bei der elektronischen Bekämpfung der gegnerischen Luftabwehr. Das Fähigkeitsprofil der Europäer soll an das der USA herangeführt werden. Die Möglichkeiten zu gemeinsamen Einsätzen sollen wieder gestärkt werden.

Der schnelle Aufbau der NATO Response Force und die kurz- und mittelfristig zu schaffenden neuen Fähigkeiten im Rahmen der Prager Fähigkeitsverpflichtungen aber zwingen die europäischen NATO-Staaten, sich bei der Modernisierung ihrer Streitkräfte weitgehend an den US-Streitkräften und deren Standards zu orientieren. Zudem stehen für viele der geforderten neuen Fähigkeiten kurzfristig keine europäischen technischen Lösungen zur Verfügung und somit wächst der Druck - ob als Zwischen- oder endgültigen Lösung - auf vorhandene Produkte der amerikanischen Rüstungsindustrie zurückzugreifen.

Zusammengenommen bedeuten die drei Initiativen also vor allem eines. Sie stellen sicher, dass wesentliche, besonders leistungsfähige Anteile der nationalen Streitkräfte in Europa nach amerikanischen Vorbild und Standard modernisiert werden, nicht aber mit Blick auf den Bedarf der Krisenreaktionskräfte der EU. Sollte für deren Weiterentwicklung noch Luft, Zeit, politischer Wille und vor allem Geld bleiben, so müsste zudem sichergestellt werden, dass die anderen EU-Eingreifverbände mit den neuen Elitetruppen mithalten könnten. Mithin – auch sie müssten vorrangig nach amerikanischem Muster modernisiert werden. Spötter bezeichnen deshalb die Prague Capability Commitments bereits als "Buy American Commitments". Und in dem NATO- Oberkommando für Transformation sehen sie das Danaergeschenk einer Werbeagentur zur Modernisierung ganz nach den Vorstellungen der USA.

 

ist freier Journalist und leitet das Berliner Informationszentrum für Transatlantische Sicherheit (BITS).