Nach der Ablehnung der EU-Verfassung -
Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik am Ende?
von Christopher Steinmetz
Mehrere Gründe sprechen dafür, dass die Ablehnung des
Verfassungsvertrages für die Europäische Union bei den Volksabstimmungen in Frankreich
und Holland dazu führt, dass sich die Vertiefung und wohl auch die Erweiterung der
europäischen Integration zunächst verlangsamen werden. Der erste und offensichtlichste
Grund besteht darin, dass der Verfassungsvertrag von den EU-Mitgliedern nicht mehr
einstimmig gebilligt werden kann. Es sei denn, man ließe überall dort, wo es ein
"Nein" gab, so lange abstimmen, bis das gewünschte "Ja" herauskommt.
Der zweite Grund liegt in dem doppelten Schaden, den der deutsch-französische Motor
Europas in den vergangenen Wochen erlitten hat. Frankreich hat den Vertrag abgelehnt.
Präsident Chirac steckt in einer tiefen innenpolitischen Krise und muss die Regierung
umbilden. Sein Augenmerk gilt deshalb vorerst der Innenpolitik. Gleiches gilt für
Deutschland. Kanzler Schröder hat die Flucht nach vorn zu Neuwahlen angetreten und damit
wohl einen Regierungswechsel eingeläutet. Auch das braucht Zeit. Ebenso wie die
Teambildung zwischen den neuen Regierungen in beiden Ländern. Die Folge: Von Berlin und
Paris sind in naher Zukunft kaum Impulse und Ideen für einen Ausweg aus der
gegenwärtigen Krise zu erwarten. Der dritte Grund ergibt sich aus der nächsten
EU-Präsidentschaft. Sie liegt bei den eher europa-skeptischen Briten. Dort plante
Premierminister Blair bislang eine Volksabstimmung über die EU-Verfassung. Diese will er
nun vertagen, wenn nicht gar absagen. Möglich ist, dass Großbritannien seine
EU-Präsidentschaft nutzt, um an entscheidenden Stellen auf die europäische Bremse zu
treten.
Klar ist auch, dass diejenigen, die in der Sicherheitspolitik ganz auf die transatlantische Zusammenarbeit setzen, nun Morgenluft wittern. Sie
sehen im sicherheitspolitischen Engagement der Europäischen Union eine eher unliebsame
Konkurrenz zur NATO oder gar ein trojanisches Pferd französischer Bauart. Diese
Atlantiker werden für eine Neubelebung des Bündnisses werben, einen eindeutigen Vorrang
für die NATO fordern und einen größeren Schulterschluss mit den USA anregen. Das löst
zwar nicht das strategische Grundproblem der transatlantischen Kooperation, klingt aber
vertraut und wie ein Versprechen auf bessere Zeiten. Denn natürlich gilt auch künftig:
Als politisch-militärisches Bündnis verfügt die NATO im Gegensatz zur EU nur über
einen kleinen Teil jener Instrumente, mit denen Risiken der Zukunft wie dem Terrorismus,
der Verbreitung von Massenvernichtungswaffen oder dem Problem zerfallender Staaten wirksam
begegnet werden kann. Ein auf die politisch-militärische Ebene beschränkter
transatlantischer Strategiedialog muss deshalb zu kurz greifen.
Schließlich ist klar, dass 2005 nicht 1954 ist. Das französische
"Non" zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft hatte damals dazu beigetragen,
dass sich die sicherheitspolitische Zusammenarbeit Europas über Jahrzehnte auf die NATO
konzentrierte und die Europäische Gemeinschaft sich lange aus diesem Aufgabenfeld
heraushielt. Ein so donnernder Nachhall ist nach mehr als 50 Jahren europäischer
Integration und mehr als fünf Jahren Europäischer Sicherheits- und Verteidigungspolitik
ESVP kaum denkbar. Mit den Verträgen von Maastricht, Amsterdam und Nizza existieren
rechtliche Grundlagen für die Außen- und Sicherheitspolitik Europas, die weiter gültig
bleiben. Verlangsamt wird jetzt lediglich der nächste Schritt der Erweiterung dieses
Bestandes. So wird die Europäische Union vorerst nicht wie geplant zu einem
Rechtssubjekt, das selbständig internationale Verträge abschließen kann. Sie erhält
auch vorläufig keinen gemeinsamen Außenminister. Die sicherheitspolitischen
Institutionen der EU bleiben dagegen erhalten ganz gleich ob es um den
EU-Militärstab geht, die sicherheitspolitischen Entscheidungsgremien oder die
Europäische Verteidigungsagentur. Deren weiterer Aus- und Aufbau wird nicht verhindert.
Auch können neue Institutionen hinzukommen, wenn dies politisch gewollt wird. Der Aufbau
der ESVP kann auch mit den bisher geschaffenen Instrumenten weiter vorangetrieben werden
wenn auch mit mehr Aufwand und größeren Reibungsverlusten. Es wird also
keineswegs das schnelle Ende der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik
eingeläutet.
Wie aber sehen die USA jetzt die Zukunft der ESVP? Im Weißen Haus
dürfte das französische Abstimmungsergebnis mit einem lachenden und einem weinenden Auge
zur Kenntnis genommen worden sein. Vizepräsident Cheney, ein Geopolitiker und
außenpolitischer Falke, dürfte zu jenen gehören, die sich ins Fäustchen gelacht haben:
Europa, das er bereits seit 1993 als noch freundlichen Konkurrenten der USA
einstuft, hat einen gewaltigen Dämpfer bekommen. Doch es gibt auch eine andere
Sichtweise: Was wäre, wenn das Europäische Projekt auf Dauer geschwächt würde? Dann
wären auch zentrale Interessen der USA berührt. Denn Washington braucht Europa als
Partner, zumindest als handlungsfähigen Juniorpartner. Die Regierung Bush weiß, dass sie
nicht alle globalen Probleme mit eigenen Ressourcen lösen kann. Ein zu schwaches Europa
ist genauso wenig im Interesse der USA wie ein zu eigenständiges Europa. Das zeigt sich
am Beispiel der Türkei: Die USA wünschen, dass die EU der Türkei die Mitgliedschaft
eröffnet. Dies wäre aus Sicht der USA ein wesentlicher Beitrag zum Stabilitätsexport.
Verlangsamen sich aber Vertiefung und Erweiterung der Europäischen Integration, so rückt
dieses Ziel in größere Ferne. Das wäre nicht im Interesse der USA. Deshalb ist damit zu
rechnen, dass in den USA jetzt, nachdem sich Europa selbst ein Bein gestellt hat, die
Stimmen lauter werden, die eine Stärkung der Handlungsfähigkeit Europas fordern.
Befürchtungen, Europa könnte zu schnell zu eigenständig agieren, treten dagegen
voraussichtlich etwas stärker in den Hintergrund.
Für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist also
künftig sowohl mit weniger Rückenwind als auch mit weniger Gegenwind zu rechnen. Denn
das Spannungsfeld, in dem sie entwickelt wird, bleibt auch künftig von den gleichen
Kräften gekennzeichnet wie in der Vergangenheit. Der Fortschritt wird sich vorübergehend
verlangsamen, bis ein Weg aus der Sackgasse gefunden worden ist.
Zurzeit ist schwer vorherzusagen, wie dieser Weg aussehen wird. Noch
scheint man in Brüssel abzuwarten, ob nur einige Staaten den Verfassungsvertrag ablehnen.
Dann könnten so die Hoffnung - die Neinsager mit der Drohung, den Schwarzen Peter
für das Scheitern zu behalten, erneut an die Urnen gerufen werden. Doch auch andere Wege
zum Beispiel die Wiederbelebung der Debatte über neue EU-Verträge wären
möglich. Gleichgültig, welche Lösung angestrebt wird: Einige Lehren aus dem bisherigen
Prozess sollten zuvor gezogen werden. Der Verfassungsvertrag mag den politischen Eliten in
der EU gut vermittelbar sein, für die Bevölkerungen gilt das nicht. Dies liegt nicht nur
an der Komplexität des Vertrages, sondern auch daran, dass Menschen sich unter einer
Verfassung etwas anderes vorstellen als zynisch formuliert die Häufelung
von Menschen- und Bürgerrechten sowie exekutiven Ermächtigungen und teilweise
auch seltsam anmutenden politischen Zielstellungen. Der Vertrag vermittelt den Bürgern
kein Mehr an demokratischer Beteiligung. Er vermittelt das Entschwinden der politischen
Kontrolle in undurchsichtige Brüsseler Bürokratien. Dieser Eindruck ist zwar so nicht
richtig, wird aber von den nationalen Administrationen gern hingenommen. Denn der Vertrag
stärkt letztlich nicht die vergemeinschafteten Brüsseler Institutionen, sondern die
Exekutive der Nationen, deren Eifersüchteleien und deren Kooperation auf Regierungsebene.
Die Pause, vor der die Vertiefung der Zusammenarbeit Europas nun steht,
kann deshalb auch positiv als Atem- und Denkpause betrachtet werden. Wenn sie zu Ende
geht, dürfte sich in vielen EU-Staaten bereits das Bewusstsein der Notwendigkeit raschen
Fortschritts zu mehr Handlungsfähigkeit durchgesetzt haben. Fortschritte wären dann
leichter zu erzielen vorausgesetzt, die Lehren aus der Debatte um den
Verfassungsvertrag werden gezogen.
ist wissenschaftlicher
Mitarbeiter bei BITS und als freier Journalist tätig.
|