Streitkräfte und Strategien - NDR info
22. April 2006


NATO-Einsatz in Afghanistan - Von der Stabilisierungs-Operation zum Kampfeinsatz?

von Christopher Steinmetz

Die NATO will jetzt schon in der zweiten Jahreshälfte die Verantwortung für ganz Afghanistan übernehmen - so will es die Regierung in Washington. Künftig sollen die Stabilisierungsmission ISAF und die amerikanische Operation Enduring Freedom sehr viel enger verknüpft werden. Viele der zusätzlichen Soldaten, die ISAF künftig braucht, sollen amerikanische GI’s sein, die bislang Al Qaida und die Taliban bekämpfen. Darüber hinaus befürworten die USA eine Integration von Elementen der Operation Enduring Freedom in die ISAF-Befehlskette. Ein entsprechender Vorschlag der USA wurde im Februar beim Treffen der NATO-Verteidigungsminister in Taormina diskutiert.

Auch wenn so manche Einzelfrage derzeit noch ungeklärt ist - schon jetzt wird deutlich: Der Charakter der ISAF-Mission wird sich in den kommenden Monaten deutlich verändern. Eine öffentliche Debatte – auch in Deutschland – über das Mandat und die konkreten Aufgaben gibt es aber bisher noch nicht.

Die Ausdehnung der ISAF-Mission wurde zwar im Prinzip schon 2004 auf dem NATO-Gipfel in Istanbul beschlossen. Doch erst Ende letzten Jahres wurde der neue Einsatzplan in seinen Grundzügen vorgestellt. Vorgesehen ist eine Ausdehnung des ISAF-Verantwortungsbereiches über Kabul hinaus in mehreren Phasen: Im Norden und Westen ist die ISAF-Truppe bereits präsent. Jetzt will man sich in die umkämpften Süd- und Ostprovinzen vorwagen. Bis Juli werden knapp 7.000 NATO-Soldaten im Süden Afghanistans stationiert – vor allem britische, kanadische und niederländische Verbände. Ab August soll die ISAF auf Drängen der USA dann auch in den Ostprovinzen Flagge zeigen, so NATO-Oberbefehlshaber James Jones. Die dort stationierten rund 6.000 bis 10.000 US-Soldaten, die vor allem Taliban und Al Qaida-Kämpfer jagen, sollen der ISAF unterstellt werden. Am Ende werden voraussichtlich insgesamt 23.-25.000 Soldaten unter ISAF-Kommando stehen. Zum Vergleich: Anfang des Jahres waren es nur knapp 10.000.

Es stellt sich die Frage, warum es die Amerikaner auf einmal so eilig haben. Dafür gibt es mehrere Motive:

Zum einen wollen die USA ihre Truppenpräsenz in Afghanistan möglichst schnell deutlich verringern. Der weltweite Krieg gegen den Terrorismus kennt viele Schauplätze und der Dauereinsatz im Irak beansprucht die US-Streitkräfte seit Jahren weit mehr als geplant. Deshalb versucht Washington über die NATO immer wieder, seine europäischen Partner – allen voran jene, die wie Deutschland keine Truppen in den Irak schicken wollen – zu einem stärkeren Engagement in Afghanistan zu drängen. Gelingt dies, so gewinnen die USA größere Handlungsfreiheit, auch gegenüber künftigen potentiellen Gegnern wie dem Iran.

Zum Zweiten hat in der NATO das Nachdenken darüber begonnen, wie der Afghanistan-Einsatz mittel- und langfristig beendet werden könnte. Durch eine Ausdehnung der NATO-Zuständigkeit auf ganz Afghanistan soll das Land zunächst stabilisiert werden. Danach - so die Hoffnung - könnten den afghanischen Streitkräften unter Präsident Karsai Schritt für Schritt mehr Aufgaben übertragen werden – bis die ISAF-Truppe schließlich abziehen kann.

Das klingt scheinbar gut, geht aber an der Wirklichkeit im Lande ebenso vorbei wie an den zu erwartenden künftigen Entwicklungen. Denn sicher und stabil ist Afghanistan auch fünf Jahre nach der US-geführten Intervention kaum zu nennen – das gilt für den noch relativ ruhigen Norden, erst recht aber für den Süden und Osten des Landes. Kaum eine Woche vergeht ohne Angriffe und Anschläge. Oft gelten sie direkt den ausländischen Truppen. Immer häufiger finden sich inzwischen auch Einheimische unter den Selbstmordattentätern. Die Macht der örtlichen Clans und Kriegsherren ist ungebrochen. Sie nutzen die Hilfs- und Unterstützungsleistungen des Westens, um ihre Macht gegen die Zentralregierung in Kabul zu festigen. Der infrastrukturelle Wiederaufbau, z.B. des Straßennetzes, und die wirtschaftliche Lage sind weitere ernste Problempunkte. Der Drogenanbau und –handel florieren. Es dürfte der NATO in absehbarer Zeit also eher schwerfallen, Erfolge zu vermelden, die den Abzug von größeren Truppenteilen rechtfertigen könnten. Es könnte sogar eine ganz andere Dynamik greifen: Der bewaffnete Widerstand gegen die ausländischen Truppen nimmt zu und die NATO sieht sich gezwungen, ihre Verbände in Afghanistan zu verstärken.

Auch die Unterstellung substantieller Teile der bisherigen Operation Enduring Freedom unter die Stabilisierungsmission ISAF wirft sowohl für die amerikanischen Truppen als auch für die Menschen in Afghanistan Probleme auf: Wie soll deutlich gemacht werden, dass dieselben Truppen, die bis gestern mit aller Härte Terroristen und Taliban jagten, ab morgen primär dem Wiederaufbau des Landes und der öffentlichen Sicherheit dienen? Dies zu vermitteln bedürfte einer wahrhaft meisterlichen Leistung im Bereich der psychologischen Kriegsführung. Selbst die neun "regionalen Wiederaufbauteams" der US-Streitkräfte, die im Laufe des Jahres dem ISAF-Kommando unterstellt werden sollen, haben eine wesentlich stärker militärisch orientierte Aufgabenstellung als die bisherigen Teams der ISAF.

Und noch eine Veränderung zeichnet sich ab: in der zweiten Jahreshälfte gehört zum ISAF-Aufgabenspektrum auch die Aufstandsbekämpfung – vor allem im Süden und Osten. Sämtliche ISAF-Einheiten sollten demnach zu so genannten Counterinsurgency-Operationen befähigt sein. Betroffen wären auch die deutschen Soldaten. Nach Aussage des britischen Befehlshabers des ab Mai für den ISAF-Einsatz verantwortlichen Allied Rapid Reaction Corps ARRC, David Richards, wurden in dieser Hinsicht alle nationalen Vorbehalte ausgeräumt.

Wo aber liegt dann genau der Unterschied zur Aufgabe der Terrorismusbekämpfung, die auch künftig der Operation Enduring Freedom vorbehalten werden soll? Wie unterscheidet man, wer Terrorist und wer Aufständischer ist? - zumal, wenn es um dasselbe Einsatzgebiet geht. Wann würden ISAF und wann OEF-Verbände im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet zum Einsatz kommen? Und wie wäre der Unterschied gegenüber der Bevölkerung zu vermitteln? Fragen über Fragen, auf die es noch keine Antworten gibt.

Deutlich wird jedoch: Die bisher für wichtig erachtete klare Trennung zwischen den Stabilisierungs- und Wiederaufbauaufgaben von ISAF und den Kampfaufträgen der Operation Enduring Freedom wird teils aufgehoben, teils verwässert. Damit aber wird auch die bisherige Rechtfertigung und Begründung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr infrage gestellt. Genauer: Die Bundesregierung muss den Einsatz neu legitimieren. Bundestag und Öffentlichkeit müssen debattieren, ob sie diese neue Begründung mittragen wollen.

Möglicherweise werden auch der eskalierende Streit um die iranischen Atomanlagen und die immer lauter werdenden militärischen Drohungen in diese Debatte hineinspielen. Bisher war die Lage an der knapp 1.000 Kilometer langen Grenze Afghanistans zum Iran relativ kalkulierbar. Aber wird das auch so bleiben? Schon heute sorgen sich hochrangige Planer in der NATO um die Sicherheit ihrer grenznahen Versorgungsflüge. Was würde passieren, wenn angesichts wachsender Nervosität versehentlich ein solches Flugzeug abgeschossen würde? Und was, wenn es tatsächlich zu einem militärischen Angriff auf den Iran kommen sollte? Gerade weil die Erweiterung der Aufgaben von ISAF auf Jahre angelegt ist, gilt es, schon heute die Folgen einer solchen Entwicklung zu durchdenken. Wenn einzelne NATO-Staaten sich an einem Angriff auf den Iran beteiligen würden, dann hätte das vermutlich auch Auswirkungen auf die ISAF-Mission. Wie gesagt: Der Iran hat eine fast 1.000 Kilometer lange Grenze mit Afghanistan.